Vor allem in der protestantischen Theologie wird die Liebe zum Nächsten groß-, die zu sich selbst eher kleingeschrieben – zumindest lange Zeit. Zeit, etwas mehr Komplexität in die Sache zu bringen, so Kinga Zeller.
In protestantischer Theologie wurde der Zusammenhang von Selbst- und Weltverhältnis oft übersehen und „Selbstliebe“ als ein Synonym für „Egoismus“ verwendet. Mittlerweile hat sich in diesen Bereichen ein höheres Komplexitätsbewusstsein durchgesetzt. Was daraus folgt, ist höchst individuell, und daher besteht Grund genug, ein Mal für sich selbst eine Verortung vorzunehmen.
Ein Segen, wenn das Fest der Liebe ein Fest der Liebe war.
Ein Kollege schrieb mir vor einiger Zeit eine Mail, die mit der Hoffnung begann, dass es mir „in der kritischen Zeit im Advent“ gut gehe. Ich musste lächeln. Viele verbinden mit dem Advent die ruhige Zeit des Jahres, Weihnachtsmarktbesuche, Weihnachtsfeiern, heiße Getränke, festliches Dekorieren, und vieles Gemütliche mehr. Für die meisten von uns ist das mittlerweile mehr Wunsch als Realität. Denn zu allem oben genannten kommen allerhand berufliche Anforderungen, die noch vor den Feiertagen bearbeitet werden müssen und den – oft ohnehin schon bedenklich hohen – Stresspegel weiter ansteigen lassen. Privat wiederum sind die Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest keinesfalls immer nur von Vorfreude getragen und können genug Menschen ein Lied nicht nur von der „stillen Nacht“ singen, sondern auch von den Streitigkeiten und Spannungen sowie von der Erschöpfung, die sie dorthin gebracht haben. Ein Segen, wenn es anders war und wenn das Fest der Liebe als solches gefeiert wurde!
Nun sind Advent und Feiertage vorbei. Die folgende Zeit zwischen den Jahren ist vielleicht die eigentliche Zeit, in der die Anforderungen uns eine Pause geben und wir ein wenig Ruhe finden. Es ist eine Gelegenheit sich zu fragen: Wie liebevoll war ich eigentlich an diesem Fest der Liebe zu meinen Mitmenschen – und zu mir selbst?
Wie liebevoll war ich eigentlich an diesem Fest der Liebe zu meinen Mitmenschen – und zu mir selbst?
Vor allem in der protestantischen Theologie wird die Liebe zum Nächsten groß-, die zu sich selbst eher kleingeschrieben. Martin Luther und viele Theolog*innen nach ihm forderten immer wieder, das eigene Wohl, Wünsche und Bedürfnisse für die des Nächsten hintenanzustellen, und setzten Selbstliebe mit Egoismus und Selbstsucht gleich. So verstanden wurde Selbstliebe der Ausdruck für Sünde schlechthin, weil sie unsere Beziehungsfähigkeit stört, indem sie dafür sorgt, dass wir nur um uns selbst kreisen, statt offen für Gott und unsere Mitmenschen zu sein.
…Selbstliebe der Ausdruck für Sünde schlechthin…
Ob Selbstliebe tatsächlich ihren Ausdruck in Egoismus und Selbstsucht findet, wurde schon mehrfach und mit guten Gründen bezweifelt. Nichtsdestotrotz hat der Gedanke eine wahre Pointe: Gerade mit Blick auf unsere angeblich immer egoistischer werdende Gesellschaft und global vor allem mit Blick auf unsere ökologischen und damit verbundenen sozialen Krisen stünden uns mehr Selbstbeschränkung und Rücksichtnahme auf unsere menschliche wie nicht-menschliche Mitwelt gut zu Gesicht.
Gleichzeitig machen feministische und postkoloniale Theolog*innen schon seit den 60er Jahren darauf aufmerksam, dass keineswegs nur der egoistische Mensch die Beziehung zu Gott und seiner Mitwelt verfehlt, sondern auch der Mensch, der sich kleiner macht, als er ist. Ein solcher Mensch traut sich Beziehungen auf Augenhöhe nicht zu und bringt sich auch nie mit allen seinen Potenzialen, Fähigkeiten und Ideen ein. Es sind ungehobene Schätze, die hier keine Entfaltung finden und verloren gehen.
Auch wer sich kleiner macht, als er ist, verfehlt die Beziehung zu Gott und seiner Mitwelt.
