Wenn sich wissenschaftliche Theologie und kirchliches Lehramt streiten, agieren sie bisweilen immer noch so, als ob sie unter sich wären. Sie waren es lange und das sogar auf Augenhöhe. Sie sind aber nicht mehr unter sich. Das wäre ihre Chance. Von Rainer Bucher.
Es ist wieder einmal so weit: Ein „anbetende“, wahlweise„einfühlende“ Theologie wird in Stellung gebracht gegen eine kritisch-wissenschaftliche, die zu allem tauge, aber nicht dazu, den Glauben und schon gar nicht das Glauben zu stärken. Die Hoffnung, diese selbstschädigende Konfrontation von Theologie und Lehramt läge endlich hinter uns, hat offenbar getrogen.
Hatten wir eigentlich schon hinter uns: „anbetende“ versus kritisch-wissenschaftliche Theologie
Seit die katholische Kirche ab dem 16. Jahrhundert in eine einzige Kaskade von Reichweitenverlusten und Demütigungserfahrungen geriet, schloss sie ihre diskursiven Reihen. Man ordnete nach und nach das theologische dem apostolischem magisterium unter, um so die Irritationsenergien eines zunehmend nicht mehr kontrollierbaren Außen abzuwehren. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das umfassende „ordentliche“ Lehramt von Papst und Bischöfen jenes der Theologie schließlich mehr oder weniger in sich aufgesogen.
Anti-modernistisches Trauma
Das war sozialpsychologisch verständlich, nicht aber unbedingt von größerem Nutzen für die katholische Kirche und ihre Aufgabe. Das zeigte sich spätestens an der Wende zum 20. Jahrhundert, als im „Modernismusstreit“ das römische Lehramt ziemlich rigide anordnete, katholische Theologie dürfe nicht mit den Mitteln der zeitgenössischen Wissenschaften gemacht werden. Da war die Theologie als Wissenschaft kurz vor dem Aus. Es galt „catholica non leguntur“.
Ganz erholt vom anti-modernistischen Trauma hat sich die katholische Theologie letztlich bis heute nicht.[1] Obwohl das II. Vatikanum die Konfrontation von „Kirche“ und „Welt“ eigentlich überwunden hat und damit auch jene von Theologie und modernen Wissenschaften, ist diese alte Konstellation offenbar bei Bedarf immer wieder reaktivierbar.
Nicht mehr zwei-, sondern mehrpoliges Geflecht
Dabei ist das Verhältnis von Lehramt und wissenschaftlicher Theologie schon lange nicht mehr zweipolig, sondern Teil eines mehrpoligen Kommunikations-, Rezeptions- und Kräftegeflechts. Oder theologisch gesagt: Die Volk-Gottes-Realität beider, Theologie wie Lehramt, hat sie nunmehr auch empirisch eingeholt.
In vormodernen Konstellationen ist die Theologie die Konzeptualisierung der normativen Tradition, in modernen Konstellationen neigt sie zu utopischen Entwürfen: beides mal stellt sie sich dem übrigen Volk Gottes autoritativ gegenüber, darin dem Lehramt ganz ähnlich. Man glaubt dann Zugang zu haben zu etwas, dessen Geltung man in spezifischen Sozialräumen durchsetzen kann, sei es über Gehorsamsappelle, so das Lehramt, sei es über Einsichtsappelle, so die Theologie.
Religionsnutzung nach individuellem biographischem Bedürfnis
Doch damit ist es vorbei: Die kirchliche Basis, selbst die noch „aktive“, denkt, glaubt und handelt ziemlich unabhängig vom Lehramt, aber auch von der wissenschaftlichen Theologie. Im Feld des Religiösen herrscht weder mehr das kirchlich-autoritäre Dispositiv der unhinterfragten Gefolgschaft, noch mehr das aufklärerische Dispositiv, das die Konsistenz und Plausibilität religiöser Praktiken und Inhalte vor der Vernunft anfragte. Was herrscht, kann man vielleicht am ehesten als „autologisches Dispositiv“ bezeichnen, als die Organisation und Praxis von individueller Religion nach dem – durchaus nicht beliebigen und trivialen – individuellen biografischen Bedürfnis. Das folgt einer eigenen Logik, der Logik der prekären Lebensbewältigung auch mit Hilfe von Religion.
Die universitäre Theologie hat daraus noch nicht wirklich Konsequenzen für ihr Design gezogen, zu sehr setzt sie auf die eigene binnenfachliche oder universitäre Wahrnehmung und letztlich auch auf jene durch die kirchliche Hierarchie. Ihr Habitus ist vordergründig akademisch und hintergründig kirchlich geprägt. In beiden gilt, dass sie es ist, die vorgibt, was das Volk denken und glauben soll.
