Die Demütigung anderer wird zum machtvollen Mythos – und zu aktueller Politik weltweit. Hans-Joachim Sander mit einem theologischen Kommentar zur Lage nach der Bundestagswahl.
Jetzt hatten wir die Wahl und in Berlin beginnt dann bald eine neue Legislaturperiode sowie eine andere Regierung. Wer sich damit zufrieden gibt, möchte politisches business as usual. Das ist verständlich, aber irrational. Erstens kann die Wahl nicht beruhigen und zweitens können keine nationalen Wahlen mehr die politischen Ausgangslagen einer Gesellschaft definieren. Das gilt insbesondere für die wirtschaftlich beherrschende deutsche Bundesrepublik in Europa. Viele würden sie deshalb gerne auf das simple Niveau „Deutschland“ herunterbrechen. Und nicht wenige davon haben entsprechend gewählt. Aber das ist nur ein säkularer Mythos, der keine komplexen Probleme löst, sondern davon lebt, dass diese Probleme wegen ihrer Komplexität nicht gelöst werden. Die Partei, die das Substantiv zur Monstranz macht, belegt das. Sie kann nur wachsen, soweit ihre Wahlerfolge bei den anderen den Tunnelblick auslösen, der verhindert, dass die wirklichen Probleme tatsächlich angegangen werden. Diese Substantivierung, die in dieser deutschen Nationalwahl fröhliche Urständ gefeiert hat, weil die tatsächliche Lage weitgehend kein Gegenstand des Wahlkampfs war, lenkt nur von den gravierenden Machtproblemen innen und außen ab. Und sie soll das auch. Deshalb sind Oligarchen, die lieber anonym bleiben, so dahinterher, das zu alimentieren.
Die tatsächliche Lage war weitgehend kein Gegenstand des Wahlkampfs
Aber zugleich belegt das nur die längst ausgelöste Reduktion auf das Adjektiv „deutsch“, das sich nach dieser Wahl noch tiefer in die Kapillare der Gesellschaft ausbreiten wird. Mit der Frage nach Abschaffung der nachgerade mythisch verehrten Schuldenbremse hat das auch sofort danach schon eingesetzt. Sie wäre ebenso nötig, wie sie mittlerweile zu spät und zu wenig ist. Nach dem jüngsten offen inszenierten Eklat Trumps gegen Selenskyi geht es um die europäische Verteidigung Europas, das erforderliche Geld dafür und die gesellschaftliche Transformation dazu auf allen Ebenen. In der Welt von heute ist es nicht mehr möglich, bloß Deutschland zu aktivieren. Nötig ist vielmehr, größere politische, wirtschaftliche, kulturelle Zusammenhänge mit den Mitteln, die der deutschen Politik zur Verfügung stehen, mitgestaltend zu aktivieren, welche die EU intern und extern robust machen und absichern. Wenn das nicht geschieht, ist der Abstieg für die Bevölkerung in Deutschland und für das deutsche Volk unvermeidlich. Die Resultate des Brexit sind darüber sehr lehrreich.
Nach der Wahl ist vor der Welle kommender Zerstörungen
Daher muss ich auch sagen, dass nach dieser Wahl Entwarnung nicht möglich ist, sondern ein verschärfter Blick auf die Gefahrenlage nottut. Wir stehen vor einem Tsunami, der sich schon sichtbar aufbäumt. In ihm baut sich gesellschaftliche Macht über die Demütigung anderer auf. Seine Welle wird zerstörerisch werden. Sie kommt nicht aus dem Nichts, sondern hat sich schon viel länger untergründig angekündigt im Umgangston auf den sozialen Medien der Tech-Milliardäre, in der Propagierung einer libertären und von Oligarchen getriebenen Ökonomie nach Ayn Rand in dem Land nördlich des Golfes von Mexiko („Men have been taught that the ego is the synonym of evil, and selflessness the ideal of virtue. But the creator is the egoist in the absolute sense, and the selfless man is the one who does not think, feel, judge or act.”), in herzzerreißenden religiös motivierten Terrorakten weltweit und der näheren Umgebung, in der misogynen Reklamierung patriarchaler Verhältnisse für Partnerschaften, in der schamlos offen geforderten Remigration von Menschen, die der angeblich unverzichtbaren Homogenität des Volkes im Wege stehen, in dem – ja, auch das – kirchlichen Verschweigen der klerikalen Täter des sexuellen Missbrauchs und dem kaltherzigen Abweisen ihrer Opfer und so weiter. Diese untergründigen Wellen gelangen jetzt in die seichteren Wasser einer sich autoritär ermächtigenden Sehnsucht nach einfachen Ausgangslagen und dort können sie sich nun so richtig aufbäumen. Der Tsunami wird sich nicht auf Dauer halten und das Meer der menschlichen Not hinter sich lassen. Er wird aber viele Menschen in es zurückreißen und seine Flutwelle wird massive Zerstörungen hinterlassen. Das Nach dieser Wahl jetzt ist daher lediglich ein Vor einer anderen, größeren und weit bedrängenderen Lage. Sie hat die Qualität eines Abgrundes.
