Welche Reformen für welche Kirche? Die Schweizer Kirche hat mit der Synode 72 vor fünfzig Jahren Ernst gemacht mit ersten Schritten auf dem Weg zu echter Partizipation. Daniel Kosch blickt zurück und entwickelt im zweiten Teil seiner Überlegungen konkrete Vorschläge für eine neue Haltung und ein neues Handeln.
Die Forderung nach strukturellen Reformen, Dezentralisierung und Mitentscheidungsrechten für das Volk Gottes wird zu Recht an die kirchliche Hierarchie, namentlich den Papst, die römische Kurie und die Bischöfe adressiert. Da der Weg zu einer tiefgreifenden Reform der Kirchenverfassung noch weit und eher mit kleinen Schritten als mit Sprüngen zu rechnen ist, muss gleichzeitig die Frage beantwortet werden, was vom Volk Gottes hier und heute schon getan werden kann, um Partizipation und Mitentscheidung zu stärken.
Bezüglich der Frage, was wir als Getaufte hier und heute tun können, um Mitentscheidung und Partizipation in der Kirche zu stärken, halte ich die folgenden sechs Aspekte für besonders wichtig:
- Wir nutzen unsere Freiheit und nehmen unsere eigenen Entscheidungen ernst.
- Wir nutzen unsere institutionellen Mitwirkungsmöglichkeiten und setzen uns für erweiterte Mitentscheidungsmöglichkeiten aller Getauften ein.
- Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren und stärken bewusst die Reformdynamik auf lokaler, nationaler und weltkirchlicher Ebene.
- Wir ergreifen Chancen und Möglichkeiten, um Zeichen zu setzen und Veränderungsprozesse in Gang zu bringen.
- Wir üben pastoralen Ungehorsam, der im Glaubenssinn des Gottesvolkes verankert und persönlich verantwortet ist.
- Wir vertrauen auf die verwandelnde Kraft des Wünschens, des Betens, des Singens und der Poesie.
Wir nutzen unsere Freiheit und nehmen unsere Entscheidungen ernst.
Das erste und wichtigste, was wir für mehr Mitverantwortung und Mitentscheidung in der Kirche tun können, ist meines Erachtens: Nutzen wir unsere Freiheit und nehmen wir unsere Entscheidungen ernst. Wir können in unserem konkreten Engagement sehr viel freier sein, wenn wir selbst entscheiden. Wir entscheiden, welchen Gottesdienst wir besuchen. Wir entscheiden, was wir als «Sachzwang» anerkennen und wo wir den Konflikt wagen. Wir entscheiden, ob wir täglich in der Bibel lesen, uns sozial engagieren, auf eine schlechte Predigt reagieren oder uns klerikales Geschwätz gefallen lassen. Damit prägen wir Kirche – erst recht, wenn wir uns vernetzen und verbünden.
Die Chance, die eigene Freiheit zu nutzen, eigene Entscheidungen und Positionen ernst zu nehmen, haben wir nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch als Gruppen, Gemeinschaften, Räte, Behörden, Organisationen und Verbände: Wir können eigenverantwortlich schon hier und heute als «Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten» leben. Und wir können entscheiden, ob wir uns im Dialog mit den Amtsträgern mit ausweichenden Antworten abspeisen lassen, ob wir mitspielen, auch wenn die Regeln einseitig von den Bischöfen festgelegt werden, oder ob wir hartnäckig insistieren und uns gegenüber klerikalen Machtspielen verweigern, zumal Machtteilung meist erstritten werden muss und selten freiwillig gewährt wird.
Wir nutzen institutionelle Mitwirkungsmöglichkeiten und setzen uns für deren Erweiterung ein.
Zweitens können wir unsere institutionellen Mitwirkungsmöglichkeiten nutzen, ihre Möglichkeiten und Grenzen entdecken und uns dafür einsetzen, die Mitentscheidungsmöglichkeiten aller Getauften zu erweitern.
Pastorale Räte in Pfarreien, grösseren Seelsorgeeinheiten und in den Bistümern können wichtige Impulse geben. Es ist wichtig, sie zu stärken und dort, wo sie eingeschlafen sind, wieder zu beleben. Zudem steht es den zuständigen Seelsorgenden und Bischöfen frei, ihre Entscheidungen an die Ergebnisse der entsprechenden Beratungen zu binden. Zwar ist für die Erreichung des Ziels, «alle Gläubigen in alle Phasen des Prozesses der Ausarbeitung pastoraler Entscheidungen einzubeziehen, […]eine organische Überarbeitung des derzeitigen Codex des Kirchenrechts erforderlich»[1]. Aber die Selbstbindung der Seelsorgenden und Bischöfe an die Entscheidungen ihrer Räte ist ein erster Schritt und ein Tatbeweis, dass sie es mit der Synodalität ernst meinen.
