In Srebrenica, einer Stadt im Osten Bosniens an der Grenze zu Serbien, kam es im Juli 1995 zum ersten Völkermord in Europa nach dem zweiten Weltkrieg. Am heutigen Gedenktag blickt Andrijana Glavas für uns auf Möglichkeiten der Traumaverarbeitung und Wege zum Verzeihen.
Ein Jahr nach Beginn des Krieges in Kroatien brach auch in Bosnien und Herzegowina 1992 der Krieg aus. Die von Serben dominierte jugoslawische Armee und die serbischen Milizen führten mit höchster Brutalität und Menschenrechtsverachtung eine Aggression gegen Bosnien und Herzegowina durch. Während des Krieges starben mehr als 100.000 Menschen, von denen die BosniakInnen, i.d.R. Menschen muslimischen Glaubens, die meisten Opfer zu beklagen hatten. Fast zwei Drittel aller Opfer (62.013) gehörten dieser Bevölkerungsgruppe an.[1] Während des Krieges flüchteten mehr als 700.000 Menschen ins Ausland, zwei Millionen wurden vertrieben. Zahlreiche Menschen waren traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt, entweder in direkten Kriegshandlungen oder durch Folgen von Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung oder Gefangenschaft. Besonders erschütternd ist, dass etwas mehr als 50% (31.101) der Opfer ZivilistInnen waren. Während des Krieges wurden viele Kriegsverbrechen verübt, Städte und Dörfer verwüstet oder zerstört, die Bevölkerung in serbischen Lagern inhaftiert, gefoltert und zur Zwangsarbeit gezwungen. Alle Regeln der Humanität, Moral und internationalen Menschenrechte wurden missachtet.
In Srebrenica wurden bis zu 8.000 muslimische Männer, darunter auch Jugendliche und alte Männer, ermordet.
In Srebrenica, einer Stadt im Osten Bosniens an der Grenze zu Serbien, kam es im Juli 1995 zum ersten Völkermord in Europa nach dem zweiten Weltkrieg. Serbische Milizen ermordeten während mehrerer Tage bis zu 8.000 muslimische Männer, darunter auch Jugendliche und alte Männer.[2] Diese Tragödie wurde systematisch geplant und ist umso größer, da sich die Stadt in einer von der UN beschützten Zone befand und die Bevölkerung von den UN-Soldaten beschützt werden sollte, was allerdings nicht geschah; dadurch wurden die Menschen der Brutalität und dem Massaker ausgeliefert.[3]
Eine vom Krieg gezeichnete Bevölkerung
Nach der letzten EinwohnerInnenzählung 2013[4] leben heute in Srebrenica 23.000 Menschen weniger als in der Zeit vor dem Krieg; die Zahl der BosniakInnen hat sich von 27.572 vor dem Krieg auf heute noch 7.248 Lebende reduziert. Einer der Gründe dafür ist auch, dass für die meisten Nachkommen oder Familienangehörigen der Opfer kein Zusammenleben mit den Serben möglich oder zumindest sehr schwer ist. Die Wunden, die dieser Krieg hinterlassen hat, sind noch sehr tief und die Auswirkungen des Krieges sind auch heute (2019) noch präsent, tiefgreifend und belastend. Die seelischen Verwundungen bei den Überlebenden sind noch nicht verheilt. Es gibt weiterhin sehr viele offenen Fragen, die das Zusammenleben unmöglich machen. Viele Opfer gelten noch als vermisst und viele Familien sind heute noch auf der Suche nach den menschlichen Überresten ihrer Angehörigen, weil viele Massengräber zur Vertuschung des Verbrechens nachträglich umgegraben wurden.[5]
Vergebung kann eine wichtige Rolle im Traumaverarbeitungsprozess spielen.
