Events und Festivals boomen – auch im religiösen Bereich. Was können solche Großevents? Drei Mitarbeitende der Erzdiözese München-Freising, Dr. Hannah Judith, Andres Sang und Dr. Florian Schuppe, teilen ihre Erfahrungen.
Lichtshows, deren Teil man dank LED-Armbändern selbst wird, eine Menge “eingeschworener” Fans, Stars die einfliegen und für einen kurzen Moment in fein orchestrierten Auftritten nahbar werden. Das scheint eine der großen Sehnsüchte dieses Sommers gewesen zu sein: Olympia, EM, volle Arenen – aber auch evangelikale Christ:innen, die in der Münchener Olympiahalle bei Taylor Swift und Co beten und tausende Jugendliche aus den Diözesen, die nach Rom pilgern. Was geschieht da? Und welche Rolle spielen religiöse Events in all dem?
Was „können“ religiöse Großevents?
Die Zunahme einer religiösen Eventarisierung ist nur ein kleiner Teil eines Gesamtreigens. Und doch: Es zeigt sich immer mehr, welch wichtige Rolle solche Großevents für das zeitgenössische Gesicht auch des Christentums spielen. In den folgenden Zeilen wollen wir deshalb aus unserer individuellen Perspektive Erfahrungsberichte und Gedanken zu religiösen Großevents verschiedenster Couleur beitragen. “Wir”, das sind Mitarbeitende der römisch-katholischen Kirche im Erzbistum München und Freising, die in der letzten Zeit entweder über ihre Tätigkeit in der Jugendarbeit oder aber über den Auftrag, ökumenische Kontakte zu pflegen und anderskonfessionelle „Events“ einzuordnen, mit dem Phänomen „religiöse Eventarisierung“ in Kontakt gekommen sind. Im gemeinsamen Austausch haben wir uns auf der Basis unserer Erfahrungen gefragt: Was „können“ religiöse Großevents? Welche Motivationen und Prägungen stehen – je nach Veranstalter – im Hintergrund? Wo ist die gegen etliche religiöse Events (insbesondere aus dem charismatisch-freikirchlichen Spektrum) hervorgebrachte Kritik berechtigt, wo geht sie fehl? Wo also liegen spezifische Chancen, das spätmoderne Phänomen “Großevent” religiös zu bespielen, wo liegen aber auch spezifische Gefahren und rote Linien?
UNUM 24 – Beobachtungen zwischen Begeisterung und Fragezeichen
Wir starten unsere Reise in der Münchner Olympiahalle. Hier fand im Juli 2024 mit „UNUM 24“ eines der größten evangelikal-charismatischen Events in diesem Jahr statt. Im Mittelpunkt stand – so wurde das Ereignis, zu dem ca. 10.000 Gläubige aus dem ganzen deutschsprachigen Raum anreisten beworben – eine intensive Erfahrung der Einheit und des gemeinsamen Gebetes. Andreas Sang[1] nimmt uns mit in die ganz spezielle Atmosphäre:
Ein getakteter Ablaufplan und zugleich emotionale Begeisterung – das ist hier der Schlüssel zu einem Gemeinschaftserlebnis.
„Noch nie bin ich so freundlich und offen in der Olympiahalle begrüßt worden wie bei ‚Unum‘: Eine junge Frau zeigt mir wo ich mich setzen darf, wo ich was finde, hält Blickkontakt und lächelt mich durchgehend an. Viele Gesichter sind jung und schön, alle sehen einander liebevoll an und an den Getränkeständen gibt es keinen Alkohol, warum auch. Zu Beginn wird gesungen, der Bass und das Licht sind aufeinander abgestimmt, es wird mit geschlossenen Augen getanzt, die Hände reflexartig gen Himmel gestreckt. Ein Speaker tritt auf und um mich herum sind die Hände nicht mehr in der Luft, sondern halten Kuli und Notizbuch. 47 Minuten und 30 Sekunden wird mitgeschrieben, gelauscht und bewundert. Am Ende des Vortrags gibt es keinen Applaus, sondern ein Gebet von Musik untermalt. Die Hände gehen wieder hoch und die Augen sind wieder geschlossen und auf Zuruf wenden sich alle ihren Nachbarn zu, nehmen einander in den Arm und beten füreinander, so wie es im genau getakteten Ablaufplan der künstlerischen Leitung steht. Choreografierte Offenheit für das Wirken des Hl. Geistes – dem man sich bei der Musik und dem Licht nur schwer entziehen kann.”
