Deutschlands Mitte driftet mit den Wahlen nach rechts. Fahimah Ulfat und Erkan Binici spüren wachsenden Druck auf den muslimischen Alltag – und hoffen auf ein Comeback von Vielfalt und Solidarität.
Erst kürzlich saß ich im Wartezimmer meines Arztes, als zwei ältere Damen sich über Migration und Flüchtlinge unterhielten – und zwar in einer Art, die keine Nuancen zuließ. Besonders empört waren sie darüber, dass eine Integrationsbeauftragte ein Kopftuch trage. Ich fragte sie, was daran so schlimm sei. Erst in diesem Moment schienen sie mich wahrzunehmen – eine Frau mit Kopftuch. Die eine wurde sofort laut, emotional, fast angriffslustig: Frauen wie ich hätten in Deutschland nichts zu suchen. Warum ich nicht „nach Hause“ gehen würde? Als ich entgegnete, dass Deutschland meine Heimat sei, ließ das ihren Zorn nicht abkühlen – im Gegenteil. Eine andere Patientin im Wartezimmer, bis dahin still, mischte sich ein und sagte zu der Dame: „Das ist kein Umgang. Schämen sollten Sie sich!“ Sie hätte so etwas noch nie erlebt.
Der Rechtsruck in Deutschland ist unübersehbar
Es wäre wünschenswert, dass auch Muslim:innen sagen könnten, sie hätten so etwas noch nie erlebt – doch leider sind solche Situationen alles andere als außergewöhnlich. In den letzten Monaten sind solche Momente häufiger geworden – für uns, für viele Menschen und vor allem für Kinder, die als muslimisch oder migrantisch gelesen werden. Der Rechtsruck in Deutschland ist unübersehbar. Noch vor der Bundestagswahl dominierte das Thema Migration die politische Debatte – Abschiebungen, muslimische Straftäter, vermeintliche Bedrohungen für „die deutsche Kultur“. Es war das zentrale Wahlkampfinstrument, mit dem um Stimmen geworben wurde. Es wurde der Eindruck erweckt, dass die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme – wie Armut, Klimawandel, Bildung oder Fachkräftemangel – von der Bewältigung des ‚Migrationsproblems‘ abhängt. Migration wurde gezielt instrumentalisiert – auf Kosten aller anderen wichtigen Themen. Und es hat gewirkt: Die Stimmung ist rau, die Hemmschwellen sind gefallen. Der Hass ist nicht mehr versteckt, sondern wird offen ausgesprochen – ob von älteren Damen im Wartezimmer, von Politiker:innen in Talkshows oder von Menschen, die sich im Netz gegenseitig aufstacheln. Das Unsagbare ist sagbar geworden, rassistische Aussagen werden als „Meinung“ verteidigt.
Das Unsagbare ist sagbar geworden, rassistische Aussagen werden als „Meinung“ verteidigt
Das spiegelt eine politische Realität wider, die der Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM)[1] bereits 2023 in seinem Abschlussbericht analysierte. Besonders deutlich wird dies in der dort zitierten Diskursanalyse, die im Auftrag des UEM durchgeführt wurde. Die Untersuchung zeigt, dass muslimische Perspektiven in politischen Debatten systematisch marginalisiert werden. Muslimischsein wird in politischen Diskursen selten als selbstverständlicher Bestandteil gesellschaftlicher Vielfalt betrachtet, sondern vorrangig im Zusammenhang mit Sicherheit, Integration oder Extremismus thematisiert.
