Im Berliner Stadtteil Kreuzberg gibt es seit 40 Jahren eine kleine Kommunität, die Randständigen jeglicher Art die Tür öffnet. Gründer der „Jesuiten-WG“ war Christian Herwartz, der nun zu neuen Ufern aufbricht. (Vera Rüttimann)
„Trinkteufel – Tor zur Hölle“ nennt sich die Kneipe in der Adalbert/Ecke Naunynstraße. Das Lokal mit den schwarzen Totenköpfen am Eingang, vor dem sich Künstlervolk und Hardrocker zu einem Bier treffen, ist eine der letzten echten Kreuzberger Spelunken. Selbst der britische Popstar Pete Doherty hat sich hier schon mal blicken lassen. Christian Herwartz ging täglich am „Trinkteufel“ vorbei, wenn er seine Wohnung in der Naunynstraße 60 ansteuerte. Die Stammgäste kannten den Jesuiten, der mit seinem weißen Bart, seinen Dornbusch-Tattoos an den Armen und seiner wuchtigen Statur nicht nur für sie hier im Kiez eine einprägsame Gestalt war.
Generationenwechsel
Noch bis vor kurzem stand „WG Herwartz“ am Klingelbrett am Eingang des Hauses, wo der Berliner Ordensmann über vier Jahrzehnte lang in einer WG lebte. Doch der Hausherr wohnt nicht mehr hier. Nach dem Tod seines Schweizer Mitbruders Franz Keller war Christian Herwartz der einzig verbliebene Jesuit in der von ihm gegründeten Jesuiten-WG, die sich unweit des U-Bahnhofes Kottbusser Tor befindet. Er erkannte, dass die Zeit nach 40 Jahren reif war für einen Generationswechsel. Im deutschsprachigen Orden fanden sich keine Jesuiten, die in dieser besonderen WG mitten im quirligen Kreuzberg leben wollten oder konnten. In einem Haus, in dem Menschen unterschiedlicher nationaler und religiöser Herkunft Heimat gefunden haben, weil sie sich körperlich, materiell oder religiös in einer Notlage befanden oder aus Interesse hier mitleben wollten.
Ein Jesuit mit weißem Bart, Dornbusch-Tattoos an den Armen und einer wuchtigen Statur wie ein Seemann
Es war für Christian Herwartz nicht einfach, Nachfolger zu finden. Der 73-Jährige fand sie in Iris Weiss, einer Jüdin, und dem Theologen Michael Peck. Eine dritte Person wird sich bald anschließen. Das leitende Team wird nicht mehr rein katholisch, sondern interreligiöser und weiblicher sein. Der Mann mit der Statur eines Seemannes ist froh, dass das neue Team hier gelebte Grundwerte wie bedingungslose Gastfreundschaft und interreligiöses Zusammenleben weiter praktizieren will. In der Naunyn-WG geht es weiter.
Die Randständigen im Blick
Einige Fotos von Christian Herwartz hängen noch immer in der WG. Sie erinnern daran, was durch sein Wirken entstanden ist. Der gebürtige Stralsunder war ein Ordensmann der etwas anderen Art. Wie sein Mitbruder war er nach französischem Vorbild zunächst Arbeiterpriester. Jahrelang stand er am Werksband. Seine Arbeitskollegen wussten meist gar nicht, dass er Jesuit war. Zu erkennen war dies an seiner inneren Haltung. Sein Anliegen war es schon damals, in Betrieben oder in Wohnvierteln den Finger auf offene Wunden zu legen, die durch unmenschliches Handeln entstanden sind. Der Priester, der schon mit RAF-Leuten in Haft saß, fiel früh als Antikapitalist und Gegen-den-Strom-Schwimmer auf.
Arbeiterpriester, Antikapitalist und Gegen-den-Strom-Schwimmer
Schon in den 70er-Jahren wandten sich die Brüder in Kreuzberg Randständigen zu: Obdachlose, illegal in Deutschland lebende Ausländer, politisch Verfolgte oder Menschen, die es zu Hause aus familiären Gründen nicht mehr aushielten. Meist fand sich in der Naunynstraße 60 ein Bett für sie. Sie fügten sich ein in den Alltag und nahmen am Kommunitätsabend teil. Alle versammelten sich dabei um einen großen Holztisch. Die Gäste waren hier wichtig. Ihre Lebensgeschichten standen im Zentrum. Ihnen wurde ein offenes Ohr geschenkt. Nicht alle sahen das gern. Nicht immer konnte Christian Herwartz auf die Unterstützung und Sympathie des deutschen Jesuitenordens zählen.
