Peter Kirchschläger hat in seinem Beitrag vom 20. März d. J. überzeugende Argumente gegen das Postulat vorgelegt, technologische Systeme könnten moralfähig sein. Christian Feichtinger fügt ein weiteres Argument hinzu: Technologie ist unfähig zu Emotionen. Diese aber sind Grundbedingung praktischer Vernunft.
Ist es nicht gerade eine allzu rationale, emotionale Aspekte vernachlässigende, Sichtweise auf Moral, die die Vorstellung von moral technologies überhaupt möglich macht, insofern moralisches Urteilen allein als Anwenden von Entscheidungsregeln verstanden wird? Dieser Beitrag führt die überzeugende Kritik von Peter Kirchschläger fort, dass Technologien nicht moralfähig seien. Es soll ein weiterer Ansatz der Kritik aufgezeigt werden: die Bedeutungen von Emotionen für Moralfähigkeit und moralisches Urteilen. Ausgehend von der Frage nach der Bedeutung von Emotionen in der Moral kann in der Folge auch die Rolle von Körperlichkeit für Moralfähigkeit gestellt werden.
Moralische Emotionen
Seit den 1980er-Jahren hat in der Moralpsychologie eine Wiederentdeckung der bedeutsamen Rolle von Emotionen bei menschlichen Urteilen und Entscheidungsprozessen stattgefunden – davon betroffen sind auch Fragen moralischer Urteile und Entscheidungen. Dass Emotionen im Zusammenhang mit moralischen Urteilen auftreten, gilt mittlerweile als weithin akzeptiert: Das Beobachten von als moralisch gut beurteilten Handlungen kann Ehrfurcht, Dankbarkeit oder ein erhebendes Gefühl auslösen, ebenso wie das Beobachten unmoralischer Handlungen Zorn oder Abscheu, und das Eingestehen eigener unmoralischer Handlungen Scham oder Schuld evoziert.
Über diesen weitgehenden Konsens hinaus gehen andere Forschungsansätze noch weiter: Einiges spricht dafür, dass bestimmte Emotionen (etwa Freude, Ekel oder Zorn) die Intensität moralischer Urteile beeinflussen und zu besonderer Milde oder besonderer Schwere des Urteils führen, auch wenn sie im Versuch zuvor lediglich künstlich indiziert wurden. Schließlich räumen einige Forschungsansätze, vor allem in der Folge der Studien von Jonathan Haidt, Emotionen sogar eine fundamentale Rolle in der moralischen Urteilsbildung ein, insofern diese dafür verantwortlich sein sollen, dass eine Person überhaupt etwas als moralisch relevant (positiv wie negativ) begreift.[1]
Liebe und Mitgefühl sind für moralisches Verhalten essenziell.
Martha Nussbaum spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Problem in der Geschichte des Liberalismus“, insofern sich dieser in moralischen Fragen zu sehr auf Rationalität, Prinzipien und Abstraktionen verlassen hat, dabei jedoch vergessen habe, ihnen emotionale Bedeutung zu verleihen: „Sollen fremde Menschen und abstrakte Prinzipien uns anrühren, müssen diese Gefühle dafür sorgen, dass sie in unseren ‚Betroffenheitsradius‘ einbezogen werden, muss ‚unser‘ Leben diese Menschen und Ereignisse als Teile von ‚uns‘ und unserer eigenen gedeihlichen Entwicklung einschließen.“[2] Nussbaum definiert Liebe und Mitgefühl als fundamentale Emotionen, die für moralisches Verhalten essenziell sind. Diese gehören neben Ehrfurcht, Dankbarkeit oder Erhebung zu jenen Emotionen, die Moralität positiv begleiten.
Umgekehrt verfügen Menschen über ein emotionales Sensorium für die Verletzung von moralischen Regeln: Wo diese durch andere gebrochen werden, stellen sich Zorn, Abscheu oder Verachtung ein, und wo die Einsicht in eigenes moralisches Fehlverhalten geschieht, ist diese von Scham, Schuld oder Verlegenheit begleitet.[3] Nicht zu unterschätzen ist zudem der Effekt von sozialen Erwartungen und die Sorge um soziale Reputation für das Auslösen moralischer Emotionen – Menschen empfinden moralische Emotionen gerade dann, wenn von ihnen eine bestimmte Reaktion auch sozial erwartet wird.[4] Auch der Beziehungsaspekt ist fundamental: Daniel Batson zeigt in seinen Studien, dass Zorn über Ungerechtigkeit nicht automatisch von als ungerecht empfundenen Handlungen ausgelöst wird, sondern primär dann auftritt, wenn auch Mitgefühl mit den Opfern besteht.[5]
Ohne emotionale Basis ist persönliches Engagement für ethische Fragen schwer denkbar.