Vergebung kann eine wichtige Rolle bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen spielen und diesen schwierigen und langen Prozess unterstützen. Verschiedene Studien belegen, dass Vergebung sich positiv auf die Entwicklung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auswirken kann.[6]
Traumaverarbeitung als lebenslange Aufgabe
Der Weg der Traumaverarbeitung ist ein schwieriger und langer, allerdings ein für die Bereitschaft der Vergebung wichtiger Prozess. Mehrere Studien berichten über positive Auswirkungen der Vergebung auf die psychische Gesundheit, wie z.B. Depressionen oder Traumafolgeerkrankungen wie PTBS.[7] Auf diesem Weg kann neben medizinischer und psychologischer Unterstützung der Betroffenen das Einbeziehen religiöser und spiritueller Impulse von Nutzen für Bewältigung sein.[8]
So wurde auch die Relevanz des islamischen Glaubens und seiner Praxis und der Verwendung der täglichen muslimischen Routine in der Therapie psychischer Störungen in Bosnien und Herzegowina untersucht.[9] In einer dieser Studien an PatientInnen mit multiplen traumatischen Erfahrungen zeigten sich religiöse Überzeugungen als protektive Faktoren für die Stabilisierung mentaler Gesundheit dieser PatientInnen.[10] Spiritualität und Religiosität sind ein wesentlicher Bestandteil im Leben von Menschen in Bosnien und Herzegowina und können für den Weg der Vergebung und Versöhnung eine wichtige Rolle spielen. Der Weg der Gerechtigkeit und Vergebung soll für alle Menschen ein gemeinsames Ziel werden. Er wird lang und nicht leicht sein, aber der einzige, der zum gemeinsamen Ziel des Friedens und des Zusammenlebens führt. Während meiner langen Beschäftigung mit Traumaverarbeitung in Bosnien und Herzegowina ist für mich vor diesem Hintergrund das folgende Zitat besonders wichtig geworden:
Die Last der Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf, kann nur angenommen werden, wenn auf beiden Seiten Verzeihung geschenkt und empfangen wird.[11]
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[1] Prometej Bosanska knjiga mrtvih – stvaranje kulture sjećanja. Prozor-Rama (BiH), 9.2.2013. Online 11.03.2019, abrufbar unter http://www.prometej.ba/clanak/drustvo-i-znanost/bosanska-knjiga-mrtvih-stvaranje-kulture-sjecanja-962.
[2] Hartman, Florenc, Krv realpolitike – Afera Srebrenca, Sarajevo/Zagreb 2015.
[3] N1 2016, Online 23.06.19 abrufbar unter: http://ba.n1info.com/Vijesti/a102866/Popis-iz-2013.-godine-pokazao-razmjere-genocida-u-Srebrenici.html.
[4] Agencija za statistiku Bosne i Hercegovine (2016), Popis stanovništva, domaćinstva i stanova u Bosni i Hercegovini 2013, Rezultati popisa, Sarajevo 2016, 64. Online abrufbar unter http://www.bhas.ba/obavjestenja/Preliminarni_rezultati_bos.pdf
[5] Rodnic, A., Zivjeti Srebrenicu, Izdavac Fondacija Henrich Boll, Ured za Bosnu i Hercegovinu, Sarajevo 2015, 47.
[6] Stammel, N., Knaevelsrud C., Vergebung und psychische Gesundheit nach traumatischen Erlebnissen. Ein Überblick. Trauma Gewalt 2009; 3:43.
[7] Greenberg, L. et al., Emotionfocused couples therapy and the facilitation of forgiveness. J Marital Fam Ther 36. 2010, 28–42.
[8] Reddemann, L., Dehner-Rau C., Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen. Ein Übungsbuch für Körper und Seele, Stuttgart 2007.
[9] Hasanović, M., Pajević I., Religious moral beliefs as mental health protective factor of war veterans suffering from PTSD, depressiveness, anxiety, tobacco and alcohol abuse in comorbidity, 2010. Online 23.04.2019, abrufbar unter https://hrcak.srce.hr/file/84619.
[10] Hasanović, M., Psychological consequences of war-traumatized children and adolescents in Bosnia and Herzegovina, 2011. Online 30.04.2019, abrufbar unterhttp://www.ama.ba/index.php/ama/article/view/102/97
[11]Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 517.
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Autorin: Dr. med. (HR) Dipl.-Caritaswiss. Andrijana Glavas ist wiss. Mitarbeiterin an der Universität Freiburg und Doktorandin am Arbeitsbereich „Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit“.