Protest in wilder Verbundenheit – vor kurzem hat die in San Salvador lebende und lehrende CJ-Schwester und Theologieprofessorin Martha Zechmeister eine vielbeachtete Rede auf dem österreichischen Ordenstag gehalten. Feinschwarz.net dokumentiert Auszüge. Ein Aufruf zu jesuanisch inspirierter Revolution für das Leben!
Angesichts meiner Lebenszeit, die mir davonläuft, drängt sich mir die Alternative auf: Entweder sterbe ich als frustrierte Alte oder als verrückte Revolutionärin. Ich habe mich für die zweite Variante entschieden. Es ist für mich die Aktualisierung des Rats des hl. Ignatius: Wie wünschte ich in meiner Todesstunde und am „Tage des Gerichts“ (EB 183) entschieden zu haben? In diesem Sinne, erlauben Sie mir jetzt in aller Freimut meine verrückten, revolutionären Ideen. Und ich bitte Sie um dieselbe Freimut, sich das zu nehmen, von dem sie denken, es kann zu mehr Leben führen – und das, was nicht weiterhilft, gelassen liegenzulassen.
Kreativ, gewagt, kühn
Mary Ward[1] brachte die Anschuldigung „diese Frauen wollen sich selbst regieren“ (Maria 2.0 im 17. Jahrhundert) in den Kerker der Inquisition. Doch gerade ihr Wagemut, zu neuen Ufern aufzubrechen, kann uns ermutigen, uns auch heute beherzt den herausfordernden und unlösbar erscheinenden Fragen unserer Zeit stellen. Sie ermutigen uns, auf den Geist zu vertrauen, der uns dazu verführen will, kreativ, gewagt, kühn zu sein. Beim Versuch, dafür einige Linien zu skizzieren, habe ich mich vom Buch einer jungen deutschen feministischen Philosophin, Eva von Redecker, inspirieren lassen: „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“ (Frankfurt/M. 2020).
Es geht Ihnen sicher nicht anders als mir, ich wache inzwischen mit der Angst auf, mich den neuesten Nachrichten zu stellen. Eine Horrormeldung überschlägt die andere: Ukraine, Afghanistan, Israel, Gaza. Täglich tausende von unschuldigen, vor allem zivilen Opfern, unerträglich viele Kinder und Jugendliche. Zum Teil grausam massakriert, zum Teil zynisch als Kollateralschaden in Kauf genommen. Generalisierungen und Oberflächlichkeiten helfen hier ganz gewiss nicht weiter. Und doch können wir versuchen, die „strukturelle Sünde“ zu benennen, die an der Wurzel aller großen Katastrophen unserer Zeit zu orten ist. Sei es nun der Klimakollaps, die Massenmigration, die terroristischen Gewaltexzesse, die kriegerischen Auseinandersetzungen: die Wurzelsünde in all dem ist – immer noch – die Logik des Kapitalismus, der gierigen Anhäufung von Kapital und Ressourcen der einen und der Verelendung der anderen.
Ich arbeite an der Universität in San Salvador, in der Ignacio Ellacuría 1989 ermordet wurde. Seine Seligsprechung mit etwa fünfzig anderen salvadorianischen Märtyrern ist eingeleitet. Ellacuría wusste, dass ein radikaler Systemwandel, ein „system chance“, nottut und seine Analyse hat noch immer Geltung. Und doch sind wir heute in eine neue, dramatische Phase getreten. In noch nie dagewesener Dringlichkeit wissen wir, wie sehr der Kapitalismus nicht nur die Verelendung eines Teils der Weltbevölkerung bedeutet, sondern die Lebensgrundlagen aller zerstört. All das, worauf christliche Schöpfungstheologie zielt, die Erde als bewohnbarer Raum für den Menschen, ist in Gefahr vom Menschen definitiv ruiniert zu werden. „…und selbst eine so verheerte Erde wird immer noch weitaus lebensfreundlicher sein als der Mars, von dessen Besiedlung sich ein paar kindische Geschäftsmänner Rettung erhoffen.“[2]
Wurzelgeflecht
Mich hat in dem Buch über die „Neuen Protestformen“ sehr die Metapher vom Myzel angesprochen, vom Wurzelgeflecht, von den vielen feinen Fäden, durch die Pilze unter dem Waldboden verbunden sind. Selbst dort, wo man keine Fruchtkörper sieht, lebt der Pilz unter der Oberfläche. Die Metapher vom Myzel erinnert daran, dass wir unser Überleben anderen schulden und es nur im Austausch miteinander möglich ist. „Pilze sind so wild und dicht verbunden wie ein neuronales Netzwerk, sie trachten einander nicht nach Leib und Leben, sondern teilen es.“[3]