Weder Lehramt noch Theologie bestimmen mehr, was Menschen glauben.
Das funktioniert nur nicht, religionssoziologisch nicht, denn auch das kirchliche Volk denkt und glaubt, was es will, und es funktioniert auch glaubensgeschichtlich nicht, denn die Existenzsituationen der Menschen sind in unübersichtlichen, überraschungsdichten und nur noch „auf Sicht“ befahrbaren Zeiten mit einiger Wahrscheinlichkeit schon ganz wo anders, als die nachhinkenden Reflexionsversuche der Wissenschaften, jene der dominant vergangenheitsorientierten Theologie gleich gar. Die Illusion moderner Zeiten, wir würden die Gegenwart halbwegs adäquat auf den Begriff und so die Zukunft in den Griff bekommen, hegen nur noch Ideologen.
Bislang lautete die Frage des Lehramtes: Wie kann die potentiell gefährliche subversive Kraft der Theologie gleichzeitig gebändigt und genutzt werden? Die Frage der Theologie aber war: Wie kann sie ihr ureigenstes und sehr verletzliches Feld der Begriffe gleichzeitig kreativ, also „an der Zeit“, und in der Verantwortung vor der Tradition halten? Heute aber lautet die Frage: Wie können beide, Theologie wie Lehramt, mit der religionsproduktiven und theologiegenerierenden Kraft christlicher (und überhaupt: religiöser) Existenz Schritt halten, also ebenso kreativ bleiben in der Entdeckung des Glaubens wie das Volk Gottes?
Theologie wie Lehramt brauchen das übrige Volk Gottes.
Theologie wie Lehramt brauchen das übrige Volk Gottes, um gegenwärtig zu sein, und damit ihre Verantwortung vor der Tradition zu erfüllen. Dies gilt nicht nur, wie im Herbst 2015 nun auch in Rom offenkundig wurde, weil sich auch die katholische Kirche in der globalisierten Gegenwart so stark kulturell ausdifferenziert hat, dass der Glaube in seiner konkreten Bedeutung nicht mehr von einer zentralen Instanz aus umfassend erfasst werden kann. Es gilt auch, weil weder Theologie noch Lehramt außerhalb ihrer Binnenbeziehung wirklich die Mittel haben, diese ungebundene Kreativität zu steuern.
Theologie wie Lehramt hätten sich viel mehr für den konkreten, existenzbewährten Glauben des Volkes Gottes zu interessieren. Es könnte nämlich sonst passieren, dass das Volk Gottes sich nicht mehr für sie interessiert. Vielleicht ist das ja schon passiert.
Binnenrivalitäten überwinden und dem Volk Gottes helfen.
Theologie wie Lehramt sollten ihre alten Binnenrivalitäten hinter sich lassen und sich an ihre gemeinsame Aufgabe machen: als Teil des Volkes Gottes diesem dabei zu helfen, ein wirkliches „Zeichen und Werkzeug“ der Liebe Gottes in der Welt zu sein. Alle und alles in der Kirche gibt es nur hierfür. Die Theologie ist gebunden an diese Aufgabe, ohne Freiheit und Vertrauen aber muss sie an ihr scheitern.
Die „Grenzen“ seien der genuine „Ort des Nachdenkens“ für die Theologie, hat Papst Franziskus ihr geschrieben, und dass sie nicht „in die Versuchung“ tappen solle, diese schwierigen Orte und Zonen „zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig aufzuhübschen und zu zähmen.“ Dass sie sich „der Konflikte annehmen“ solle, vor allem „jener, die die ganze Welt betreffen“, hat er der Theologie ebenfalls aufgetragen, und dass gute Theologen „nach Volk und nach Straße riechen“ und die „Wunden der Menschen mit Öl und Wein“[3] salben sollen. „Wie die guten Hirten“: für beide wahrscheinlich ihre letzte Chance.
[1] Vgl.: K. Unterburger, „Woher kommen die Streitigkeiten unter euch?“ (Jak 4,1). Entstehung und Geschichte der heutigen innerkatholischen Polarisierungen, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 164(2016) 4-12.
[2] Vgl. dazu auch: Rainer Bucher/Renate Oxenknecht-Witzsch (Hrsg.) Was fehlt? Leerstellen der katholischen Theologie in spätmodernen Zeiten. Ein Experiment. Würzburg 2015
[3] Zitate aus dem Brief von Papst Franziskus an den Großkanzler der „PONTIFICIA UNIVERSIDAD CATÓLICA ARGENTINA“ vom 3. März. 2015
(Rainer Bucher; Photo: birgitH, pixlio.de)