Als Familienberaterin setzt sich Daniela Albert mit den hohen Erwartungen auseinander, die viele Mütter internalisiert haben und die sie auch von sich selbst kennt. Nicht erst seit der Pandemie sind viele zutiefst erschöpft.
„Das ist eine sehr hohe Erwartung, die du da an dich hast.“ Im Raum herrscht Stille. Einen Moment lang. Dann nickt die Frau, die mir gegenübersitzt und währenddessen fangen lange unterdrückte Tränen an zu laufen. Ich lasse es einen Moment zu, dann reiche ich ihr ein Taschentuch. Wir sehen uns an. Ich nicke auch. Sie zuckt mit den Schultern und lacht ein bisschen verschämt. Wir kennen uns erst eine halbe Stunde. Aber das Eis ist nun gebrochen. Ich habe den Punkt gefunden, an dem all ihr Schmerz seinen Ursprung hat.
Ich habe den Punkt gefunden, an dem all ihr Schmerz seinen Ursprung hat.
Ich finde ihn bei meinen Klientinnen oft genau an dieser Stelle: An den eigenen Ansprüchen. An der Vorstellung davon, wie eine gute Mutter zu sein hat. Und an dem bohrenden Gefühl, genau daran kläglich zu scheitern. Eben nicht das zu sein, was wir alle so gern wären – eine gute Mutter! Dieses Gefühl ist grausam. Es sitzt in fast jeder von uns Müttern. Viel zu lange versuchen wir es zu kaschieren, es wegzulächeln, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Doch dadurch wird es nicht besser. Es kann in uns gären und uns von innen vergiften. Ich kenne das, nicht nur von meinen Klientinnen, sondern auch von mir selbst.
die Vorstellung davon, wie eine gute Mutter zu sein hat – und das Gefühl, daran kläglich zu scheitern
Doch was ist da eigentlich passiert? Wie kann es sein, dass ich als Tochter einer Mutter, die ihren Kindern ohne Schamesröte Salamibrötchen vom Discounter und eine Flasche Cola zum Mittagessen mit nach Hause brachte, stolz auf ihren Halbtagsjob war und den Laternenumzug gern meinem Vater überließ, zu einer Mutter wurde, die sich nicht mal dann gut genug fühlt, wenn sie das Dinkelbrot selbstgebacken, den Wandertag begleitet und nebenbei ein Kleinunternehmen aufgebaut hat?
Ich glaube, es sind verschiedene Dinge passiert. Etwa die Wende in der Familienpolitik. Die Idee dahinter war wahrscheinlich eigentlich gut. Wir kommen weg davon, Müttern drei Jahre Erziehungsgeld in Form eines Taschengeldes zu zahlen und geben ihnen stattdessen eine anständige, finanzielle Ersatzleistung – die aber nur ein Jahr. Die Familie gewöhnt sich so gar nicht erst an das Leben mit weniger Geld, die Mutter hat einen Ansporn, schnell wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren und für das Kind schaffen wir Betreuungsplätze. Und damit wir auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Auge behalten, können Männer all diese Leistungen genauso beziehen – obendrauf unterstützen wir eine Familie länger, wenn beide Elternteile sich eine berufliche Auszeit nehmen.
„Ganztag“ gedacht – aber nicht zu ganztägiger Berufstätigkeit passend
Was gut gedacht war, wurde jedoch schlecht umgesetzt. Zum einen dachte man bei den Planungen häufig im „Ganztag“ es musste die ganztägige Berufstätigkeit sein, die KinderTAGESstätte und die Ganztagsschule. Dabei übersah man, dass eine Vollzeitbeschäftigung Menschen in Deutschland in der Regel von 8 bis 17 Uhr bindet – mindestens, denn Überstunden gehören hierzulande zum guten Ton und ein:e ordentliche:r Arbeitnehmer:in trägt sie wie einen Orden vor sich her. Meetings in den späten Nachmittagsstunden sind genauso gesetzt wie diese sagenumwobene „Flexibilität“, die oft eine Einbahnstraße ist.
Die (neu geschaffenen) KinderTAGESstätten besaßen diese Flexibilität jedoch oft nicht. Abgabezeiten vor acht und Abholen nach 17 Uhr musste man sich hart erkämpfen und vor allem musste frau aushalten lernen, dass das eigene Kind das erste am Morgen und das letzte am Abend war – inklusive missbilligender Blicke des Kitapersonals. Diese Tadel sind natürlich völlig fehl am Platze – aber leider nicht vollständig von der Hand zu weisen. Wir müssen nämlich anerkennen, dass es ein sehr, sehr langer Tag ist, den wir kleinen Menschen da zumuten. Von dem Gedanken, dass man abends dann gemeinsam Quality Time wie im Werbefernsehen verbringen kann, kann man sich getrost verabschieden. Die kleinen Menschen sind fertig – und die großen auch!
abends gemeinsam Quality Time wie im Werbefernsehen?!
Dennoch ist die Kindertagesstätte der bessere Teil, wenn es um die Vereinbarung von Beruf und Familie geht. Wenn die Kinder erst in der Schule sind, dann geht es nämlich richtig bergab. Ganztagsschulangebote fehlen im Grundschulbereich oft ganz und wenn es sie gibt, dann haben sie zwar die Öffnungszeiten von europäischen Nachbarländern kopiert, für die Ganztagsschulen selbstverständlich sind, nicht aber deren durchdachte Konzepte.