Ebenso ist es problematisch, wenn jemand sich stetig für andere aufopfert, immer nur gibt, sei es Zeit, Aufmerksamkeit oder unentgeltliche Arbeitskraft, aber selbst nichts oder nur vergleichsweise wenig annehmen kann. Damit wird die für gelingende Beziehungen laut sozialanthropologischen Studien so wichtige Wechselseitigkeit unterschlagen. Die Folge sind Beziehungsstörungen, die von passiv-aggressiven Spannungen bis schließlich zum Beziehungsabbruch reichen können. Die guten Absichten, in denen auch Menschen, die selbst keine guten Empfänger*innen sind, gerne geben, werden unkenntlich und erreichen ihre Ziele nicht.
Sowohl beim Klein-Machen als auch beim einseitigen Geben ist es kein Zuviel an (vermeintlicher) Selbstliebe, sondern ein Zuwenig, das uns von Gott und unserer Mitwelt trennt. Eine generelle Verteufelung von Selbstliebe übersieht zudem den grundlegenden Zusammenhang zwischen unserem Verhältnis zu anderen und unserem Verhältnis zu uns selbst.
Früh wird unser Selbst- und Weltverhältnis (vor)geprägt.
Entwicklungspsychologisch ist das längst bekannt: Wie wir uns selbst und die Welt sehen und verstehen, wird entscheidend davon geprägt, wie unsere Bezugspersonen uns gesehen und verstanden haben. Waren wir beispielsweise der Sonnenschein unserer Eltern und bekamen wir viel liebevolle Aufmerksamkeit, halten wir uns tendenziell für gute, wertvolle Menschen (denn genau das suggerierten uns unsere Eltern) und begegnen unseren Mitmenschen mit einer positiven Grundeinstellung. Umgekehrt halten wir uns tendenziell für schlecht und wertlos, wenn unsere Bezugspersonen sich nur wenig um uns und unsere Bedürfnisse gekümmert haben, und hegen unseren Mitmenschen gegenüber Misstrauen. Das Selbstverhältnis spiegelt sich im Weltverhältnis. Insofern bringt eine Veränderung in Ersterem auch eine Veränderung in Letzterem mit sich.
Wir finden den Zusammenhang zwischen Selbst- und Weltverhältnis aber auch ganz eindrücklich und situativ in unserem Alltag: Umso gestresster wir sind, desto weniger Geduld haben wir mit unseren Mitmenschen. Umso unsicherer wir uns in einem Umfeld fühlen, desto schwerer fällt es uns, das Verhalten anderer wohlmeinend zu deuten. Umso erschöpfter wir sind, desto unzureichender können wir für andere da sein.
…zwischen äußeren Umständen und Eigenverantwortung…
Stress, Unsicherheit, Erschöpfung, und was dergleichen mehr ist, sind nur bedingt Resultate einer mangelnden Selbstfürsorge oder -liebe. Oft sind es äußere Umstände, die hier ihren Tribut fordern, und ist es verkehrt, die Verantwortung dafür nur bei der individuellen Person zu suchen. Ebenso verkehrt wäre es aber, hier jede Eigenverantwortung abzustreiten. Ich bleibe trotz aller Widrigkeiten für mein Wohlbefinden verantwortlich, dafür, meine Bedürfnisse, Wünsche und auch Grenzen zu kennen, sowie dafür, sie bei Bedarf zu benennen und gegebenenfalls für sie einzustehen. All das muss kein Egoismus sein, solange ich darüber meine Mitwelt nicht aus den Augen verliere, sondern mich respektvoll auch zu den mir dort begegnenden Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen verhalte.
Zeit zum Innehalten – und nachjustieren
Den*die Nächste*n zu lieben und noch dazu wie sich selbst zu lieben, also auch sich selbst zu lieben (aber eben weder mehr noch weniger), ist keine einfache Aufgabe. Sie erfordert, dass wir unser Selbst- und Weltverhältnis immer wieder kritisch auf den Prüfstand stellen, die jeweiligen Bedürfnisse unserer Mitmenschen und unsere eigenen Grenzen (er)kennen, dass wir von Zeit zu Zeit innehalten und nachjustieren.
Daher bleibt die Frage: Wie liebevoll war ich eigentlich an diesem Fest der Liebe und in der Adventszeit, die zu ihm hinführte, zu meinen Mitmenschen und auch zu mir selbst? Und wenn mir die Antwort nicht gefällt: Was kann ich im neuen Jahr anders machen, um sie zu ändern?
Kinga Zeller, PhD, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel.
Beitragsbild: Michael Fenton, unsplash.com