Der Synodale Weg in Deutschland arbeitet nicht an der Spaltung der katholischen Kirche, er sucht diese Spaltung vielmehr zu verhindern. Sollte er scheitern, drohen jene Kulturkämpfe im Katholizismus zu eskalieren, welche die protestantischen USA oder die Orthodoxie bereits spalten. Von Rainer Bucher.
In seinem Kern ist der Synodale Weg Deutschlands ein Prozess nachholender Entwicklung, der in den Feldern Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechterverhältnis(se), Rechtssicherheit und Gewaltenteilung sowie innerkirchlicher Ständeordnung seit längerem gesellschaftlich übliche wie auch theologisch gut legitimierte Standards endlich auch innerkirchlich zur Geltung bringen will. Anlass ist, wie bekannt, die unausweichlich gewordene Erkenntnis weit verbreiteten Machtmissbrauchs innerhalb der katholischen Kirche, der erst in heutigen, teil-säkularisierten Zeiten auch innerkirchlich (halbwegs) sanktionsfrei kommunizierbar wurde.
Nachholende Entwicklung
Auch in jenen Gegenden, wo die katholische Kirche noch die Macht hat, die kritische Diskussion ihres historischen wie aktuellen Machtgebrauchs zu verhindern, werden wohl bald jene Delegitimierungsprozesse einsetzen, die wir gegenwärtig in Deutschland und anderen liberalen Gesellschaften bereits erleben. Insofern hat der deutsche Synodale Prozess tatsächlich eine exemplarische Funktion – hoffentlich in seinem Gelingen und nicht in seinem Scheitern.
Das Ziel des Synodalen Prozesses ist die Schließung oder wenigstens Verringerung der gerade engagierte Katholik:innen belastenden kognitiven Dissonanz zwischen innerkirchlichen Realitäten sowie gesellschaftlichen (aber eben auch theologischen) Plausibilitäten. Dieser Prozess nachholender Entwicklung ist notwendig, aber noch nicht das Notwendige. Er ist eine Voraussetzung für das, was notwendig wäre, um der Kirche und ihrer Botschaft Gegenwart und Zukunft zu geben, aber natürlich noch nicht diese Zukunft selbst. Die katholische Kirche gleicht gegenwärtig einem Auto, dessen Bremsen multipel blockieren. So kommt man nur schwer voran. Es bleibt aber die Frage: Wohin soll der Weg gehen – und wie findet man ihn in den ziemlich unübersichtlichen Gegenden der Gegenwart?
Kirche: Konkretionsraum der christlichen Botschaft
Die Kirche ist, wenn es gut läuft, vor allem eines: ein Konkretionsraum der christlichen Botschaft, ein immer prekärer, gefährdeter, aber eben auch realer und dichter Konkretionsraum des jesuanischen Ursprungsimpulses und seines jüdischen Hintergrundes. Nun ist unübersehbar, dass dieser Konkretionsraum aktuell immer weniger funktioniert.[1] Die Gründe hierfür liegen im Wesentlichen im Herrschaftswechsel zwischen Individuum und religiöser Institution in entwickelten liberal-kapitalistischen Gesellschaften: Nicht mehr die religiöse Institution herrscht über das Individuum und seine Biographie, sondern dessen biographischen religiösen Bedürfnisse, soweit vorhanden, definieren die situative Nutzung religiöser Orte, Traditionen, Praktiken und Diskurse. Hintergrund dieses Herrschaftswechsels ist die Ablösung ehemals religiöser Biographie- und Gesellschaftssteuerung durch andere Steuerungsinstrumente wie Geld, Recht, Medien und eine Selbstbestimmung favorisierende Moral.
Die bisherigen kirchlichen Konkretionsmechanismen des Christlichen – Sozialräume, Realräume, Traditionen, Sitten, Gebräuche, Normen, Architekturen, Ästhetiken, Frömmigkeitstraditionen und Diskurse der diversen theologischen und pädagogischen Ebenen – unterliegen daher aktuell einem fundamentalen Funktionswechsel: Ein Großteil der konkreten pastoralstrategischen Bemühungen besteht denn auch darin, diesen Wandel mehr oder weniger geschickt zu managen – und das unter den Bedingungen einer dafür nur partiell funktionalen Ekklesiologie und eines weitgehend dysfunktionalen Kirchenrechts.
Manifestes Defizit an Konkretionsräumen des Christlichen
Es besteht also aktuell ein manifestes Defizit an Konkretionsräumen des Christlichen und dies speziell im Bereich der individuellen Glaubenspraktiken. Es braucht mithin ein funktionales Äquivalent zu dem, was die Sozialform Kirche, gerade die katholische, früher als starker Konkretionsraum des Christlichen geleistet hat. In aller Vorsicht – denn allzu schnell schießen hier eigene projektive Sehnsüchte ein – sollen drei Vorschläge für jene Zeiten gemacht werden, in denen die kirchlichen Blockaden in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, Sexualmoral, Gewaltenteilung sowie innerkirchlicher Ständeordnung hoffentlich – nichts ist bislang sicher – halbwegs überwunden sein werden.
