Der ukrainische Dichter Ivan Franko schrieb 1905 ein biblisches Poem in 20 Gesängen. Es geht um die Befreiung eines unterdrückten Volkes. Die Titel- und Hauptfigur ist der biblische Mose. Doch schnell wird deutlich: Mose fungiert hier als ukrainischer Held. Von Elisabeth Birnbaum
Ivan Franko (1856–1916)[1] schrieb sein Poem „Moses“ unter dem Eindruck der „Russischen Revolution“ des Jahres 1905, die gegen die zaristische Unterdrückung gerichtet war. Das Gedicht über die in seinen Augen „grandioseste Figur der alten Geschichte der Menschheit“[2] wurde schnell bekannt, ja berühmt. Warum?
Es ist eindeutig von der Ukraine die Rede, an dessen „Auferstehung“ der Dichter glaubt.
Schon der Prolog von „Moses“ zeigt, dass es dem Autor hier nicht um ein bibel-historisches Interesse geht. Das unterdrückte, geknechtete Volk, dem darin eine glänzende Zukunft vorausgesagt wird, werde als freie Nation den Kaukasus erschüttern, umschlungen vom Gürtel der Karpaten, heißt es dort. Es ist demnach eindeutig von der Ukraine die Rede, an dessen „Auferstehung“ der Dichter glaubt.
Inhalt
Israel befindet sich nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste. Nach 40 Jahren Wüstenwanderung glaubt jedoch niemand außer Mose mehr an ein Gelobtes Land. Frei nach Num 16 sind nun Datan und Abiran (biblisch gesehen die Anführer der Korachiten) an der Macht und empfehlen dem Volk die Verehrung mächtigerer Götter wie Baal oder Astarte bzw. die Rückkehr nach Ägypten.
Mose wird mit einem Schweigegebot belegt. Er versucht dennoch ein letztes Mal, das von ihm über alles geliebte Volk zum Weitergehen zu bewegen. Vor allem aber ruft er ihm seine Stellung und Aufgabe in der Welt ins Bewusstsein (dazu später). Doch seine Drohungen und Versprechen werden als Volksverhetzung gebrandmarkt und Mose entgeht nur knapp der Steinigung. Aus dem Volk verjagt, versucht er allein nach Kanaan zu gelangen.
In der Wüste begegnet ihm der Dämon Azazel, der ihn vollends verunsichert. Die niederschmetternden Zweifel, die jener sät, sind a) ob die Unternehmung tatsächlich Gottes Wille war oder doch nur Moses Wunschdenken, geboren aus Ehrgeiz, Scham und Mitleid für sein Volk; und b) ob angesichts der minutiös aufgezählten schrecklichen weiteren Geschehnisse (der zweimalige Tempelbrand, Exil, Diaspora etc.), die Gott nicht verhindern kann, eine Zukunft im Land tatsächlich wünschenswert sei.
Mose verliert den Glauben, da spricht Gott zu ihm und bekräftigt seine Pläne mit dem Volk. Die Kargheit des Landes sei bewusst gewählt, um das Volk nicht den weltlichen Schätzen auszusetzen, denn diese würden den Verlust der wahren Schätze zur Folge haben. Nicht das Land selbst, sondern das Sehnen, die Suche danach ist das wahre Gelobte Land. Mose stirbt, mit sich und der Welt im Reinen. Das Volk wird von Josua aufgerüttelt und ins Land geführt, das Poem endet zweideutig: Das Volk wird untergehen – ob das im Sinne Mose ein Sterben zum Wohl der gesamten Menschheit bedeutet oder ein sinnloses Sterben in Strömen von Blut, bleibt offen.
Biblische Elemente
Das Poem geht mit der Bibel relativ frei um und ist dennoch biblischer als auf den ersten Blick ersichtlich.
Die in der Bibel breit verhandelte Spannung zwischen Assimilation oder Beharren auf Eigenständigkeit angesichts der Übermacht des Feindes ist in dem Poem greifbar: Soll das versklavte Israel sich mit den Mächtigen arrangieren und sich dabei assimilieren, wie es Datan und Abiran vorschlagen? Oder soll es den steinigen Weg in die Freiheit gehen, wo Blutvergießen und Niederlagen drohen? Und damit verbunden: Soll es weltliche Besitztümer oder doch ein geistiges, ideelles Gut anstreben? Das Poem spricht sich eindeutig für Letzteres aus.
Der Aufstand gegen Mose ist in Num 16 erzählt. Der Wüstendämon hat zwar wenig mit Mose zu tun, erinnert aber an Jesu Versuchung in der Wüste. Andere Elemente sind explizit den Evangelien entnommen, etwa wenn Mose sein Volk als „Salz der Erde“ bezeichnet, dessen Königreich „nicht von dieser Welt sei“ (6. Gesang).
