Unter dem Stichwort «Einander Priester*in werden» stellt Uwe Habenicht ein innovatives Projekt vor, bei dem es darum geht, Gottesdienstformate zu entwickeln, an denen alle aktiv mitwirken können.
Mit SharingCommunity entsteht in St. Gallen ein neues kommunikatives Gottesdienstformat, für das Nicht-Theologinnen und Theologen qualifiziert werden. Eine Kanzel braucht es dafür nicht, weil nicht gepredigt wird. Pfarrerinnen und Pfarrer übernehmen bei SharingCommunity keine aktiven Aufgaben, begleiten vielmehr in der Vor- und Nachbereitung und können die Vielfalt von «Leutetheologien» [1] kennenlernen, die in SharingCommunity (endlich) einen Ort bekommen.
Gemeinschaft am Heiligen
Eine Bibel wandert durch den ovalen Halbkreis von Hand zu Hand derer, die gleich bei der ersten Gelegenheit gekommen sind, um SharingCommuntiy zu erleben. St. Gallen im Mai diesen Jahres im Gemeindezentrum Stefanshorn.
«Wir reichen die Bibel durch die Reihen und sagen, worauf wir hoffen: ‚Leuchtendes Wort für uns’», so war es von Antje aus der SharingCommunity Equipe angekündigt worden und so geschieht es gerade. Eine einfache Geste, ein einfacher Satz und doch spüren alle, wie anders es ist, als die Bibel das Ende des Halbrunds erreicht und Antje sie nimmt, um daraus die Speisung der 5000 zu lesen. Aus der Gemeinschaft der Heiligen wie communio sanctorum gewöhnlich übersetzt wird, wird eine Gemeinschaft am Heiligen, in der wie im Speisungswunder selbst das kostbar Wenige so lange geteilt wird, bis es die, die anwesend sind, sättigt und später sogar noch für andere zur Nahrung wird.
Von alltagsfernen Liturgien zurück zu einer einfachen Form
SharingCommunity sucht den Weg zurück von alltagsfernen Liturgien zu einer einfachen Form, in der die, die mitfeiern, aktiv mitwirken können (wenn sie möchten). SharingCommunity feiert eine Art liturgia povera. So, wie die arte povera in den 1960er und 70er Jahren in Italien die elementare und kritische Kraft, die von Materialien wie Erde, Stoff und Alltagsgegenständen ausgeht, in die Kunst zurückholte, will SharingCommunity durch elementare Einfachheit zurück zur Energie, die aus der Gemeinschaft am Heiligen entsteht. Hartmut Rosa spricht von sozialer Energie, die anfängt zu zirkulieren und an der alle Anwesenden teilhaben können [2].
«So unterschiedlich diese Konzepte auch sind, was sie gemeinsam haben, ist die Überzeugung, dass Energie im psychosozialen Sinn nicht individueller Besitz ist, nicht etwas, das wir haben oder gar aufbringen müssen, sondern etwas, an dem wir partizipieren, dem gegenüber wir uns öffnen oder verschließen können.»
SharingCommunity ist ein liturgisches Gottesdienstformat, für das Freiwillige in vier bis sechs Fortbildungstagen qualifiziert werden. Die variable Liturgie wird jeweils von drei Freiwilligen getragen, die unterschiedliche Rollen wahrnehmen.
Drei Freiwillige in unterschiedlichen Rollen
Ein/e Liturg*in ist für Gebet, Lesung, Fürbitten und Segen zuständig. Ein/e Wegbegleiterin*in erlernt im entsprechenden Ausbildungsmodul eine spezielle Technik, die den Weg zum biblischen Text bzw. zum Thema bereitet. Hier können die Verantwortlichen wählen zwischen Storytelling, Bibliolog, Dialog, Interview, Bibelimagination, Achtsamkeit in der Natur, Schriftmeditation in Bewegung, Lectio divina und anderen Zugängen. Im Laufe der Zeit fächert sich das Angebot an Modulen immer weiter auf, so dass SharingCommunity immer bunter und vielfältiger wird und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen möglich sind. SharingCommunity kann bewegt, kontemplativ, politisch, achtsam, naturnah oder auch ganz anders sein – je nach Equipe und deren Fähigkeiten. Die dritte Rolle innerhalb der Equipe ist die des/der Gastgebers*in. Mit Hilfe der Techniken des Kurzgesprächs lernen die Freiwilligen den Mitfeiernden mit offenen Ohren und Herzen zu begegnen und zu Gesprächen zur Verfügung zu stehen [3].