Diese Vorschläge orientieren sich an maßgeblichen Herausforderungen christlicher Existenz im Horizont einer globalen kapitalistischen Kultur: Gerechtigkeit, Freiheit und Sinn. Denn diese Kultur ist ungerechter, als sie propagiert, weniger freiheitsliebend, als sie vorgibt, und der Sinn, den sie vermittelt, ist sehr begrenzt.[2] Es ginge mithin um das Ausbuchstabieren der christlichen Botschaft in krisenhaften spätkapitalistischen Zeiten, um die Praxisrealität einer Kirche jenseits ihrer Konstantinischen Formation und um die paradigmatische Entwicklung von christlichen Lebens- und Existenzformen im kulturell hegemonial gewordenen Kapitalismus.
Weisheitliches Ausbuchstabieren der christlichen Botschaft
Wenn Katechismen geschrieben werden, ist das immer ein Krisenphänomen. In der anti-reformatorischen, autoritären Formation von Kirche haben Katechismen auch noch (halbwegs) normativ funktioniert. Unter Papst Johannes Paul II. wurden erneut Katechismen veröffentlicht: In den aktuellen Bedingungen funktionieren sie aber nicht mehr wirklich als Plausibilitätsquelle der christlichen Botschaft, eher als defensive Selbstversicherungsorte einer verunsicherten religiösen Institution.
Klassisch wird die christliche Botschaft in drei unterschiedlichen, sich idealerweise wechselseitig ergänzenden und inspirierenden Traditionsströmen vergegenwärtigt: in den vielfältigen Praktiken und Monumenten der Volksfrömmigkeit, in der (lehr-)amtlichen sowie der wissenschaftlichen Theologie und in spirituellen, weisheitlichen Texten und Praktiken. Während die Volksfrömmigkeit mit der Volkskirche ausdünnt (und diffundiert), die lehramtliche Theologie den intellektuellen Anschluss an das Denken der Gegenwart, die wissenschaftliche Theologie aber jenen an die Lebenspraktiken der Gegenwart zu verlieren droht[3], könnte die spirituelle Theologie jener Traditionsstrang sein, an dem noch am ehesten zu finden ist, was es heute braucht: das Ausbuchstabieren der christlichen Botschaft in ihrer Relevanz zur Bewältigung krisenhafter spätkapitalistischer Zeiten.
Konkret bedeutet das: Die Klassiker(-innen) christlicher Spiritualität aus allen Jahrhunderten und Traditionen der Christentumsgeschichte und auch die einschlägigen Autor:innen der Gegenwart müssten einen viel prominenteren Raum in den alltäglichen Praktiken der Kirche einnehmen: nicht als „Formierungselemente“ oder wie die alten Disziplinierungsbegriffe so lauten, sondern als Ort individueller (und darin aber gemeinschaftlicher) freier Entdeckung und Aneignung des weisheitlichen Schatzes unserer Väter und Mütter im Glauben. Er spielt an der Basis heute immer noch kaum eine Rolle und ist weitgehend nur religiösen Virtuos:innen und Selbstsucher:innen zugänglich. Es wäre aber die Aufgabe der Kirche, ihn breitflächig, niederschwellig und in unterschiedlichsten Formen zur Verfügung zu stellen.
Im Horizont radikaler Freiheit
Solange Freiheit in der katholischen Kirche „gesichert“, „errungen“ oder gar „verteidigt“ werden muss, ist alles zu spät. Kirche wird faktisch sowieso nur noch situativ und in freier Entscheidung genutzt, zum anderen aber gilt eben auch normativ: Nur als Freiheitsprojekt im Horizont von Gottes Gnade ist der Glauben und das Glauben überhaupt christlich zu denken und zu rechtfertigen.
Das bedeutet konkret: Alle Räume und Praktiken in der Kirche sind mit den Augen der anderen und ihres expliziten wie impliziten Freiheitsstrebens zu betrachten – und auf dieses Streben hin zu verändern. Das bedeutet den Abschied vom immer noch weit verbreiteten Gewährungspaternalismus, der das katholische Milieu bis in die letzten Fasern durchzieht und der in seinen guten Absichten gar nicht merkt, wie sehr er sich in einer Überlegenheit noch wähnt, die er schon lange nicht mehr besitzt.