Der Mose des Poems wird
zu einem paradigmatischen Heilsbringer wie Jesu, einem leidenden Gottesknecht wie Ijob und einem eifernden Propheten wie Elija.
In der Gottesrede (19. Gesang) sind Elemente aus dem Ijobbuch (Ijob 38–42) zu erkennen: Gott versichert dem leidenden Gerechten, dass seine Pläne für Menschen zwar nicht erforschbar sind, aber dennoch gut und gerecht sind. Das Erscheinen Gottes selbst ist eine Adaption der Gottesbegegnung des Elija am Horeb (1 Kön 19): Nicht im Donner, nicht im Sturmwind, sondern im Schweigen erscheint Gott hier wie dort. Mit diesen biblischen Anspielungen wird der Mose des Poems zu einem paradigmatischen Heilsbringer wie Jesu, einem leidenden Gottesknecht wie Ijob und einem eifernden Propheten wie Elija.
Die Baumfabel
Der spannendste biblische Bezug ist die Adaption der Jotamfabel (Ri 9) im 5.-6. Gesang. Sie bildet das Herzstück des Werks. Frankos Mose versucht mit einer „Baumfabel“, seinem Volk dessen Aufgabe und Stellung in der Welt einsichtig zu machen. Die Bäume, die einen Herrscher suchen und, nachdem die fähigen und angesehensten Bäume ablehnen, den Dornenstrauch wählen, werden im biblischen Zusammenhang (vgl. Ri 9) als (törichtes) Volk gesehen, die um jeden Preis einen König wollen und dabei letztlich den unfähigsten und gefährlichsten aller Bäume in Kauf nehmen.
Franko wendet die Botschaft ins Gegenteil und macht daraus eine sozialpolitische und erwählungstheologische Ansage: Israel/die Ukraine wird mit dem Dornenstrauch gleichgesetzt. Es geht nicht um die Königswürde, sondern um die Erwählung durch Gott. Als die Bäume den Dornenstrauch fragen, tun sie das scheinbar aus Jux, doch steht dahinter Gottes Führung. Er wählt unter den Nationen sein Volk. Die Bäume, die diese Stellung von sich weisen, sind zu groß, zu sehr von sich eingenommen, zu kapitalistisch, zu schön oder zu abgehoben, als dass sie die Position nötig hätten.
Erwählung als Aufgabe
Denn die Erwählung ist weniger Auszeichnung als mühselige, aufopfernde Aufgabe. Damit die anderen Völker gedeihen und es ihnen gut ergeht, soll das arme, wenig ansehnliche, niedrige Volk in der Welt sein. Die Proexistenz des von Gott erwählten Volkes, die auch in der Bibel eine Rolle spielt, ist hier besonders betont.
Dass Mose vom Volk verstoßen und einsam stirbt, ist jedoch Frankos freie Adaption, die eher autobiografisch erklärbar ist. Er selbst nahm für seine sozialistischen und nationalistischen Ideen mehrfach Gefängnisaufenthalte und damit einhergehende soziale Ächtung in Kauf.[3]
Mose als ukrainischer Held ruft das Volk zur Besinnung auf die eigenen Stärken
Aktueller denn je
Heute ist Frankos Werk aus traurigem Anlass wieder aktuell wie nie. Ivan Frankos Botschaft schreit förmlich in den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hinein und warnt vor Aufgabe oder Arrangieren mit den Mächtigen. Mose als ukrainischer Held ruft das Volk zur Besinnung auf die eigenen Stärken, trotz aller scheinbarer Unterlegenheit. Er versucht, das Selbst-Bewusstsein des Volkes zu heben und ihm zu sagen: „Bei aller Kleinheit bist du wichtig für die Welt!“ Dass der Weg in die Freiheit gefährlich, mühsam und schwierig ist, wird nicht verschwiegen. Aber dass er alternativlos ist, auch nicht.
—
Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bildnachweis: pixabay
Literatur: Ivan Franko, Moses, übersetzt ins Englische: http://sites.utoronto.ca/elul/English/Franko/Franko-Moses.pdf
[1] Die Frage, ob der ukrainische Dichter und Nationalheld Ivan Franko als Antisemit zu gelten habe, wurde in Wien 2013 eingehend diskutiert, doch ohne ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen (vgl. die Rezension des Tagungsbandes: https://www.hsozkult.de/review/id/reb-24174, einges. am 20.5.2022.) Das Poem „Mose“ eignet sich durch seine Vielschichtigkeit und Komplexität jedenfalls nicht als Entscheidungshilfe.
[2] Erhard Roy Wiehn, Ehre der Ukraine: 35 Jahre deutsch-ukrainischer Brückenbau. Gesammelte Schriften 1987-2022. Eine Hommage. Konstanz 2022, 121.
[3] So wird Franko selbst auch als „ukrainischer Mose“ bezeichnet (vgl. https://diglib.uibk.ac.at/ulbtiroloa/content/pageview/2548676, einges am 20.5.2022).