Anders hören, anders sprechen, anders feiern
Im Gottesdienst hoffen wir darauf, dass wir einen Ort aufsuchen, von dem aus auf unser alltägliches Tun und Denken ein anderes, vielleicht gnädiges, vielleicht auch kritisches Licht fällt. Hier wird anders gesprochen und anders gehört, damit nach dem Gottesdienst das alltägliche Hören, Handeln und Sprechen aus einer neuen Perspektive betrachtet und möglicherweise sogar verändert werden kann.
Das Gehörte in der Schwebe halten
Der spirit von SharingCommunity zeigt sich für mich im Dialog 4], einer Gesprächsform, die der amerikanische Physiker David Bohm seit den 1970er Jahren bis zu seinem Tod 1992 entwickelt hat. Wenige Gesprächsregeln verlangsamen und vertiefen das Gruppengespräch, so dass die Teilnehmenden aus dem alltäglichen argumentativen Schlagabtausch von Meinungen aussteigen und in einen Austausch von Herz zu Herz kommen. Die grundlegendste Haltung, die den Dialog ermöglicht und die der Dialog ermöglicht, ist das in der Schwebe Halten des Gehörten. Bohm lädt dazu ein, das Gehörte nicht unmittelbar zu bewerten, sondern Urteile zu suspendieren und sich dabei selbst zu beobachten, was das Gehörte in einem auslöst.
Dieses doppelte Hören nach aussen und innen gibt mir Zeit, mich selbst mit all meinen Voraussetzungen, die mein Denken steuern, besser zu verstehen. Die einzelnen und auch die gesamte Gruppe beginnt, dem eigenen Denken (und Glauben) und den darin verborgenen Mustern auf die Spur zu kommen.
«Und wenn wir uns alle gegenseitig unsere Meinungen anhören und sie in der Schwebe halten können, ohne sie zu bewerten, und die eigene Meinung auf derselben Basis betrachtet wird wie alle übrigen, dann haben wir allen «einen Geist», weil wir denselben Inhalt im Kopf haben, eben alle Meinungen, alle Annahmen. In dem Augenblick ist der Unterschied zweitrangig. Dann sind wir alle in gewissem Sinn ein Leib und ein Geist.»
«Das Denken würde fließen.» (David Bohm)
SharingCommunity möchte nicht nur dann, wenn der Dialog ausdrücklich praktiziert wird, sondern generell durch die Liturgie einen solchen Raum schaffen, in dem die Teilnehmenden durch Verlangsamung und Vertiefung sich selbst und auch die anderen in der Gruppe anders wahrnehmen können. Auf diese Weise können die Kirchen wieder zu Orten des Hörens und des bedingungslosen aufeinander Hörens werden, die uns gesellschaftlich immer mehr fehlen und das gesellschaftliche Miteinander immer fragiler machen.
Die Liturgie von SharingCommunity folgt in ihrer Grundstruktur einem Fünfschritt:
Bei mir ankommen
Einander wahrnehmen
Gemeinsam hören
Austauschen und bitten
Gesegnet weiter gehen
Predigtfreie Gottesdienste
In mehreren Experimentierphasen, von denen eine die Überschrift trug „Vom Monolog zur Tischgemeinschaft“, hat die Kirchgemeinde Straubenzell in St. Gallen Gottesdienste ohne Predigten gefeiert und andere Kommunikations- und Verkündigungsformen ausprobiert: Von Küchentischgesprächen über Theaterimprovisation bis hin zu musikalischen und meditativen Formen. Es hat sich gezeigt: Nicht jeder Gottesdienst braucht eine Predigt, vielmehr wünschen sich Gottesdienstfeiernde aktiver und kommunikativer involviert zu werden. Kommunitäre Schriftauslegung ist ein verborgener Schatz, den es zu heben gilt. Wir brauchen wieder Räume, in denen neugierig miteinander gefragt und nachgedacht wird – ohne dass einer oder eine schon für alle weiss, wie etwas zu verstehen ist.