Natürlich gibt es in der Pflanzenwelt auch parasitäre Vernetzungen, Pflanzen, deren Wurzelverbindungen ihren Wirt zerstören. Doch die Pilze sind nicht nur untereinander verbunden, sondern ihre Vernetzungen sind darüber hinaus lebendige Kommunikationsstrukturen in einem funktionierenden Ökosystem „Wald“. „Die an die Baumwurzeln anlagernden Pilzfäden schließen Spurenelemente und Nährstoffe auf, die die Bäume allein gar nicht aufnehmen könnten. Dafür spülen die Bäume Zucker, den sie per Photosynthese gewinnen, zurück zu den Pilzen, die ohne diesen Nährstofffluss nicht leben könnten.“[4]
Wir sind frei, uns zu entscheiden
Die neuen Protestformen lassen sich nicht organisieren, sie ploppen von unten auf, so wie Pilze im warmen Regen. Das ist kein Naturereignis. Wir Menschen sind keine Pilze, wir sind nicht einfach durch ein evolutionäres Programm bestimmt, auch nicht zum alternativlosen Raubtierkapitalismus verdammt. Wir sind frei, uns zu entscheiden, ob wir weiter parasitär leben wollen oder ob wir radikal umkehren wollen zu wahrhafter „Katholizität“, die alle und alles einschließt, in lebendigem Nährstofffluss mit allen Menschen und allem Lebendigem. Wollen wir weiter bei mörderischen Praktiken wegschauen oder ihnen mutig mit unserer Stimme und unseren Körpern Einhalt gebieten?
Dass dies kein von oben angeordneter oder organisierter Protest ist, gibt mir Hoffnung. Zu viele frustrierte Heilsversprechen sind von oben gekommen haben unsägliches Leid über Menschen gebracht. Und doch schaffen es die Exponenten des politischen Populismus immer und immer wieder sich als Messias zu inszenieren. Ihre Trollfarmen eröffnen ihnen von den Faschisten der Vergangenheit ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation und Propaganda. „Erlösung kommt von unten“ formuliert Jon Sobrino. Und je länger, je mehr stimme ich ihm zu Es ist die schlichte Weihnachtsbotschaft. Ellacuría formuliert es zehn Tage vor seiner Ermordung so: „Nur utopisch und hoffnungsvoll kann man glauben und den Mut haben, mit allen Armen und Unterdrückten der Welt zu versuchen, die Geschichte umzukehren, sie zu unterlaufen und in eine andere Richtung zu lenken.“[5]
Revolution von unten
Die „Revolution für das Leben“ ist kein heroischer Akt einsamer Pioniere. Sondern so etwas wie üppiges Myzel, das sich zwischen allen, die den Aufstand wagen, entwickelt. Wesentlich ist die vitale Beziehung, die sich wechselseitig ermutigt, stärkt, Ressourcen teilt und gemeinsam Strategien entwickelt. Es ist eine lebendige und deshalb unkontrollierbare Vernetzung. Dabei wird uns hoffentlich auch endlich die katastrophale Arroganz und die tödliche Dynamik der Annahme aufgehen, der globale Norden hätte die Konzepte der Lösung für die Probleme unseres Planeten und der globale Süden müsste nur erst auf unser Entwicklungsniveau kommen. Die Ressourcen indigener Traditionen sind vielmehr die, die das Überleben der Menschheit retten können, wir sind auf sie angewiesen.
Revolutionen beginnen von unten. Inmitten eines vielleicht widrigen Kontexts können wir anfangen lebensfreundliche Beziehungsformen einzuüben, wohlgemerkt in der Form des Myzels. Ihr seid gesegnet, wenn ihr rebellische Schwestern und Brüder in der Nachfolge des Rebellen Jesus in euren Reihen habt. Junge und alte, die sich mutig und ohne Berührungsängste dorthin wagen, wo Leben in Gefahr ist, wo verlorenes Leben betrauert wird, aber auch wo heute das Leben pulsiert. „Die Welt wahren in wilder Verbundenheit“, bringt es die Autorin, deren Buch mich inspiriert, auf den Punkt.
Lasst uns die Welt wahren in wilder Verbundenheit!
Martha Zechmeister CJ ist Professorin für Systematische Theologie an der Universidad Centroamericana (UCA) in El Salvador.
[1] Die „Congregatio Jesu“ (früher: „Englische Fräulein“), der Martha Zechmeister angehört, wurde von Mary Ward mit der Intention gegründet, einen weiblichen Jesuitenorden zu schaffen.
[2] Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt/M. 2020, 140 (zitiert nach dem E-book).
[3] Redecker, Revolution für das Leben, 229.
[4] Redecker, Revolution für das Leben, 231.
[5] Ignacio Ellacuría, El desafío de las mayorías pobres, Diskurs gehalten am 6. November 1989 in Barcelona.
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