Ganztag bedeutet hierzulande nämlich nicht, dass unsere Kinder in der Schule eine gesunde Mischung aus Lernen und Freizeit vorfinden und dann hausaufgabenfrei nach Hause gehen. Nein, es bedeutet, dass sie sich in mehr oder weniger dafür geeigneten Strukturen bis in den Nachmittag hinein aufhalten dürfen – um hinterher mit ihren erschöpften Müttern und ihren dazwischen rumwuselnden kleinen Geschwistern Vokabeln zu lernen, Aufsätze zu schreiben und Referate auszuarbeiten. Auch in ihrem Tag wird der Raum für andere Dinge knapp. Frust, Ärger und Enttäuschung sind hier vorprogrammiert.
der toxische Gedanke, dass es nicht ein strukturelles, gesellschaftliches Problem ist, sondern persönliches Versagen
Und das schlimmste: Mütter sind in diesem zerstörerischen Konstrukt unsichtbar. Es gibt keinen großen, organisierten Mütterstreik. Es gibt kaum eine, die überhaupt laut ausspricht, was schiefläuft. Denn tief in jeder einzelnen Mutter da draußen hat sich der toxische Gedanke eingenistet, dass es sich hierbei nicht um ein strukturelles, gesellschaftliches Problem handelt, sondern um persönliches Versagen. Wir betrachten Mütter als Gesellschaft immer noch individuell.
Die Wahrheit hätte man indes längst kennen können. Man hätte die fragen können, bei denen sie schon lange auf den Schreibtischen landete: Krankenkassen oder das Müttergenesungswerk zum Beispiel. Diese schafften es nämlich schon vor Corona kaum noch, der Zahl erschöpfter Mütter gerecht zu werden. „Die Klinken sind voll“, war die Antwort, die die Autorin Veronika Smoor vor Jahren erhielt, als sie sich auf die Suche nach einem Platz für sich und ihrer Kinder machten. Selten habe man so viele erschöpfte Mütter gesehen. Alles Einzelschicksale selbstverständlich.
schon lange auf den Schreibtischen von Krankenkassen oder dem Müttergenesungswerk
Einzelschicksale blieben sie sogar dann, als nicht mehr zu übersehen war, wie unfassbar ignorant unsere Gesellschaft und unsere Politik gegenüber Müttern ist: Im Lockdown. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, packte man obendrauf, was man ihnen doch gerade erst abgenommen hatte: Kinderbetreuung 24/7, während der Arbeitsalltag weitergehen musste. Auf einmal waren es nicht nur die Vokabeln, die am heimischen Küchentisch landeten, sondern der komplette Schulstoff von Monaten. Und wieder waren es die Mütter, die es mehrheitlich schulterten, die ihre Arbeitszeiten reduzierten, Verdienstausfall in Kauf nahmen oder gleich ganz kündigten.
Lockdown: Ohne mit der Wimper zu zucken, packte man obendrauf, was man ihnen doch gerade erst abgenommen hatte.
Vielleicht fragst du dich, wo die Väter in meinem Artikel sind. Meine Antwort: Sie sind nicht Thema, weil es nicht ihr Thema ist. So traurig, so wahr. Denn ja, es gibt glücklicherweise eine ganze Reihe aktiver Väter, die sich einbringen, Verantwortung übernehmen, die systemischen Widersprüche erleben, manchmal sogar den Hauptteil schultern. Doch kein einziger von ihnen ist derartigen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt. Schafft er es einigermaßen, ist er der Superheld. Läuft es mehr schlecht als recht, konnte man halt nicht mehr von ihm erwarten – wie kann die Frau ihn auch so allein mit allem lassen?
Gemeinden, die Räume schaffen, in denen Mütter ehrlich werden können und Menschen, die sich laut für veränderte Strukturen einsetzen
Wir haben die Pandemie in Wirklichkeit nicht einmal ganz hinter uns gebracht. Trotzdem wird angesichts der Folgen, die wir gerade bei Kindern und Jugendlichen beobachten können, oft die Frage laut, was Familien jetzt brauchen. Nun: Sie brauchen zuallererst einmal Mütter, die an Leib und vor allem an der Seele gesunden dürfen. Und sie brauchen andere, die genau dafür kämpfen. Wir brauchen Gemeinden, die Räume schaffen, in denen Mütter ehrlich werden können und zu ihrer Überforderung stehen. Orte an denen Masken fallen dürfen.
Wir brauchen Menschen mit Einfluss, die laut und penetrant fordern, dass sich Strukturen ändern. Denn unsere Idee von Vereinbarkeit ist schon lange nicht gesund, für keinen, noch weniger ist es unser Schulsystem. Beides muss hinterfragt und reformiert werden. Wir brauchen ehrliche und mutige Menschen, die hier vorangehen und Erleichterung schaffen. Und zwar schnell, bevor die Mütter zerbrechen und ihre Kinder gleich mit. Beides passiert schon jetzt vor unseren Augen. Wir wollen es nur nicht sehen.
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Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin, Familienberaterin, Autorin und dreifache Mutter. Sie lebt mit ihrem Mann, den Kindern, einem Hund und einem Kater in der Nähe von Kassel und mag es am liebsten alltagsnah und unperfekt.
Bild: Marcin Joswiak / unsplash.com