«Einmal kamen Altväter zum Altvater Antonius, und unter ihnen war auch der Altvater Joseph. Antonius wollte sie prüfen, legte ihnen ein Wort der Schrift vor und begann, sie, von den Jüngeren angefangen, zu fragen, was das Wort bedeute. Jeder gab Antwort, je nach seinem Vermögen. Der Greis sagte zu jedem: Du hast es noch nicht gefunden. Zuletzt von allen sprach er zum Altvater Joseph: Was sagst denn du, dass dieser Spruch bedeute? Seine Antwort war: Ich weiss es nicht. Da sprach der Altvater Antonius: Wahrhaftig, Altvater Joseph hat den Weg gefunden, indem er sagte: Ich weiss nicht.» (Weisung der Väter)
Priestertum aller Glaubenden
In den reformatorischen Frühschriften findet sich immer wieder der Hinweis auf das Priestertum aller Glaubenden [5]. In Zeiten der Not, auf die wir angesichts von Personalmangel zugehen, wird es endlich Zeit, das Potential dieser reformatorischen Einsicht neu zu entdecken. Martin Luther sprach schon 1520 von «Mitchristen». Ihnen einen Raum zu schaffen, damit sie sprachfähig in Bezug auf ihre Glaubenserfahrungen (und Zweifelserfahrungen) werden und ihnen die Werkzeuge in die Hand zu legen, mit anderen gemeinsam Gott feiern können, ist die grosse Aufgabe, vor der wir stehen.
«Wenn ein Häuflein frommer, christlicher Laien würde gefangen und in eine Wüstenei gesetzt, die keinen von einem Bischof geweihten Priester bei sich hätten, und sie würden da über ihre Angelegenheit eins, erwählten einen unter ihnen (er wäre verehelicht oder nicht) und vertrauten ihm das Amt zu taufen, Messe zu halten, zu absolvieren und zu predigen an, der wäre wahrhaftig ein Priester, als ob ihn alle Bischöfe und Päpste geweiht hätten. Daher kommt´s, daß in der Not ein jeder taufen und absolvieren kann, was nicht möglich wäre, wenn wir nicht alle Priester wären … Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, daß es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei …» (Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation)
Freestyle Religion
SharingCommunity öffnet die Türen für meditative und kontemplative Erfahrungen des Einzelnen, Gemeinschaftserfahrungen und die Augen für die Wunder unserer Gegenwart. Daher schliesst SharingCommunity an mein Konzept einer «Freestyle Religion» [6] an, die eben diese drei Sinnfelder im Gleichgewicht zu halten versucht. SharingCommunity sucht die Balance zwischen Mystik und öffentlichem Engagement und schafft einen Mittelbereich, in dem Glaubende sich ihrer Wurzeln vergewissern und zugleich die Herausforderungen der Gegenwart annehmen. Das erweiterte Unendlichkeitszeichen ist dafür ein sprechendes Symbol.
Mein Weniges genügt, um es mit anderen zu teilen
Eine Teilnehmerin steht nach der bewegten Schriftmeditation mit der Bibel vor dem Abendmahlstisch und sagt: «Eins habe ich heute verstanden: Mein Weniges genügt, um es mit anderen zu teilen.» Was für eine Einsicht! Als Pfarrer hätte ich dafür mehr als 20 min gebraucht.
[1] Mit «Leutetheologien» ist die nichtakademische Theologie gemeint, die «jedermann» und «jedefrau» mehr oder weniger explizit im eigenen Denken, Glauben und Handeln ausbildet. Vgl. dazu Agnes Sluntischek/ Thomas Bremer, Der Glaubenssinn der Gläubigen als Ort theologischer Erkenntnis (QD 304), Freiburg i. Br. 2020; Monika Kling-Witzenhausen: Was bewegt Suchende? Leutetheologien – empirisch–theologisch untersucht, Stuttgart 2020.
[2] Hartmut Rosa, Was ist soziale Energie? In: Die Zeit Nr. 3, 11. Januar 2024.
[3] Timm H. Lohse. Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 2020; Frank Ertl u.a., Gespräche auf den Punkt. Impulse für zielorientierte Kurzgespräche, Göttingen 2022; ausserdem: www.kurzgespraech-schweiz.weebly.com.
[4] David Bohm, der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen (10. Auflage), Stuttgart 2021.
[5] Vgl. dazu: Ralph Kunz/ Matthias Zeidler (Hg.), Alle sind gefragt. Das Priesterum aller Gläubigen heute (denMal 9), Zürich 2018.
[6] Uwe Habenicht, Freeestyle Religion. Eigensinnig, kooperativ, weltzugewandt – Eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert, Würzburg 2020; vgl. auch Christian Albrecht/Rainer Anselm, Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums (Theologische Studien, Band NF 4), Zürich 2014.
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Uwe Habenicht, reformierter Pfarrer in St. Gallen und Beauftragter für Gottesdienst und Liturgie in der ref. Kantonalkirche im Kanton St. Gallen.
Beitragsbild: Uwe Habenicht