Dies alles bedeutet keine Opposition zwischen Emotion und rationaler Argumentation bzw. Ethik: Rationale ethische Reflexion und abstrakte Prinzipien bleiben notwendig als Maßstab für die Bewertung von moralischen Emotionen, für deren Ausrichtung und Korrektur. Ohne emotionale Basis sind jedoch ein ‚Sitz im Leben‘ und ein persönliches Engagement für ethische Fragen schwer denkbar – so wie auch Konzepte der Menschenwürde oder der Tierethik nicht ohne emotionale Verankerung im Mitgefühl angesichts des Leids auskommen, ja ohne dieses möglichweise nicht einmal entwickelt worden wären.
Emotionen und ‚moral technologies‘
Aus dieser Bestandsaufnahme ergeben sich fundamentale Anfragen an das Konzept von moral technologies. Zwar existiert ein Forschungszweig für affective computing, der sich mit dem Erkennen und der Simulation von Gefühlen bei Maschinen befasst, und die Schwierigkeit, die sich aus der engen Beziehung von Emotionen und Moral für den Anspruch einer moral technology ergibt, ist deren Vertreter/innen wohl bewusst.[6] Sobald Moral nicht nur als Anwenden von Entscheidungsregeln verstanden wird, sondern als wesentlich mit Emotionen in Verbindung stehend, geht es aber darum, dass Maschinen die Komplexität von Emotionen nicht nur interpretieren und simulieren, sondern erfahren müssen. Dies gilt vor allem dann, wenn jene Hypothese zutrifft, dass Emotionen wie Mitgefühl wesentlich dafür verantwortlich sind, dass etwas für ein Subjekt überhaupt moralische Relevanz besitzt.
… wenn Moral mehr als Kalkulieren sein soll.
Dagegen kann freilich argumentiert werden, dass Emotionen subjektiv und fehleranfällig sind und damit in effizienten moralischen Entscheidungsprozessen ohnehin keine Rolle spielen sollten. Es ist richtig, dass Emotionen manipuliert werden können und daher keinesfalls eine alleinige Grundlage von Entscheidungen darstellen sollen und daher der Ratio bedürfen. Moralische Entscheidungen ohne die Berücksichtigung von Emotionen zu treffen muss jedoch als fragwürdig erscheinen, wenn Moral mehr als Kalkulieren sein soll.
Und auch eine rationale moralische Entscheidungsfindung muss die emotionalen Auswirkungen ihrer Ergebnisse berücksichtigen – dazu sind jedoch entsprechendes Einfühlungsvermögen und eigene emotionale Erfahrungen notwendig, wie Joshua Greene betont: „Reasoning frees us from the tyranny of our immediate impulses by allowing us to serve values that are not automatically activated by what’s in front of us. And yet, at the same time, reason cannot produce good decisions without some kind of emotional input, however indirect.”[7] Greene weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Patient/innen mit Hirnläsuren, die deren Fähigkeit zur Empathie beinträchtigen, zwar in Labortests hohe Werte betreffend Intelligenz, Vernunft und ethischer Argumentationsfähigkeit aufweisen, jedoch im echten Leben kaum vernünftige Entscheidungen treffen, da sie nicht in der Lage sind, in ihren Überlegungen emotionale Aspekte und Wirkungen zu berücksichtigen.[8]
Einsicht in Respekt vor dem Leben und Menschenwürde ist unzureichend, wenn diese nicht emotional ‚unterfüttert‘ ist.
Nach Nussbaum ist daher selbst die vernünftige Einsicht in Respekt vor dem Leben und Menschenwürde unzureichend, wenn diese nicht durch Liebe, Anteilnahme und Mitgefühl emotional ‚unterfüttert‘ ist.[9] Emotionen erscheinen so fundamental für jede Form der praktischen Vernunft. Die Empfindungsfähigkeit von technologischen Maschinen ist jedoch klar in Zweifel zu ziehen, und damit auch ihre praktische Urteilsfähigkeit in moralischen Fragen. Und schließlich ist auch nicht nachvollziehbar, wie Maschinen soziale Erwartungen und Aspekte der sozialen Reputation (die höchst kontextuell sind) berücksichtigen sollen, die Moralität ebenfalls beeinflussen.
