Der Anti-Missbrauchsgipfel ist abgeschlossen. Barbara Haslbeck und Erika Kerstner von der Initiative Gottessuche begeben sich in die Rolle von Prozessbeobachterinnen und wenden sich in einem Brief aus der Perspektive Betroffener an die Bischöfe.
Lieber Papst Franziskus, liebe Bischöfe beim Anti-Missbrauchs-Gipfel in Rom!
Vier Tage habt Ihr in Rom zusammen getagt und wir konnten Euch per Livestream zuschauen. Toll war das, wie wir die drei Tage Eurer inhaltlichen Auseinandersetzung im Internet mitverfolgen konnten: Das Programm stand online und täglich wurden aktuelle Beiträge auf der Homepage eingestellt.
Wir schreiben Euch als Mitglieder der ökumenischen Initiative „Gottessuche“, die Menschen mit Missbrauchserfahrungen begleitet und vernetzt . Als Prozessbeobachterinnen wollen wir Euch ein paar Eindrücke zu Eurem Anti-Missbrauchs-Gipfel schildern:
Wie jede andere Institution auch
Ihr habt jedem Tag eurer Zusammenkunft ein eigenes Thema gegeben: Verantwortung, Rechenschaft und Transparenz. Es erstaunt uns, wie im Mittelpunkt drei Begriffe standen, die völlig unkirchlich sind. Wie jede andere Institution auch stellt Ihr euch zentralen Anforderungen an ein Unternehmen, das glaubwürdig sein will. Im Livestream konnten wir die Vorträge hören, doch leider wurden wir ausgeschaltet, wenn es spannend wurde: Es ist doch so, dass Ihr nach den Vorträgen miteinander diskutiert habt, oder? Ja, wir wissen, dass Ihr dafür einen geschützten Raum braucht, aber interessieren würde es uns schon, wer spricht und wie Ihr miteinander sprecht. Bei Bundestagsdebatten zu wichtigen Themen ist die Diskussion ja meistens auch spannender als das Hochglanzreferat.
Endlich sind nun die Frauen dran
Wenn wir in Eure Runde schauten, waren etwa 5% der Anwesenden weiblich. Klar, das liegt in der Natur der Sache, doch spiegelt diese Situation natürlich eine Seite des Problems, das die katholische Kirche mit dem Missbrauch hat. Wir wollen auch nicht übersehen, dass drei von neun Vorträgen von Frauen gehalten wurden. Manche nennen das „Quoten-Frauen“. Wir wollen da gar nicht zu kritisch sein und herausstellen: Dass die Umkehr aus der Missbrauchskrise maßgeblich durch den Beitrag von Frauen geschehen wird, halten wir für sehr realistisch.
Die Entwicklungen der letzten Wochen halten wir für eine große Chance: Endlich sind nun die Frauen dran. Dass durch Missbrauch in der Kirche auffallend viele Jungen und männliche Jugendliche Opfer werden, ist eine empirisch fassbare Tatsache. Weibliche Betroffene verschwanden vielfach hinter dieser Auffälligkeit. Nun ergreifen zunehmend auch Frauen mit Missbrauchserfahrung das Wort und setzen sich über die Fühllosigkeit androzentrischer Hierarchie in Kirchen und Gesellschaft hinweg.
Gespräche mit Betroffenen als Zulassungsanforderung
Besonders interessant fanden wir die Zulassungsanforderung zum Gipfeltreffen: Alle Teilnehmenden sollten im Vorfeld des Treffens Gespräche mit Betroffenen führen. Einige Bischöfe stellten eine Video-Aussage auf der Homepage zur Verfügung, in der sie über ihre Eindrücke aus den Gesprächen mit Betroffenen berichten:
https://www.pbc2019.org/media/video-testimonies
Nach wie vor gibt es ja viele Vorbehalte und Ängste vor Menschen mit Missbrauchserfahrung. Diese könnten zu gebrochen, zu instabil, zu wütend und zu einseitig sein, um als Gegenüber ernstgenommen zu werden. Die Begegnung mit Betroffenen trägt dazu bei, diesen diskriminierenden Klischees realistische Erfahrungen entgegen zu setzen. Gut, dass Ihr euch dieser Erfahrung aussetzen konntet.
