Katrin Visse reagiert auf den Artikel Wider die großen Schlagwörter von Tarek El-Sourani. Für MuslimInnen genauso wie für ChristInnen geht es nach Visse heute darum, die eigenen Traditionen so wenig apologetisch wie möglich weiterzuentwickeln.
Geht nur entweder … oder?
Es ist richtig, dass in der aktuellen Medienlandschaft und bei deren durchschnittlichen KonsumentInnen (darunter auch ein Akademiepublikum) das Interesse an muslimischen ProtagonistInnen, die mit den Schlagworten „Reformer“ und „Liberale“ operieren, ungebrochen hoch ist. Was tun mit diesem Befund?
Lassen sich Positionen und Haltungen darüber, wie man seinen Glauben lebt und verstanden wissen möchte, tatsächlich in zwei Adjektive einfügen?
Auch die letzte Deutsche Islamkonferenz war stark davon geprägt, dass sich viele TeilnehmerInnen von der gerade neu und öffentlichkeitswirksam gegründeten Initiative Säkularer Islam distanzierten – und diese somit erst recht den Diskurs bestimmte. Darüber hinaus sind viele der engagierten und organisierten MuslimInnen in verschiedenen Lagern zerstritten, die von innen und außen nur als „liberale“ oder „konservative“ gelabelt werden – als ob sich Positionen und Haltungen darüber, wie man seinen Glauben lebt und verstanden wissen möchte, tatsächlich in zwei Adjektive einfügen könnten. Entscheidender noch als das Argument selbst ist dadurch oft, wer es auf welche Weise und in welchem Rahmen äußert. Was kann also die Rolle der kirchlichen AkteurInnen in diesem Feld sein? Oder, theologisch gewendet: Worin bestünde der Liebesdienst, den im Dialog aktive ChristInnen MuslimInnen erweisen könnten?
Brücken des Verständnisses bauen
Eine erste, manchmal auch reflexhafte Aktion ist die Verteidigung: Wenn man sich vor Augen hält, dass jede Beschuldigung des Islam als fundamentalistische, anti-moderne und anti-westliche Religion vor nicht allzu langer Zeit noch gerechtfertigter gegen den Katholizismus hätte gerichtet werden können, wird deutlich, wie naheliegend die Versuchung ist, nur in die Melodie der Apologetik einzustimmen und Brücken des Verständnisses und Erklärens zu bauen. Da aber für viele Menschen mittlerweile nicht nur einfach der muslimische Glaube, sondern das Phänomen Glauben überhaupt schon fremd ist und merkwürdig anmutet, ist diese Rolle nach wie vor nicht gering zu schätzen.
Starre Lagerbildungen aufbrechen
Aber es wäre falsch und sogar eben kein Liebesdienst, bei der Verteidigung und Abgrenzung stehen zu bleiben. Viel wichtiger erscheint es mir, zu einem Klima beizutragen, in dem sich Theologie, Denken, Diskurse und Debatten eben nicht nur als Gegenargument und frei von Lagerzuschreibungen entwickeln. Zwar verdankt sich jegliche Theologie immer dem Gegenüber eines Anderen, und die Abgrenzung zu anderen Positionen hat meistens in deren Geschichten zur Profilschärfung beigetragen. Doch unbestritten ist auch, dass diese Abgrenzungen umso schärfer gezogen werden und eine Solidarität unkritischer wird, sobald Anfeindungen von außen zunehmen. Es darf eben nicht so sein, dass die Abscheu vor rassistischen Argumentation („Kopftuchmädchen“) oder umgekehrt den Abscheulichkeiten, die einige wenige im Namen des Islam tun, dazu zwingen, einem Lager beizutreten, das sich als die Grundalternative erklärt und das nur als Gesamtpaket zu haben ist.
Kreative Umgänge mit der Tradition fördern
Es sollten vor allem jene Gelehrte Beachtung finden, die „leise“ und „kreativ, die autochthoneren Traditionen und Normen an moderne Anliegen und Ansprüche an[zu]gleichen“, fordert Tarek El-Sourani in seinem Beitrag Wider die großen Schlagwörter. Während die Rolle der kirchlichen AkteurInnen ehemals oszillierte zwischen „Anwälten, Vermittlern oder Partnern“, so ist sie nun mehr noch darum erweitert, diese leisen Töne zu hören, ihnen ggf. ein Mikrofon zu reichen und zu einem Klima beizutragen, in dem eben diese Tradition sich so wenig apologetisch wie möglich weiterentwickeln kann. Dabei ist auch die Rolle von Macht immer ausreichend zu reflektieren. Und, wenn’s denn sein muss, sind auch Räume zu schaffen für Begegnungen und für Streit, bei dem Argumente ausgetauscht werden jenseits von Lagergruppierungen.
Die MuslimInnen heute sind die ArchitektInnen der muslimischen Tradition von morgen.
„Tradition“ meint nicht nur das Vergangene, in das Gläubige eintreten oder mit der sie brechen. Tradition ist für einen Gläubigen gleichsam „Herkunft“ und bestimmt, wie er sich selbst in der Gegenwart sieht und damit auch konstitutiv für die Zukunft: Die MuslimInnen heute sind die ArchitektInnen der muslimischen Tradition von morgen. Was würde ich mir wünschen von meinem muslimischen Freund? Dass er mich versteht, aber mir nicht das Wort redet. Dass er mich in meinem Anderssein annimmt und sieht. Bestenfalls sieht er dabei etwas, von dem ich vorher gar nicht wusste, dass es da ist.
Katrin Visse ist Referentin für Islam und Theologie an der Katholischen Akademie in Berlin.
Bild:Javier Allegue Barros on Unsplash.