Ein getakteter Ablaufplan und zugleich emotionale Begeisterung – das ist hier der Schlüssel zu einem Gemeinschaftserlebnis. Das passt in das Gesamtsetting: Vor der Halle feuern in der EM-Fanzone Tausende Ihre Mannschaften an und ordnen sich ebenso der Gemeinschaft unter, die sie anregt und begeistert. Im Blick auf UNUM 24 löst diese getaktete Ordnung und die Frage, ob in alldem auch Platz für eine kritische Reflexion und inhaltliche Grautöne bleibt, jedoch kritische Angst aus: Am zweiten Tag des Festivals, an dem mit Bill Johnson einer der wichtigsten Unterstützer Donald Trumps predigt und um Heilung betet, demonstriert eine Gruppe aus der queeren Szene. Sie weist auf die homophoben Aussagen einiger Redner hin und fordert von der Stadt ein Verbot der Vermietung an solche Gruppen. Die Zeitungen berichteten schon Tage zuvor, sogar die Stadtspitze positioniert sich klar kritisch. Offenbar lässt das Event keinen emotional kalt.
Ministrant:innenwallfahrt – Begeisterung und Raum für Grautöne?
Szenenwechsel – ungefähr 1000 Kilometer weiter südlich in der Stadt, die wie wenige andere auf religiöse Großevents spezialisiert ist: Rom. Um die 5000 Jugendliche haben sich im Juli allein aus dem Erzbistum München und Freising auf den Weg in die ewige Stadt gemacht und dort – ebenso wie junge Menschen aus den anderen deutschen Diözesen – Tage verbracht, die gespickt waren von religiösen Events. Auch hier viele dichte Gemeinschaftserfahrungen, große Gottesdienste und als einer der Höhepunkte eine Begegnung mit Papst Franziskus auf dem Petersplatz. Die Reaktionen, so schildert Clara Schönfelder[2], sind dabei ganz unterschiedlich:
„Vieles, was dazwischen lag“
„Höhepunkt war die Papstaudienz auf dem Petersplatz. 54000 Jugendliche, die bei sengender Hitze auf das Erscheinen des Papstes warteten. War es Teil einer so enormen Menge an Menschen zu sein oder die Aura, die den Papst und sein Amt umgibt? Aus einer müden und überhitzten Masse wurde ein euphorischer Jubelchor und die Jugendlichen überlegten, ob sie den Papst lieber berühren oder ein Selfie mit ihm machen wollen würden und wo wäre die Chance dafür wohl am größten? Für andere war ein Schattenplatz deutlich wichtiger als ein Bild mit dem Papst oder das, was der Papst der Jugend in seiner Ansprache zu sagen hatte. Beides hatte seinen Platz und seine Berechtigung in Rom, sowie vieles was dazwischen lag.“
„Vieles, was dazwischen lag“ – vielleicht ist das eine Stärke der eventerfahrenen katholischen Kirche!? Vielleicht markiert das einen Unterschied zum geschlossen Event- und Gruppencharakter, den wir bei UNUM erlebt haben!? Zugleich stellt sich die Frage, ob unsere „eigenen“ Events nicht manches Mal über ein „anything goes“ auch den Mut verlieren, der Erfahrung von Verbindlichkeit Raum zu geben und so orientierende Glaubensorte im besten Sinne vorzudefinieren und anzubieten.