Nicht immer ging es auch hier ohne Konflikte zu, die sich gerne in der großen Küche entluden. „Jede Nation, jede Kultur, lebt anders. Das Wichtigste ist, in dieser Offenheit für Menschen zu bleiben. In der Offenheit des Teilens“, sagte Herwartz einmal. Das Zusammenleben erlebte er allerdings oft als Dasein auf einem schmalen Grat: „Es bedurfte der Disziplin und auch der Solidarität, dass Intimes auch wirklich in diesen vier Wänden blieb.“ Nicht umsonst sagte der Hausherr stets: „In der WG gibt es nur eine Regel: Frage niemanden, wo er herkommt. Das ist eine Polizistenfrage.“ Die WG hielt. In den 40 Jahren der Existenz der Jesuiten-Kommunität haben über 400 Menschen aus 70 verschiedenen Ländern hier für eine Zeit gelebt.
Mit Klaus Mertes am Küchentisch
Wer bei Christian Herwartz zu Gast war, saß mit ihm nicht selten am Küchentisch. Bis tief in die Nacht. Meist wurde der Besucher, oft auch der interessierte Journalist, reich beschenkt mit Wissen. Innerhalb von zwei Stunden erfuhr man bei einem Pott Filterkaffee Wissenswertes über den Beginn der jesuitischen Gemeinschaft im Arbeitermilieu der 70er-Jahre. Es gab Einblicke in das Leben im wilden Kreuzberg der 80er-Jahre im Schatten der Berliner Mauer und in eskalierende linke Demos mit Molotowcocktails vor der Haustür. Erinnert wurde an unvergessliche Momente in der Nacht, als die Mauer fiel, und an die Nachwendezeit, als Kreuzberg plötzlich wieder ins Zentrum der Stadt rückte, aber auch an die Fahrt von Christian Herwartz zur Demo gegen Atom-U-Boote in Schottland und so vieles mehr. Zu den Stammgästen zählen bis heute Studenten, die für ihr Fachgebiet praktische Erfahrungen und Anschauungsunterricht sammeln wollen.
Am Küchentisch bis tief in die Nacht
Bei den Gesprächen am Küchentisch kommen bis heute alle gesellschaftlich relevanten Themen zusammen. Auch die heißen Eisen in der katholischen Kirche. Was hier in der Zeit unter Christian Herwartz entstand, kann gut und gern als widerborstiger Stachel in der Haut der katholischen Kirche bezeichnet werden. Auch der Jesuitenpater Klaus Mertes, einstmaliger Rektor des Canisius-Kollegs Berlin, saß in der Naunyn-WG oft mit Christian Herwartz am Küchentisch. Als der wortstarke Jesuit 2010 den Missbrauchsskandal in seinem Gymnasium aufdeckte – und damit die katholische Kirche im Innersten erschütterte – , war vieles von dem, was später in den Medien stand, an diesem Holztisch bereits Gesprächsthema gewesen. Beim Thema sexueller Missbrauch lässt Herwartz bis heute nicht locker und unterstützt Klaus Mertes nach Kräften: „Das Thema darf nicht unter den Tisch gekehrt werden, nur weil es aus den Medien verschwunden ist.“ 2012 gab er mit den Ordensmitbrüdern Godehard Brüntrup und Hermann Kügler das Buch „Unheilige Macht“ heraus und startete darauf den Internetblog „unheiligemacht.wordpress.com“. Beides schlug hohe Wellen. Für ihn sind die durch die Aufklärungsberichte nachgewiesenen Taten die offenen Wunden in der Geschichte des Jesuitenordens.
Weil sich herumsprach, welch besonderer Geist hier herrschte, erhielt Christian Herwartz mit der Zeit auch immer häufiger Besuch von Menschen aus dem Ausland, die diesen Ort aufsuchen wollten. So war beispielsweise Christian Rutishauser SJ, Provinzial der Schweizer Jesuiten, oft hier zu Gast. Nicht selten schauten auch Bischöfe vorbei: Der erste, der hier zu Besuch kam, war Dom Helder Camara, vor einigen Wochen kam Berlins neuer Oberbischof Heiner Koch vorbei.
Geburtsstätte von ungewöhnlichen Aktionen
Von der WG gingen viele Initiativen und Projekte hervor, die für die Menschen, die daran teilnahmen meist horizonterweiternd waren. Sie brachten Erfahrungen mit sich, die nicht selten Konsequenzen hatten für die Biographie der Teilnehmer, weil sie danach ihre Beziehungen, ihren Beruf oder ihre Alltagsgewohnheiten neu überdachten. Mit dem Mann mit den auffallend lebhaften Augen nahmen sie an Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis in Berlin-Köpenick und auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld teil; am großen interreligiösen Gebet auf dem Gendarmenmarkt oder am Kommunitätsabend. 2013 wurde der Jesuit für sein Engagement gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen vom Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg mit einem Ökumene-Preis ausgezeichnet.
