Peter Spichtig reflektiert die heikle Grenze zwischen Event und Liturgie im Nachklang eines ökumenischen Gottesdienstes zum Totengedenken.
Es war eine eindrückliche geistliche Feierstunde am nasskalten Novembersonntag in der evangelisch-reformierten Stadtkirche. Insbesondere die Integration bester Kirchenmusik auf hohem Niveau wird lange nachhallen. Auch bei mir.
Den Mittelpunkt bildeten Auszüge aus Mozarts Requiem, die sich dem Gottesdienst entlang entfalteten: Introitus (aus dem Requiem), Begrüssung, Gemeindelied, Gebet, Kyrie (aus dem Requiem), Lesung (1 Thess 4,13-18), Sequenzabschnitte Tuba mirum und Rex tremendæ maiestatis, gefolgt von der Predigt. Dann das Lacrimosa (Sequenz), Fürbitten und ein zweites Gemeindelied. Die Abkündigung kommentierte das Recordare (Sequenz). Mitteilungen, das Unser Vater und das Segensgebet beschlossen den Gottesdienst. Zum Schluss wurde das Sanctus musiziert.
Mozarts Requiem: ökumenisch oder ästhetisch?
Nachhaltig frappierend war insbesondere das Setting. Denn die Musik stand auch topographisch wirklich im Mittelpunkt. Die Bänke waren den Seitenwänden entlang aufgereiht. In der freien Mitte stellten sich die Musizierenden in kleinen Gruppen auf. Die Profis meisterten diese herausfordernden Bedingungen souverän. So sangen etwa Sängerinnen und Sänger und Solistenquartett auswendig, zumal ihnen noch eine komplexe Choreographie abverlangt wurde. Oft bewegten sie sich frei im Raum zwischen den Instrumenten, wandten sich bald direkt nach aussen den Mitfeiernden zu und bedeuteten die Relevanz des Vortrags, bald eher introvertiert von uns ab oder hockten sich auf den Boden. Die Hosanna-Fuge verleitete sie zum Schluss gar zu einem Reigentanzschritt. Ein Symbol der Lebendigkeit, der Hoffnung auf einen Fortgang des Lebens – auch für unsere Toten? Um diese ging es doch hauptsächlich.
Für unsere Toten beten – irgendwie
Der katholische Pfarrer verantwortete die Gebetsteile. Es blieb der reformierten Pfarrerin überlassen, sich in der Predigt fragend an die Idee der Gemeinschaft mit den Verstorbenen über den Tod hinaus vorzutasten. Sie erinnerte daran, dass Reformierte eigentlich nicht für die Toten beten. Ihre vorsichtigen Tastbewegungen näherten sich einigen Textpassagen des Requiem an. Diese unterstrichen die leise aufkeimenden Trostgedanken, nicht ohne die Frage nach dem Gericht und einem gerechten Gott wachzuhalten.
Gerade dieses bloss Angefragte, nicht klar Ausgesprochene, das in der Schwebe Gehaltene prägte den Gottesdienst insgesamt und stimmte sicher viele Mitfeiernde konstruktiv nachdenklich. Aber reicht das?
Die Musik im Mittelpunkt
Was passiert da genau, wenn die Gläubigen um die Kirchenmusik herum platziert werden? [1] Heisst das nicht zuerst einmal positiv, dass – endlich! – die synästhetische Bedeutung des gesungenen Glaubensbekenntnisses in seiner Komplexität und Tiefe gewürdigt wird? Zumal diese Musik ja so aufgeführt wurde, dass ich direkt angefragt wurde. Ich konnte in diesem Setting nicht Zuschauer bleiben. Zwei Kirchenlieder aus reformierter Tradition wurden zudem von allen gesungen. Auch dieser Gesang ertönte polyphon, und nun wirklich von allen Seiten, auch von der professionellen Mitte aus. Toll! Eine höchste mögliche aktive Beteiligung aller scheint in diesem Setting erreicht worden zu sein.
