Konstantin Sacher rezensiert den Roman „Liebe in Lourdes“ von Sophie von Maltzahn.
„Ist das Religion, oder sind die verrückt?“ könnte man das bekannte Sprichwort „Ist das Kunst oder kann das weg?“ abwandeln. So voll wie unsere Welt von Religion ist, so voll ist sie auch von verrückten Dingen und beides steht nicht selten in Korrelation. Jedes Jahr wieder erregt beispielsweise die Meldung Aufsehen, dass sich auf den Philippinen Menschen an Karfreitag ans Kreuz schlagen lassen. Wo verläuft die Grenze zwischen Religion und pathologischer Störung? Gibt es überhaupt eine? Für Außenstehende jedenfalls ist diese Frage niemals eindeutig zu beantworten. Woher kann man wissen, ob das vermeintlich verrückte Gegenüber nicht wirklich religiös erfüllt ist bei dem, was es tut? Dafür bräuchte man zumindest erst einmal eine Vorstellung davon, was Religion eigentlich ist. Und das zu bestimmen, ist gar nicht so einfach.
Wo verläuft die Grenze zwischen Religion und pathologischer Störung?
Der Religionswissenschaftler und Theologe Rudolf Otto hat vor über 100 Jahren einen sehr wirkmächtigen Vorschlag gemacht. Für ihn ist Religion die Erfahrung des Heiligen oder des Numinosen, wie er es auch nennt. Dahinter steckt ein ausgefeiltes und faszinierendes Konzept, aber vereinfacht gesagt bedeutet es: Religion beginnt in den rational oft nicht erfassbaren Begegnungen des Menschen mit etwas ganz Anderem, mit dem, was wir Menschen heilig nennen. Und Rudolf Otto wusste, dass diese Begegnung für Außenstehende schwer zu verstehen ist. Im Jahr 1917 hat er dazu in seinem theologischen Weltbestseller Das Heilige sehr trefflich Auskunft gegeben. Religion ist, wenn überhaupt, zunächst einmal nur aus einer Innenperspektive zu verstehen, das ist eine seiner Thesen.
Religion ist nur aus einer Innenperspektive zu verstehen.
Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist nicht zu unterschätzen. So schreibt Rudolf Otto zu Beginn des dritten Kapitels von Das Heilige: „Wir fordern auf, sich auf ein Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder Sozialgefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu treiben.“
… sich auf ein Moment möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen.
Diese etwas polemisch formulierte Aufforderung an seine Leser*innenschaft ist zwar vielfach kritisiert worden, hat dem Erfolg von Das Heilige jedoch keinen Abbruch getan. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass ein nicht religiöser Mensch vieles einfach nicht nachvollziehen kann, was religiöse Menschen tun oder erleben. Aber das darf einen natürlich nicht von der Aufgabe entlasten, ein Verständnis zwischen beiden Seiten herzustellen. In diese Gemengelage spricht „Liebe in Lourdes“, der 2019 bei Kiepenheuer und Witsch erschienene zweite Roman der Berliner Schriftstellerin Sophie von Maltzahn. Wer religionsaffin ist, dem wird vieles entweder bekannt vorkommen oder zumindest interessant. Und wer selbst nichts mit Religion anfangen kann, der könnte zwar versucht sein, das Buch wegzulegen, ist aber gebeten, es dennoch zu lesen und etwas über Religion zu lernen.
Bitte weiterlesen.
Es geht im Roman um Kassandra, die mit einer Pilger*innengruppe des Maltester-Ordens nach Lourdes reist. Die Gruppe, die zum Großteil aus Angehörigen alter Adelsfamilien besteht, begleitet einige mehrfach behinderte Kinder. Warum diese Kinder die Reise nach Lourdes unternehmen, wird im Buch nicht ganz klar, aber es wird wohl darum gehen, dass sie oder ihre Begleiter*innen und Angehörigen dort auf ein Wunder hoffen. Kassandra selbst ist Ende dreißig, geschieden und sich nicht sicher, ob sie selbst Kinder möchte. Sie verliebt sich in Lourdes in Oki, einen adeligen Pilger, und am Ende ist sie schwanger – so simpel ist die Rahmenhandlung. Und wäre das Buch nicht mehr, wäre es nichts Besonderes. Die Liebesgeschichte ist eher banal und auch nicht sehr einleuchtend geschildert. Aber das Buch ist viel mehr die Geschichte einer Erleuchtung als die einer Liebe. Denn viel interessanter als die Liebesgeschichte und auch viel eindringlicher beschreiben ist Kassandras religiöse Geschichte. Sie wird anfänglich nicht als fromm oder überhaupt nur religiös interessiert geschildet. Warum sie sich auf diese Reise begibt, bleibt unklar. Doch kaum ist sie unterwegs, begegnet ihr das Heilige – um es mit Rudolf Otto zu sagen –, es begegnet ihr überall.