Aus Erfahrungen lernen – mit der gebotenen kritischen Distanz und der gebotenen Offenheit
Die Erfahrungsberichte zeigen jedenfalls: Religiöse Bindung und Spiritualität profitiert von Gemeinschaftsereignissen und vom Gefühl der Zugehörigkeit. Und solche Beziehungsmarker gehen per se Hand in Hand mit Emotionen und konkretem Erleben. Sicher ist es das, was religiöse Events in spätmodernen Individualgesellschaften leisten können. Gerade in Zeiten stark individueller und individualisierter Religiosität profitieren religiös Suchende (insbesondere junge Menschen) von einem gelungenen Wechselspiel zwischen starkem Gruppenerleben und zugleich einer individuellen, persönlichen Ansprache.
Differenziert, fair und chancenorientiert auf das Zusammenspiel von Eventarisierung, Emotionalisierung und kollektiven Mechanismen blicken.
Bestenfalls entstehen dann “temporäre Kraftorte”, die immer wieder betreten und (gestärkt) wieder verlassen werden können. Bestenfalls gilt die Zusage eines beziehungsbasierten Erlebens dann gleichermaßen für “eingefleischte Gruppenmitglieder” genauso wie für zeitlich begrenzt hinzukommende Interessierte. Bestenfalls lassen die Formate viel Raum, das mitzunehmen, was individuell weiterbringt und stärkt, aber auch kritisch zu hinterfragen und sein zu lassen, was einem nicht passt.
Es gilt also – bei der Beurteilung „fremder“ ebenso wie „eigener“ Veranstaltungen –, einen Fragehorizont an den Tag zu legen, der differenziert, fair und chancenorientiert auf das Zusammenspiel von Eventarisierung, Emotionalisierung und kollektiven Mechanismen blickt. Unsere Erfahrungen in der externen Beobachtung des UNUM-Festivals ebenso wie in der Begleitung und Verantwortung für Jugendliche vor, während und nach der Romwallfahrt verweisen dazu auf folgende erste Fragehorizonte und Orientierungspunkte:
- Will das Veranstaltungskonzept ein Angebot machen, sich berühren zu lassen, oder “muss” ich berührt sein? Wie also werden konkret Räume geschaffen, in denen sich Menschen berühren lassen können, ohne dass diese Berührung übergestülpt, vordefiniert und als zwingend für die Zugehörigkeit vermittelt wird?
- Wie steht es bei dem jeweiligen Event um das Verhältnis zwischen Emotionalität und Rationalität in den inhaltlichen Beiträgen und vermittelten Überzeugungen? Klar ist: Religiöse Formen der Versammlung und Inhaltsvermittlung brauchen Emotionen – sie sind intrinsischer Teil unseres Christentums, ja unseres beziehungsbasierten Gottesbildes! Zugleich stehen wir in einer Tradition, die immer auch nach dem rationalen Austausch und der Reflexion von emotional erlebten Erfahrungen verlangt.
- Schließlich lohnt sich daher immer ein Blick auf die religiöse Sprache, die wir selbst oder andere im Eventkontext verwenden: Fällt sie in eines der beiden oben analysierten Phänomene entweder der emotionalen Entrücktheit oder der personalisierenden Vereinnahmung? Positiv gesprochen: Schafft es die verwendete religiöse Sprache, eine emotional gewinnbringende Zugänglichkeit der Inhalte zu schaffen, bei der sie zugleich offen bleibt und sich auf diese Weise “traut” Gott selbst ebenso wie der Interpretations- und Reflexionskraft des Einzelnen Raum zu geben?