Wird das durch dieses Konzept suggerierte Versprechen aber eingelöst, wenn die verwendeten Musikstücke aus dem Requiem dann eben doch nicht passen, wenn sie, ihres Kontexts beraubt, mehr atmosphärisch eingesetzt werden, als dass man sie in ihrem synästhetischen Wert (Text-Musik-Kontext-Bezug) ernst nähme?
Denn wer der Kirchenmusik phänomenologisch einen derart hohen Stellenwert einräumt, setzt die gewählten Stücke einer hohen Belastungsprobe aus. Auszüge aus einer Totenmesse als konzeptionellen Mittelpunkt eines ökumenischen Gottesdienstes werfen hier schon Fragen auf.
Missa pro defunctis ohne Messe
Theologischer Kern eines Requiems ist nun eindeutig das Gebet für Verstorbene. Der Trost und das Angebot eines Deutungsrahmens für die schreckliche Verlusterfahrung der Hinterbliebenen treten hinzu. Die gefeierte Totenmesse wird so zu einem Stück ars moriendi. Die liturgische Form des Requiem ist aber die Eucharistiefeier: das feiernde Gedenken des Pascha-Mysteriums unseres Herrn und Erlösers. Deutungsrahmen der Texte eines „Totenamts“ ist also die Feier des Todes, der ‚Höllenfahrt‘, der Auferstehung und Himmelfahrt Christi und die biblisch begründete Hoffnung seiner Wiederkunft als barmherziger Richter. Zentral hierfür ist die communio mit Christus über dessen Tod hinaus: das Teilen des gebrochenen Brotes als sakramentale Teilhabe an seinem Leib, am Leib Christi, der Kirche, die synchrone und diachrone communio sanctorum et mortuorum.
Kriterien der Textauswahl
Fällt nun schon aus bekannten und beklagenswerten Gründen die Feier der Eucharistie als Form ökumenischen Gedenkens weg, bleibt die Frage, welchen Sinn es hat, dennoch vertonte Texte einer Messe zu wählen. Und die Frage nach deren Auswahl.
Freilich gibt die Sequenz unter dramaturgischen Gesichtspunkten viel her. [2] Aber sie bedarf der christologischen Ergänzung: Danach würde normalerweise die Frohe Botschaft folgen, die die in der Sequenz ernst genommenen diffusen Gefühle christologisch einordnet. Eine Evangeliumslesung vermisste man aber im Gottesdienst. Mit der Streichung des Gabenbereitungsgesangs hat man einen zusätzlichen Bezugspunkt ausgeklammert, die anamnetische Dimension der Hoffnung nämlich: ‚Abraham und seinen Nachkommen hattest du doch einst das Leben versprochen, so führe, treuer Gott, nun auch unsere Verstorbenen ins heilige Licht.‘ So könnte man, bibeltheologisch abgestützt, frei übersetzen.
Und auch die Communio hätte kräftigere Anhaltspunkte geboten als in Teilen der Sequenz frei assoziativ zu verweilen („Ewiges Licht leuchte ihnen, Herr, mit allen deinen Heiligen in Ewigkeit, denn du bist gütig.“). Dies würde bezeichnenderweise während dem Kommunionritus gesungen, während dem also die sakramentale, d.h. zeichenhaft sinnlich höchst konkret vollzogene Nähe zu Christus am eigenen Leib erfahren wird!
Nähme man eine Missa pro defunctis in diesem Sinne ernst; würde man sie wirklich als Eucharistie, als Danksagungsfeier und als Anempfehlung der lieben Verstorbenen an die Barmherzigkeit Gottes begehen, in der begründeten Hoffnung, dass Jesus auch sie mitgemeint hat, als er sterbend am Kreuz dem Vater die Sünder anempfahl, – dann käme man zu affirmativeren theologischen Aussagen. Es würde aber ebenso klar, dass man sich damit längst auf explizit katholischem Terrain befände und sich also ein solches Musikstück für einen ökumenischen Gottesdienst nicht gerade aufdrängt.