Dank der besonderen staatskirchenrechtlichen Verhältnisse gehen die institutionellen Mitentscheidungsmöglichkeiten in vielen Kantonen der Schweiz noch weiter: Mit der Wahl von Behörden, mit der demokratischen Verwaltung der Finanzen, mit der Wahl oder Anstellung von Seelsorgenden, mit der Art und Weise, wie die Behörden das Kirchenvolk in die Vorbereitung von Entscheidungen einbeziehen und wie sie mit den pastoral Verantwortlichen zusammenarbeiten, und dank weiterer Befugnisse besteht die Möglichkeit, das kirchliche Leben massgeblich mitzuprägen. Entscheidend ist diesbezüglich die Frage, von welcher «Logik» wir uns leiten lassen: Ist es die Logik des Geldes? Ist es die Logik, schwierigen Diskussionen oder Konflikten mit den kirchenrechtlich Verantwortlichen möglichst aus dem Weg zu gehen? Ist es die Logik der Macht? Oder lassen wir uns auch in solchen Entscheidungen von der Frage leiten, was dem Geist Jesu entspricht, was das Volk Gottes stärkt und was dem prophetischen Auftrag der Kirche im Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt und in den eigenen Strukturen entspricht?[2]
Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren und stärken die Reformdynamik auf nationaler und weltkirchlicher Ebene.
Weiter ist wichtig, dass jene, die Reformen wollen, solidarisch sind und sich nicht auseinanderdividieren lassen, auch wenn die einen moderater und die anderen fordernder auftreten, wenn die einen eher vom Rand her wirken und die anderen im Inneren der Institutionen arbeiten und daher vorsichtiger vorgehen.
Eine Gefahr für die Vernetzung und die verbindliche Zusammenarbeit im Einsatz für Synodalität und Mitverantwortung besteht darin, sich auf den eigenen Zuständigkeitsbereich zu beschränken, wo schneller Resultate erzielt werden können. Ein solcher Rückzug auf den eigenen Zuständigkeitsbereich, der in der Schweiz wegen der hohen Autonomie der Kirchgemeinden, kantonalkirchlichen Organisationen und Bistümer besonders verlockend ist, schwächt jedoch die Reform- und Entwicklungsdynamik auf nationaler und weltkirchlicher Ebene. Strukturelle Reformen im Kontext der katholischen Kirche erfordern jedoch zwingend Veränderungen auf weltkirchlicher Ebene. Zudem verhindert der «Rückzug ins eigene Gärtchen», dass die vor Ort erreichten Errungenschaften auf breiter Ebene wirksam werden, das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit prägen und weltkirchlich stärker rezipiert werden. Um sich diesen Effekt vor Augen zu führen, reicht es, ein Gruppenbild eines Seelsorgeteams neben ein Foto der Schweizer Bischofskonferenz zu stellen: Auf dem einen Foto Männer und Frauen in bunter Mischung, auf dem anderen lauter nicht mehr ganz junge Männer in Schwarz.
Es ist kein Zufall, dass synodale Strukturen auf der Ebene der Bischofskonferenzen bzw. auf nationaler Ebene, die Reformdynamiken vernetzen und verstärken können, in Rom nicht gern gesehen sind[3]. Ein Blick nach Lateinamerika zeigt jedoch, dass es Spielräume gibt, wir bezüglich der Synodalisierung der Kirche Nachholbedarf haben und keineswegs «Weltspitze» sind[4]
Wir ergreifen Chancen und Möglichkeiten, setzen Zeichen und bringen Veränderungsprozesse in Gang.
Für die Stärkung des Bewusstseins für die Dringlichkeit von Reformen gilt es viertens, Chancen und Möglichkeit zu ergreifen, um Zeichen zu setzen und Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Ich denke an den Frauenstreiktag, der in der Westschweiz zum Aufbau eines kirchlichen Frauennetzwerkes und in der Deutschschweiz zur Kampagne «Gleichberichtigung. Punkt. Amen» geführt hat. Aber ich denke auch an die Junia-Initiative oder Maria 2.0. Es ist wichtig, in besonderen Momenten entscheidende Dinge öffentlichkeitswirksam in Erinnerung zu rufen.