Die Macht der Demütigung entmythologisieren
Meines Erachtens liegt hier der Grund für die hohe Wahlbeteiligung bei der Wahl, ihr einzig wirklich gutes Ergebnis. Diese Beteiligung hat nicht „Deutschland“ gestärkt, sondern trat dessen Mythologisierung in den Weg. Darin liegt zugleich ein locus theologicus; denn wer, wenn nicht christliche Theologie, kennt sich mit Entmythologisierungen aus. Sie ist nicht zu leisten, so die Erfahrung aus der Theologiegeschichte, ohne zugleich neuen und noch weitergehenden Mythen zu widerstehen. Wenn es normal werden soll, gesellschaftliche Macht mit der Demütigung anderer aufzubauen, dann darf man diesem Mythos nicht mit anderen Mythen entgegentreten.
Schön wäre es, wenn der sich aufbäumende soziale, politische und kulturelle Tsunami ein Mythos wäre. Er ist es leider nicht, sondern vollzieht sich gerade in einem breiten gesellschaftlichen Rechtsruck, mit einer Hetzjagd auf internationale Rechts- und Hilfssysteme sowie mit großen oligarchischen Gewinnerwartungen. Wäre all das bloß ein Mythos, könnte man den Tsumani tatsächlich schon mit Entmythologisierungen entsorgen. An der Mythologisierung der Folgen des Tsunami wird vielmehr auf globalem Level kräftig gearbeitet, weil das, was den Tsunami aufbäumen lässt, von den Profiteuren eifrig und beflissen, schnell und überall zur neuen Normalität erklärt wird, die nur von linker wokeness und lügenden Leitmedien verteufelt würde.
Diese Wahl hat den gesellschaftlichen Rechtsruck dokumentiert
Diese Wahl hat den gesellschaftlichen Rechtsruck dokumentiert und zeigt, wie viele sich an einer Normalität delektieren, sich durch die Demütigung anderer bestärkt zu fühlen. Viele tun das natürlich auch, weil sie wohl insgeheim spüren, wie leicht sie selbst zu Opfern werden könnten. Mit dieser Angst im Nacken versuchen sie stattdessen, die Gefahr mit der Lust auf die Ohnmacht von anderen auf Abstand zu halten. Es wird ihnen weitgehend nicht gelingen, aber eine allgemeine Einsicht darüber braucht Zeit und wohl viel Zeit. Deshalb hat die autoritäre Persönlichkeit, die schon Adorno analysiert hat, wieder Konjunktur. Nach oben hin duckend anbiedernd anbeten und nach unten gezielt sich rächend treten soll künftig als Habitus allgemein akzeptabel werden. Trumps Verehrung Putins und seine gleichzeitige Verachtung Europas, die Unterwerfung der Bosse der Tech-Giganten unter den neuen Haartollen-Absolutismus und ihr Schutz von Hassredenfreiheit gegen die Nutzer ihrer Plattformen sind Belege dafür.