Ein ungehobener Schatz: Das theologische Potenzial liturgischer Texte
Das Beispiel verweist exemplarisch auf eine weitläufige, vernachlässigte Brache: Die beliebten Stücke aus der Kirchenmusiktradition werden selten wirklich ernst genommen – weder im geistlichen Konzert noch im Gottesdienst; Symptom dafür, dass liturgische Texte (Gebete, Antiphonen, Psalmverse) ganz allgemein als theologische Deutungshinweise kaum im Blick sind. Dabei böten sie vielfältige biblische Bezüge. Wir Predigenden tun uns wohl insgesamt schwer mit dem Wertschätzen der grosszügigen, aber komplexen biblischen Texturen, die von den liturgischen Texten und biblischen Lesungsperikopen (im Plural!) im Gottesdienst angeboten werden. [3] Hier liegt ein wahrer (ökumenischer) Schatz brach, den es zu heben gilt.
Der weite Weg zur gemeinsamen Liturgie
War es also nicht doch eher ein Konzert, ein „geistliches“ zwar, aber eben zuerst ein ästhetischer Event? Bezeichnenderweise trat erst durch die Aufforderungen zum Beten des Unser Vater die Frage an mich heran: Wie halte ICH es mit der Religion, mit dem Gebet für die Toten, mit dem Glauben an die Auferstehung der Leiber?
Es wurden keine Antworten gegeben in diesem Gottesdienst. Sie hätten in der Musik gesteckt. Diese aber wurde, aller Fokussierung zum Trotz, nicht ernst genommen.
Geht (ökumenischer) Gottesdienst nur mehr im Modus des „proposer la foi“; den Glauben gleichsam anzubieten? Dies Motto war von den französischen Bischöfen 1996 indes bezeichnenderweise für die Evangelisierung gewählt worden, also ad extra! Worum aber soll es denn in unseren Gottesdiensten gehen, wenn nicht um das Gotteslob und die Bekräftigung des Credo? Ohne positive und aktive Glaubensaffirmation des einen, lebendigen und heilenden Gottes geht Liturgiefeiern nicht.
Der erlebte Gottesdienst wird als eindrückliche geistliche Feierstunde vielen nachhaltig in Erinnerung bleiben. Das ist gut so. Und das soll niemandem streitig gemacht werden. Zur Liturgie hat er nicht werden können.
Denn das Genre der Liturgie ist „positive Theologie“. Die negative oder auch die behutsam suchende, fragende Theologie und Theo-Poesie hat ihre eminent wichtige, prophetische Funktion und muss gegen jegliche neu aufkeimenden nostalgischen Triumphalismus-Tendenzen in Stellung gebracht werden. Dafür sollen eigene Gottesdienstformen entwickelt werden, die hoffentlich im je Vorläufigen bleiben. Aber Liturgie der Kirche, in der die Glaubensgemeinschaft den tradierten Glauben feiert und sich ihn je aneignet und aktualisiert, bedarf der expliziten positiven Gottesrede.
Peter Spichtig op ist Co-Leiter des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg, Sekretär der Liturgiekommission der Schweizer Bischofskonferenz und Vorstandsmitglied der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche.
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/Requiem_(Mozart)?uselang=de#/media/File:K626_Requiem_Mozart.jpg
[1] Bilder vom Setting, nun aber von der konzertanten Aufführung am Abend: zum Link.
[2] Zu Hintergrund und theologischer Deutung der Totensequenz s. hier den Artikel von Alexander Zerfaß.
[3] Vgl. hierzu das Forschungsprojekt der Universität Luzern zu den vielfältigen biblischen Bezügen der feststehenden liturgischen Formeln im Ablauf der Messfeier.