Wir üben pastoralen Ungehorsam, der im Glaubenssinn des Gottesvolkes verankert und persönlich verantwortet ist.
Eine fünfte Möglichkeit in Erinnerung zu rufen, dass alle Getauften schon heute und nicht erst in Zukunft Mitverantwortung für das kirchliche Leben tragen und zu übernehmen bereit sind, ist ein pastoraler Ungehorsam bzw. ein vorauseilender Gehorsam, der im Glaubenssinn des Gottesvolkes verankert und zugleich persönlich verantwortet ist. Vieles in der Kirche hat sich zuerst entwickelt und etabliert und wurde erst nachträglich als rechtmässig anerkannt. Und kirchliche Dokumente, Lehraussagen oder Normen, die nicht rezipiert werden, verlieren ihre Kraft und mit der Zeit ihre Geltung. Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Reaktionen auf das «Responsum» der Glaubenskongregation über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, die Aktion #Out in Church vom Anfang dieses Jahres und die anschliessende Diskussion des Themas im Rahmen des Synodalen Weges, die nun zu einer Reform des kirchlichen Arbeitsrechts führen sollen. Plötzlich scheint realisierbar, was vorher vielen unmöglich, weil von Rom blockiert schien. Allerdings muss dieser Wandel noch lehramtlich und kirchenrechtlich festgeschrieben werden und die Erfahrungen mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, der Synode 72 sowie der Würzburger Synode zeigen, dass es fatal ist, wenn Prozesse enden, bevor die Umsetzung ihrer Ergebnisse verbindlich geregelt sind.
Wir vertrauen auf die verwandelnde Kraft des Wünschens, des Betens, des Singens und der Poesie.
Mit einer sechsten und letzten Antwort auf die Frage, wie sich Mitsprache und Mitentscheidung in der Kirche stärken lassen, beziehe ich mich nochmals auf die Kirche als Nachfolge- und Exodus-Gemeinschaft (vgl. Teil I dieses Beitrags). Diese geht ihren Weg unter dem offenen Himmel und im Vertrauen auf jenen Gott, der sich auch auf dem beschwerlichen Weg durch die Wüste als der Ich-bin-da erweist. Der Weg der Kirche ist nicht einfach das Produkt unserer Bemühungen, sondern steht unter der Leitung jenes Geistes, der uns zu freien und mündigen Töchtern und Söhnen Gottes macht. Daher dürfen wir auf die widerständige und verwandelnde Kraft des Wünschens, des Betens, des gemeinsamen Singens und der Poesie vertrauen. In diesem Sinne schliesse ich mit mit Zeilen aus einem Gedicht von Silja Walter, das den Titel «Exodus» trägt[5].
Der Weg der Befreiung geht immer / durch Feuer und Wasser / zwischen Mauern, möglicher /
Weg ins Unmögliche / man weiss nie genau / was daraus wird.
Keine Aussicht / aussichtslos hat man zu gehen / umkehren geht nicht / das Leben liegt immer vorne.
Vorne, am Ufer, dort werden wir singen / Mirjam tanzt schon da vorne / mit allen Frauen der Welt.
[1] Luciani, a.a.O., 88.
[2] Vgl. dazu Daniel Kosch, «Synodal» ist mehr als «dual» – Stärken und Entwicklungsbedarf der schweizerischen Kirchenstrukturen auf dem Weg zu einer synodalen Kirche: IR-Papier 5(04/2022): https://www.unifr.ch/ius/religionsrecht/de/forschung/publikationen/irpapers.html.
[3] So blockierte Rom schon vor 50 Jahren die gesamtschweizerisch verabschiedete und von der Bischofskonferenz genehmigte Entscheidung der Synode 72, einen schweizerischen Pastoralrat einzurichten und auch die römische Kritik am Synodalen Weg in Deutschland richtet sich nicht zuletzt gegen eine Verstetigung synodaler Strukturen in Form eines Synodalen Rates gerichtet.
[4] Vgl. Luciani, a.a.O., 123-153.
[5] Silja Walter, Lyrik, Gesamtausgabe Band 8, Freiburg 2003, 282.
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Dies ist der zweite Teil eines Textes, dessen erster Teil hier erschien:
Bild: Stephanie Hofschläger – pixelio.de