Körper, Technologie und Moralfähigkeit
Dennoch existieren Versuche, Gefühle wie Schuld oder Scham in die Programmierung von Maschinen zu integrieren, um dem Ziel einer moral technology näher zu kommen. Diese Ansätze beruhen vor allem auf der Annahme Marvin Minkys, dass Emotionen nur eine spezifische Art des Denkens sind und damit auch von Künstlicher Intelligenz reproduziert werden können.[10] Dem ist jedoch ein weiterer Einwand entgegen zu halten, der eine fundamentale Beziehung von Moralfähigkeit und Körperlichkeit impliziert. Denn emotionale Prozesse sind grundlegend verkörperte Prozesse:[11] Emotionen sind untrennbar verbunden mit körperlichen Reaktionen des Nervensystems, mit steigendem oder sinkenden Herzrhythmus und Blutdruck, Übelkeit, Ausschüttung von Hormonen, Muskelkontraktionen, Hautkribbeln, Regungen des enterischen Nervensystems (‚Bauchempfinden‘) oder der Verengung von Blutgefäßen.
Ist Moralfähigkeit untrennbar mit der Voraussetzung der Körperlichkeit verbunden?
Das Erleben von (auch moralischen) Emotionen ist somit essenziell an lebendige Körperlichkeit und körperliche Erfahrungen gebunden, womit bestimmte Handlungsdispositionen hervorgerufen oder gehemmt werden.[12] Auf dieser Basis scheint ein sinnvolles Sprechen von moral technologies mangels Körperlichkeit ausgeschlossen, sofern es unwahrscheinlich ist, dass die Komplexität des menschlichen Körpers künstlich reproduziert werden kann. Wenn aber Körperlichkeit für Emotionen und Emotionen für Moralfähigkeit eine Grundvoraussetzung darstellen, dann folgt daraus ein untrennbarer Konnex von Körper und Moral.
Aus diesen Überlegungen folgt also eine für die Moraltheologie und -philosophie interessante und provokante Frage: Ist Moralfähigkeit untrennbar mit der Voraussetzung der Körperlichkeit verbunden, gerade wenn Moral auch Handlungen zum Ziel hat, was ebenso Körperlichkeit voraussetzt? Daraus ergeben sich für eine an der Ganzheitlichkeit und Leibhaftigkeit des Menschen orientierte Theologie weitere interessante Perspektiven, aber auch neue Problemstellungen im Hinblick auf das Verhältnis von Körper, Geist, Seele und Moralfähigkeit.
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[1] Vgl. Avramova, Jana/Inbar, Joel: Emotion and Moral Judgment, in: WIREs Cognitive Science 4 (2013) S. 169–179, S. 170.
[2] Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, Frankfurt: Suhrkamp 2014, 26.
[3] Vgl. Rozin, Paul/Lowery, Laura/Haidt, Jonathan/Imada, Sumio: The CAD Triad Hypothesis. A Mapping between Three Moral Emotionen (Contempt, Anger, Disgust) and Three Moral Codes (Community, Autonomy, Divinity), in: Journal of Personality an Social Psychology 76/4 (1999) 574 – 586.
[4] Vgl. Batson, Daniel: What’s Wrong With Morality?, in: Emotion Review 3 (2011) S. 230–235; ebenso vgl. Greene, Joshua: Moral Tribes. Emotion, Reason, and the Gap between Us and Them, New York: Penguin 2014, S. 61.
[5] Vgl. Batson, Morality, 230–235. Zur Rolle von Mitleid, Aggression, Schuld und Scham vgl. auch Rudolph, Udo/Roesch, Scott/Greitemeyer, Tobias/Weiner, Bernhard: A Meta-Analytic Review of Help Giving and Aggression from an Attributional Perspective. Contributions to a General Theory of Motivation, in: Cognition and Emotion 18/6 (2004) S. 815–848.
[6] Vgl. Arkin, Ronald: Moral Emotions for Robots, in: http://www.cc.gatech.edu/ai/robot-lab/online-publications/moral-final2.pdf (abgerufen am 24.03.2017).
[7] Greene, Moral Tribes, S. 137.
[8] Vgl. ebd., S. 142.
[9] Vgl. Nussbaum, Politische Emotionen, S. 569.
[10] Vgl. Minsky, Marvin: The Emotion Machine. Commonsense Thinking, Artificial Intelligence, and the Future of the Human Mind, New York: Simon & Schuster 2007.
[11] Vgl. Schnall, Simone/Haidt, Jonathan/Clore, Gerald/Jordan, Alexander: Disgust as Embodied Moral Judgment, in: PSPB 34/8 (2008), S. 1106.
[12] Vgl. ebd. S. 1097; Greene, Moral Tribes, S. 228; Rozin/Lowery/Haidt/Imada, Triad Hypothesis, S. 574.
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DDr. Christian Feichtinger studierte Religionspädagogik, Religionswissenschaft und Angewandte Ethik und ist Universitätsassistent am Institut für Katechetik und Religionspädagogik in Graz und Religionslehrer am BG/BRG Bruck a.d. Mur.
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