Mehr Erleuchtungs- als Liebesgeschichte.
Es begegnet ihr in der Zuneigung, die sie zu Anke, ihrem Pflegekind für die einwöchige Lourdesreise, empfindet. Es begegnet ihr in der Gemeinschaft der Pilger*innen, die zwar vordergründig aus allen möglichen Beweggründen zusammengekommen ist (man kennt sich, man grüßt sich; Heiratsmarkt derjenigen, die die richtigen Namen haben; Tradition), die aber, so ist es jedenfalls in der Schilderung des Romans angelegt, das Begleiten der behinderten Kinder doch auch als Dienst an diesen versteht. Das Heilige begegnet Kassandra in Lourdes selbst, wo jede Ecke, jede Minute aufgeladen scheint mit einer Energie, die, wenn vielleicht doch nicht von einer anderen Welt, dann zumindest aber von einer ganz anderen Seite dieser Welt zu strömen scheint.
Eine Energie, die von einer ganz anderen Seite dieser Welt zu strömen scheint.
Heruntergebrochen könnte man sagen, es sind Nächstenliebe, Gemeinschaft und Gebet, drei Grundpfeiler der christlichen Religion, die bei Kassandra die „Erleuchtung“ hervorrufen, sodass sie Leser*innen, die Religion skeptisch gegenüberstehen, am Ende des Buches als Spinnerin erscheinen muss. Oder eben als ein Mensch, der eine Ahnung vom Mysterium dieser Welt erhalten hat, der eine Ahnung vom Heiligen erfahren hat. Natürlich kann man den Trip, auf den sie gerät, auch ganz profan erklären. Es ist die Gruppendynamik, es sind die Endorphine, die das „Helfen“ auslöst, die sich steigernde Müdigkeit im Laufe der Woche, von der im Roman erzählt wird, und auch das große Schauspiel, das in Lourdes geboten wird: All die Prozessionen, Gottesdienste und Pilger*innenmassen. Das alles könnte sicher ausreichen, um ganz unreligiös zu erklären, warum für Kassandra ihre Pilgerreise lebensverändernd wird.
Nächstenliebe, Gemeinschaft, Gebet
Aber man kann es eben auch anders sehen. Wer sein Leben abseits aller religiösen Bahnen verlebt, wer lieber alleine vor dem Computer sitzt, als raus zu gehen in die Welt, wer lieber konsumiert als erlebt, der kann natürlich trotzdem das Heilige erfahren – der Geist weht ja bekanntlich, wo er will. Aber wer sich auf die Suche macht, steigert ganz sicher die Wahrscheinlichkeit. Und so ist es auch mit Kassandra. Sie wird vom Lourdesfieber – wie es einmal im Roman heißt – gepackt und so wird ihr die Sonne hinter einer Marienstatue, die diese wie brennend erscheinen lässt, genauso zum Zeichen, wie der Zufall, dass sie gerade dann, als einer der behinderten Jungen zu ersticken droht, an seinem Bett vorbeigeht und ihn rettet. Alles scheint ihr auf einmal aufgeladen.
Lourdesfieber
Sophie von Maltzahns Buch schildert wie auch einem aufgeklärten, ja eher unterbewusst suchenden, eigentlich sogar skeptischen Menschen in der heutigen Zeit das Heilige begegnen kann und wie diese Begegnung alles verändert. Durch die augenscheinlichen Bezüge zwischen Autorin und Protagonistin erhält diese religiöse Reise noch einmal eine besondere Aussagekraft. So ist „Liebe in Lourdes“ für religionsaffine Menschen doppelt interessant: Der Roman reiht sich in die Reihe von Büchern ein, die die Aufgabe des Beschreibens und Deutens von Leben mit Hilfe von Religion unternehmen. Das ist dem religiösen Menschen, der sich glaubt, rechtfertigen zu müssen, Balsam für die Seele. Im Deuten des Heiligen im Leben wird das Lesen des Romans selbst zu einer Art religiösen Erleben.
„Liebe in Lourdes“ ist neben der Tatsache, dass es sich gut liest und gut unterhält, auch ein Beitrag zum Verstehen von Religion. Insofern könnte man sagen: Das ist Religion und vielleicht auch verrückt, aber sicher kann es nicht weg, sondern sollte gelesen werden.
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Autor: Konstantin Sacher, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der Universität Leipzig.
Bild: Cover