Sich aussetzen
In der Entwicklungszusammenarbeit gibt es schon lange sogenannte „Exposure-Programme“. Da begeben sich Entscheidungsträger*innen in die Welt der Ausgegrenzten und Armen, um deren Alltagsrealität mit Haut und Haar kennen zu lernen. Wir erleben, dass sich für Menschen mit Missbrauchserfahrung dann etwas positiv verändert, wenn sich Menschen in ihrer Umgebung ihren alltäglichen und oft lebenslangen Nöten aussetzen. Betroffene brauchen Begegnungen, die nicht zu sprachloser Betroffenheit, frommen Pflastern und erwartbaren Gesten – im kirchlichen Raum meistens liturgisch – führen, sondern zu Gesprächen auf Augenhöhe. Dazu gehört, dass Kleriker nicht monolithisch da sitzen und nur empathisch nicken. Gefragt ist ein echtes Einlassen, das Gefühle von Scham, Schuld und Beschmutzung zulässt.
Spüren und Handeln ohne klerikale Berufsdeformation
Ein Beispiel: Es beeindruckte uns, als Kardinal Schönborn im BR-Gespräch mit Doris Wagner erzählte, wie er selbst einem übergriffigen Priester ausgesetzt war. Es schadet nicht, sich selbst zu reflektieren und ohne klerikale Berufsdeformation auch schwierige Gefühle zuzulassen. Betroffene brauchen authentische Menschen, die den Skandal des Missbrauchs spüren und in Worte bringen können. Auf diese Weise können sich auch institutionelle Strukturen verändern, indem Entscheidungsträger*innen die Perspektive Betroffener inklusiv mitdenken.
Das Zuhören muss Folgen haben
Lieber Papst Franziskus, Du betontest in Deiner Abschlussansprache, wie wichtig es ist, den Opfern zuzuhören: „Zeit zu verschwenden beim Zuhören“. Das stimmt, doch das allein reicht nicht. Das Zuhören muss Folgen haben, die sich durch alle Bereiche der Institution ziehen. Für Betroffene ist es quälend und frustrierend, sich zu öffnen und dann festzustellen, dass das Gegenüber mit dem betroffen geneigten Haupt zum Alltagsgeschäft über geht.
Die Versuchung, sich auf die Seite des Täters zu schlagen
Wenn wir per Livestream in die große Runde der 190 Versammelten schauten, wurde uns klar: So unterschiedlich wie Ihr alle seid, wird es nicht leicht werden, an einem Strang zu ziehen. Uns ist klar, dass es mehr als Gut und Böse gibt, dass die Kontexte und Kulturen weltweit unterschiedlich sind und ein schneller Aktionismus zu Fehlschlüssen verleitet. Gerne gestehen wir Euch zu, dass Ihr Zeit braucht. Bange wird uns nur, wenn wir den Verdacht schöpfen, das Treten auf der Stelle diene einem Zweck: dem, sich der Verantwortung für die geschehenen und weiter stattfindenden Verbrechen zu entziehen.
Einige Bischöfe haben die Erschütterung zugelassen und sind bereit zu handeln. Andere finden Gründe, weshalb sie das Ganze nicht so wirklich angeht. Damit tappen sie in eine Falle, die die Traumaforscherin Judith Lewis Herman bereits vor fast 30 Jahren beschrieb: „Die Versuchung, sich auf die Seite des Täters zu schlagen, ist groß. Der Täter erwartet vom Zuschauer lediglich Untätigkeit. Er appelliert an den allgemein verbreiteten Wunsch, das Böse nicht zu sehen, nicht zu hören und nicht darüber zu sprechen. Das Opfer hingegen erwartet vom Zuschauer, daß er die Last des Schmerzes mitträgt. Das Opfer verlangt Handeln, Engagement und Erinnerungsfähigkeit.“ (Herman, Die Narben der Gewalt, Droemer Knaur 1994)
Eine kopernikanische Wende für die Kirche steht an
Wenn es tatsächlich so ist, wie der australische Erzbischof Mark Coleridge in der Abschlusspredigt sagte, dass eine kopernikanische Wende für die Kirche ansteht, dann beeilt Euch. Denn wir erleben schon viel zu lange, dass sich die Kirche nur um sich selbst dreht.
Ein offenes Ohr und ein hörbereites Herz wünschen Euch in der Hoffnung auf Eure weiteren Bemühungen um eine Kirche, in der Menschen Sicherheit erleben und sich auf Augenhöhe begegnen!
Barbara Haslbeck und Erika Kerstner
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Barbara Haslbeck und Erika Kerstner sind Mitglieder des Teams der Ökumenischen Initiative Gottessuche. Diese bietet Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und Halt im christlichen Glauben suchen, seelsorgliche Begleitung an.
Beitragsbild: Offizielles Logo des Treffens zum Schutz der Minderjährigen in der Kirche.