Unser Mini-Fragekatalog verweist auf den Knackpunkt beim kritischen Blick auf christliche Großevents. Es wird deutlich, dass der in den Fragen definierte „Idealraum“ fragil sein kann und immer auch droht, in bedenkliche Richtungen zu kippen. Aus einer kraftvollen Gruppenerfahrung kann schnell auch ein exklusives Modell der Zugehörigkeit im Sinne eines “Innen-Außen-Konzepts” werden. Und aus einer beeindruckenden, emotionalen Begegnung und Ahnung von Gott kann schnell auch eine rationalitätsverneinende Emotionalisierung werden.
Lernen wir von Anderen und aus unseren eigenen Erfahrungen.
Eine jeweilige Beurteilung wird jedoch nur dann gelingen, wenn man sich als Verantwortungsträger:in selbst auf ein Erleben einlässt – keine der obigen Fragen wird ansonsten adäquat beantwortet und keine Veranstaltung bewertet werden können. Wer also ernsthaften ökumenischen Kontakt sucht, oder wer sich ehrlich um die Weiterentwicklung von Events gerade im jungen Zielgruppenspektrum bemühen will, den:die können wir nur ermutigen: Keine falsche Scheu vorm Hinsehen und Hingehen! Lernen wir von Anderen und aus unseren eigenen Erfahrungen, um zu sehen, welche Form des Events heute echte religiöse Mehrwerte liefert, ohne in übergriffige Emotionalisierungen oder völlig belanglose Beliebigkeiten abzudriften. Schließlich geht es angesichts eines beziehungsbasierten Gottglaubens nicht um weniger, als attraktive Räume der Begegnung mit Gott und dem Nächsten zu schaffen!
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[1] Andreas Sang ist Pastoralreferent und leitet die Jugendpastoral im Dekanat München Nord-West. Zudem ist er Delegierter des Erzbistums München und Freising in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Bayern. Gemeinsam mit Florian Schuppe und Hannah Judith aus dem Fachbereich Ökumene (ebenfalls Autor:innen dieses Textes) und weiteren Mitarbeiter:innen aus der diözesanen Jugend- und Ökumenearbeit hat er das Festival UNUM 24 als Beobachter besucht.
[2] Clara Schönfelder ist Pastoralreferentin und leitet die Jugendpastoral im Dekanat München Mitte. In dieser Funktion war sie Teil des Teams der Romwallfahrt im Erzbistum München und Freising.
Andreas Sang ist katholischer Theologe mit Studienschwerpunkt in Spiritualitätsgeschichte. Pastoralreferent (PV Unterhaching). 2014 geistlicher Leiter des größten katholischen Jugendverbandes (DPSG) ED München/Freising. In dieser Funktion hat er religiöse Großveranstaltungen geplant und durchgeführt. 2022 berufen in die Diözesankommision für Ökumene. Seit 2024 delegiert in die AG christlicher Kirchen Bayern. Aktuell: Leiter der Jugendpastoral im Dekanat München Nord-West.
Dr. Florian Schuppe ist Pastoralreferent im EB München/Freising. Er leitet den Fachbereich Ökumene und ist Ansprechpartner für das Themenfeld Synodalität. Schwerpunkte: neben der Ökumene in den Bereichen kirchliche Transformationsprozesse und Innovation. Als Begründer des Hoffnungsvol(l)ks und des Netzwerkes Spurenleger ist er in vielen Zusammenhängen auch mit Partner:innen aus der charismatisch freikirchlichen Szene unterwegs.
Dr. Hannah Judith ist Fachreferentin für Ökumene im EB Ordinariat München/Freising. In dieser Funktion ist sie immer wieder mit verschiedenen Partner:innen der Freikirchen in Kontakt und begleitet selbst ökumenische Gottesdienste und Events. Während ihres Aufenthalts am Theologischen Studienjahr in Jerusalem hat sie zudem erfahren, welche identitätsstiftende Bedeutung Großevents und religiöse Emotionalisierung auf internationaler, interkultureller Ebene in den verschiedensten Ausprägungen des Christentums aber auch in den anderen abrahamitischen Religionen spielen.