Das klingt einfach und selbstverständlich, ist es aber nicht. Denn es ist ja zu beobachten, wie schwer es der katholischen Kirche fällt, jene Reste von Sanktionsmacht, die sie noch besitzt, freiwillig aufzugeben. Notwendig ist nicht nur, Mechanismen der Machtkontrolle und Machtteilung auf allen Ebenen einzuführen, wie es der Synodale Weg zu Recht fordert, sondern auch gleichzeitig multiple Vertrauensräume aufzubauen, in denen Unfreiheit kritisiert werden kann und freies Reden, Denken und Tun möglich ist.
Christliche Lebens- und Existenzformen
Solange in der katholischen Kirche Vorschläge für ein katholisches Leben gemacht werden, die nur unter den Bedingungen der partiellen Exkulturation aus der Gegenwart nachvollzogen werden können, entsteht notwendig ein Vakuum an christlicher Traditionskonkretion. Man darf keine vergangene Existenz führen müssen, um den Glauben und das Glauben entdecken zu können.
In ihrem für sie konstitutiven sozial-diakonischen Engagement ist die katholische Kirche ohne Zweifel realistisch und auf der Höhe der Zeit. Sie genießt hier zu Recht, etwa in der Caritas, große Anerkennung. Warum gelingt ihr Ähnliches nicht annähernd im Bereich der individuellen, persönlich-existentiellen Realisation und Konkretion des Christlichen? Und wenn, dann nur in spezifischen, eher schwer und vor allem Insidern zugänglichen Räumen wie manchen Klöstern?
Die theologischen Reflexionen zur christlichen Seelsorge, zur Spiritualität als einem Leben aus dem Geist Gottes, oder auch pastoralpsychologische Entwürfe zur Bewältigung des Lebens und seiner Härten und Untiefen aus christlicher Tradition, sie liegen seit längerem in der Theologie vor und werden in spezifischen Bildungs- und Caritaseinrichtungen auch rezipiert. Warum aber finden sie so wenig Eingang in die alltäglichen Praktiken etwa unserer Gemeinden?
Der Synodale Weg arbeitet nicht an der Spaltung, sondern an der Zukunft der Kirche.
Vielleicht, weil dort Konventionalismus und Risikoangst[4], weil weicher Klerikalismus und Resignation, weil Routine und Mutlosigkeit sich ausgebreitet haben? Weil eben die großen Blockaden viele kleine Blockaden nach sich ziehen?
Der Synodale Weg Deutschlands arbeitet nicht an der Spaltung der katholischen Kirche, sondern daran, diese Spaltung zu verhindern. Sollte er scheitern, drohen jene Kulturkämpfe im Katholizismus zu eskalieren, welche die protestantischen USA oder die Orthodoxie bereits spalten. Der Synodale Weg Deutschlands arbeitet nicht an der Protestantisierung der katholischen Kirche, sondern an den Voraussetzungen für ihre Zukunft. Daran müssten doch auch Konservative ein Interesse haben.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
[1] Vgl. etwa die dramatischen Daten der neuesten Kirchenaustrittsstudie: Petra-Angela Ahrens, Kirchenaustritte seit 2018: Wege und Anlässe. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung, Baden-Baden 2022. Die Autorin spricht von einem „regelrechte(n) Bruch“ (10), der sich gerade bei jüngeren Katholik:innen im Verhältnis zur verfassten Kirche trotz eigener religiöser Sozialisation jüngst vollzogen habe.
[2] Siehe dazu ausführlich: Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus, Würzburg 2019; Ders. (Hrsg.), Pastoral im Kapitalismus, Würzburg 2020.
[3] Was etwa von den Existenz-, Lebens- und Denkformen der (mittlerweile weitestgehend kirchenfernen) nicht-akademischen gesellschaftlichen Schichten wird akademisch wahr- und ernstgenommen? Der sich abzeichnende „practical turn“ der akademischen Theologie ist perspektivenreich, muss aber noch an Fahrt, Tiefe und Breite gewinnen, damit die akademische Theologie (als akademische) lernt, „nach Volk und Straße zu riechen“, wie es Papst Franziskus fordert.
[4] Vgl.: Wolfgang Beck, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese, Ostfildern 2022.- Es ist nicht selbstverständlich, dass der Vatikan eine Theologische Kommission eingesetzt hat, die den vatikanischen Synodalen Prozess berät. Dies sei, so Rafael Luciani, Mitglied dieser Kommission, „eine neue Entwicklung, die die Zusammenarbeit zwischen der Theologie und dem Lehramt in einer Weise wiederherstellt, wie es sie schon immer gegeben haben sollte.“ Noch bemerkenswerter ist dann Lucianis Information, dass „innerhalb dieser Kommission“ auch „eine Unterkommission eingerichtet“ wurde, „die Vorschläge für die Reform des Kirchenrechts ausarbeiten soll.“ (Rafael Luciani, Ratschläge einholen und Konsens finden, in: HerderThema. Weltkirche im Aufbruch. Synodale Wege, Freiburg/Br. 2022, 4-5,4)