Islam wird immer noch meist mit „Islamismus“, „Radikalisierung“ oder „Gefahr“ verknüpft
Die Studie analysierte unter anderem Bundestagsdebatten und Wahlprogramme der letzten Jahre und kommt zu dem Ergebnis, dass Islam und Muslim:innen dort überwiegend als Problem oder Herausforderung erscheinen. So werde Islam meist mit Begriffen wie „Islamismus“, „Radikalisierung“ oder „Gefahr“ verknüpft, während positive oder neutrale Kontexte – etwa muslimisches Engagement in Bildung, Kultur oder Politik – kaum Erwähnung finden. Dies verstärke die gesellschaftliche Wahrnehmung von Muslim:innen als „Sonderfall“, der überwacht, reguliert oder kontrolliert werden müsse. Ein Blick in die aktuellen Wahlprogramme zeigt, dass diese Analysen auch auf die Bundestagswahl 2025 zutreffen. Diese Tendenzen spiegeln sich in den Wahlprogrammen verschiedener Parteien wider. Islam und Muslim*innen werden dort weiterhin häufig aus einer sicherheitspolitischen Perspektive betrachtet. Während einige Programme Maßnahmen zur Prävention und Deradikalisierung betonen, bleibt der Fokus insgesamt oft auf der Gefahrenabwehr. Auch im Bereich der Integration zeigt sich eine ähnliche Dynamik: Schutz vor Diskriminierung und die Anerkennung muslimischer Gemeinschaften als Teil der Gesellschaft stehen seltener im Mittelpunkt als Kontrollmechanismen und Misstrauen gegenüber islamischen Organisationen. Besonders deutlich wird dies in Forderungen nach strikteren Regulierungen religiöser Verbände oder der Einschränkung ausländischer Einflüsse. Diese Narrative zeigen, dass sich die politischen Debatten um Islam und Muslim*innen nach wie vor entlang problematisierender und sicherheitsorientierter Linien bewegen.[2]
Die Mitte ist im Sog der Verschiebung nach rechts
Eine Erklärung für dieses politische und gesellschaftliche Desaster könnte darin liegen, dass politische Debatten zunehmend von einer Verschiebung des Diskursfensters, des sogenannten Overton Windows, geprägt sind. Politiker:innen vertreten keine klaren Standpunkte mehr, sondern orientieren sich an den Haltungen, die von einem großen Teil der Mitte der Gesellschaft eingenommen werden. Und diese Mitte ist im Sog der Verschiebung nach rechts.
Die Rechten haben es geschafft, dieses Fenster Schritt für Schritt nach rechts zu verschieben. Was vor wenigen Jahren noch als unsagbar galt, wird heute in Talkshows diskutiert, in Wahlprogrammen formuliert und in Alltagsgesprächen offen ausgesprochen. Es sind nicht nur extrem rechte Gruppen, die den Diskurs bestimmen, sondern auch bürgerliche Parteien, die dem Druck nachgeben, um keine Wähler:innen zu verlieren. Die sogenannte Mitte rennt hinterher, statt klare Kante zu zeigen. Rechte Rhetorik ist zum politischen Mainstream geworden – ein alarmierendes Zeichen dafür, wie sehr die Grenzen zwischen demokratischen und antidemokratischen Positionen bereits verschwimmen.
Die Grenzen zwischen demokratischen und antidemokratischen Positionen verschwimmen
Die Geschichte lehrt uns, wie schwer es ist, autoritäre und rechtsradikale Strukturen zu durchbrechen, wenn sie erst einmal gefestigt sind. Aber es gibt eine andere Lektion, die sich durch Generationen zieht: Viele Menschen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass sie nicht bereit sind, den rechten Rollback einfach hinzunehmen. Sei es in der Klimabewegung, in feministischen Kämpfen oder im Engagement gegen Rassismus – überall gibt es Stimmen, die sich wehren, die protestieren, die an Alternativen arbeiten.
Wenn die gesellschaftliche Mitte sich nach rechts bewegen lässt, dann können wir sie auch zurückholen
Das bedeutet: Wir müssen sprechen. Wir müssen widersprechen. Wir müssen uns dem Hass entgegenstellen, sei es auf der Straße, im Netz, in den Parlamenten oder – ja – auch im Wartezimmer. Wir müssen das Overton-Window bewusst und strategisch in Richtung Menschenwürde, Gerechtigkeit, Vielfalt und demokratische Grundwerte verschieben. Denn wenn die gesellschaftliche Mitte sich so leicht nach rechts bewegen lässt, dann können wir sie auch zurückholen. Aber dafür braucht es Mut, Ausdauer und Entschlossenheit – und eine solidarische Gemeinschaft, die sich trotz allem nicht einschüchtern lässt.
[1] Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) (2023): Muslimfeindlichkeit in Deutschland. Ausgangslage, Handlungsfelder, Maßnahmen. Abschlussbericht im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und für Heimat.
[2] AIWG. „Bundestagswahl 2025 – Wahlprogramme.“ AIWG, 2025, https://aiwg.de/bundestagswahl-2025_wahlprogramme/.
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Bild von Alexander Fox | PlaNet Fox auf Pixabay
Prof. Dr. Fahimah Ulfat ist Professorin für Islamische Religionspädagogik an der Universität Tübingen (ab 1. April 2025 Universität Münster) und Leiterin des Instituts für Islamisch-Religionspädagogische Forschung (IIRF). Sie ist zudem Mitbegründerin und Leiterin der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle (JIF). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören (inter)religiöse Bildung, antisemitismus- und diskriminierungskritische Bildung, empirische Untersuchungen zu Jugend und Religion sowie Lehrkräfteprofessionalisierung