Auf diese Weise wird die Demütigung anderer, vor allem schwächerer und unliebsamer Menschen als ein linker Mythos stigmatisiert, von dem es sich zu befreien gilt, um so endlich die Bestärkung der eigenen, nur eben leider verschütt gegangenen Größe in die Wege zu leiten. Diese Größe muss dann aber unweigerlich gegen Demokratie vorgehen, um zum Strahlen am Himmel der Utopien zu kommen. Schließlich ist Demokratie nicht zuletzt eine Herrschaftsform, die sich aus dem Widerstand gegen alle möglichen Sorten von Demütigungen entwickelt hat, weil diese eben kein Mythos sind, sondern brutale Realität darstellen. Darum ist Demokratie auch die Herrschaftsform der Menschenrechte und der Einhaltung von Gewaltenteilung, die eine Entmythologisierung der Effizienz autoritärer Herrschaft mit sich bringen. Es ist daher kein Wunder, dass die beflissentlichen Normalisierer der Macht aus der Demütigung anderer zugleich die Demokratie attackieren, ihre die Minderheiten schützenden Institutionen abwickeln, ihren Rechtsstaat beugen und ihre Gewaltenteilung unterminieren. War die Wende 1989 davon geprägt, sich entschieden auf die Demokratie hin zu bewegen, ist die Zeitenwende jetzt davon bestimmt, Demokratie madig zu machen und hinter sich zu bringen.
Religionsgemeinschaften haben zu wenig entschiedenen Willen zu demokratischen Verhältnissen
Das wiederum ist eine doppelte Frontlinie für zeitgenössische Theologie, weil Religionsgemeinschaften, besonders die jeweils eigene, bisher keinen entschiedenen Willen zu demokratischen Verhältnissen haben. Sie erhoffen sich vielmehr die schnellen Vorteile von autoritärer Privilegierung, die sich nicht zuletzt in der Oligarchisierung von christlichen Religionsführern niederschlägt, wie wir sie in der russischen Orthodoxie und den pentekostalen Kirchenformen schon sehen können. Wer sich jetzt theologisch nicht für Demokratie als Lebensform einer komplexen unübersichtlichen Gesellschaft einsetzt, fördert die religiöse Versuchung der eigenen Glaubensgemeinschaft, der autoritären Alternative beizuspringen.
Das macht eine andere Form von politisch bedeutsamer Theologie nötig als jene, die wir als politische Theologien schon kennen. Der Ausnahmezustand, der Souveränität verheißt, stellt sich in der fatalen Normalisierung der Demütigung anderer ein. Das hat Carl Schmitt immer verschwiegen, obwohl er freudig mit den Wölfen darüber geheult hat. Zugleich kann der Weg zur Mündigkeit der Freiheit vor Gott nicht bei der Aufklärung über die religiös-kirchlichen Sehnsüchte nach Macht und über die gesellschaftliche Vergessenheit der Opfer aus der Vergangenheit halt machen. Dort hat die neuere politische Theologie häufig genug Rast gemacht. Die us-amerikanische Bürgerrechtsbewegung hat an die jetzt nötige Theologie gegen Demütigungen anderer herangeführt, aber die zeitgenössischen Kommunikationswelten machen Bewegungen sehr schwer und oft nur kurzfristig aktivierbar.
Eine andere Form von politisch bedeutsamer Theologie ist von Nöten
Und doch würde ich an der dort zu sehenden Kombination von innerer Freiheit, äußerer Befreiung und beides verbindendem Widerstand festhalten und sie deutlicher individuell lokalisieren. Widerstand gegen libertäre Verheißungen im Staat, die schamlos allgemeine Opfer für ihren Mythos einfordern, Befreiung von autoritärer Religiosität in der eigenen Religionsgemeinschaft, die ihre selbst verschuldete Abwärtsspirale durch Andienen an den Rechtsruck umkehren will, und Freiheit zu einem Glauben, dessen widerständige Wahrheiten sich auch durch Demütigungsattacken gegen sie selbst ausweisen können, kommen dann zusammen. Sie können Widerstand und Entschiedenheit freisetzen, sich den demütigenden Mächten und autoritären Gewalten zu stellen, welche die gegenwärtigen Zeichen der Zeit indizieren. Damit steht man eher zwischen den Stühlen, als bequem von einem aus auf die Zeitverläufe zu blicken. Das ist keine dankbare Aufgabe. Aber wann waren der Welten Lohn und der Kirchen Dank jemals ein Ausweis für wahrhaftige Theologie.
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Bild: Gerd Altmann auf Pixabay
Hans-Joachim Sander ist pensionierter Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
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