Initiativen und Projekte, die Biographien prägen
Vielen bekannt wurde der Kreuzberger Jesuit durch sein Projekt Straßenexerzitien. Erst bot er diese nur in Deutschland an, dann auch in anderen Ländern. Ein spiritueller Exportschlager aus Kreuzberg. Als er ihn in Basel, Zürich oder Fribourg anbot, war ihm auch hier die Neugier vieler gewiss, weil die Leute sich fragten, was es damit wohl auf sich hat. Dabei hat sein Projekt nichts Spektakuläres, es kostet jedoch innere Arbeit, die herausfordert. Der Berliner erklärte es im Hessischen Rundfunk einmal so: „Es ist die biblische Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch. Der sieht in der Wüste einen Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt. Das ist ein Zeichen der Liebe. Es gibt nur eines, das brennt und nicht verbrennt, und das ist die Liebe. Er wird neugierig und geht hin. Und auf dem Weg dorthin ereignet sich dieser eine Moment. In der Geschichte wird das heiliger Boden genannt.“ Ein Ort, der herausfordert und zu neuen Erkenntnissen führt. Dieser heilige Boden kann beim Besuch eines Gefängnisses entstehen, im Gespräch mit einem Obdachlosen oder bei der Begegnung mit einem Suchtkranken. Schon Ignatius, so Herwartz, habe seine Bestimmung auf der Straße gefunden. Er gehe mit diesem Projekt nur an den Ursprung des Ordens zurück. Straßenexerzitien wird er weiterhin anbieten, so auch am 100. Deutschen Katholikentag in Leipzig.
Straßenexerzitien: Ein spiritueller Exportschlager aus Kreuzberg
Seit der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde, steht der Jesuitenorden vermehrt im Zentrum des Interesses. Das fiel auch auf Christian Herwartz ab. Für den Mann mit den verbeulten Hosen ist der gegenwärtige Papst ein großer Inspirator und Antreiber. Vor allem die Vision einer «Samaritanischen Kirche», die Papst Franziskus vor zwei Jahren vor den Teilnehmern am Internationalen Kongress der Pastoral angesprochen hatte und dabei von seinen Erfahrungen als Bischof in der Millionenstadt Buenos Aires erzählte, bestätigen ihm, dass er mit seinen Straßenexerzitien den Nerv vieler trifft. Es gehe auch dem Papst um eine Kirche, die sich nicht ewig um sich selber drehe, sondern auf die Straße gehe. Zu den Ausgegrenzten, Illegalen und Heimatlosen. Aber auch zu den Fröhlichen und Feiernden.
„Es geht nicht um mich“
Christian Herwartz hat unlängst festes Schuhwerk geschnürt, um ein halbes Jahr auf Wanderschaft zu gehen. Er ist unterwegs „auf nackten Sohlen“ und in „brennender Gegenwart“, wie zwei seiner Bücher heißen. Quer durch Deutschlands Straßen. „Ich möchte auf meiner Reise Menschen aufsuchen, die mich all die Jahre begleitet und unterstützt haben.“ Und er werde dabei auch Ideen für neue Bücher und Projekte sammeln.
Christian Herwartz hat unlängst festes Schuhwerk geschnürt, um ein halbes Jahr auf Wanderschaft zu gehen.
Der Kreuzberger spürte zuletzt die Verehrung vieler Menschen ihm gegenüber, was „gefährlich“ sei. So war er ganz froh, dass die Berliner Tageszeitung TAZ bei einem Porträt über ihn unlängst „Das Heilige auf der Straße“ titelte und nicht: „der“. Der einstige Arbeiterpriester ist stolz, auf das, was er geschaffen hat, dennoch nimmt er sich immer wieder zurück und sagt: „Es geht nicht um mich. Es ist die Anwesenheit Jesu in uns allen. In meiner Formel des Gebetes heißt das: Ich lasse durch Jesus beten, lasse ihn machen. Es ist meine Leidenschaft, meine Berufung und mein Drang, ihn durch mich wirken zu lassen.“
Aktuelles Buch: Christian Herwartz u.a.: Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien. Neukirchener-Verlag, Neukirchen-Vluyn 2016.
Der dritte Band der Textsammlung der Gemeinschaft Naunynstraße: “EINFACH OHNE – Briefe und Texte an eine Berliner Wohngemeinschaft”, Berlin 2016
Wie es mit der WG weitergeht:
https://naunynblog.wordpress.com
Die Autorin und Fotografin Vera Rüttimann schreibt zu ihrem Zugang zum Thema, dass sie 1990 bei ihrer Auswanderung von der Schweiz nach Berlin dort niemanden kannte. Über Franz Keller, den Schweizer Mitbruder von Christian Herwartz, fand sie schließlich in der Naunystraße eine erste Anlaufstelle und ihr erstes Bett.
(Bilder: Vera Rüttimann)