Mit Jan Assmann ist einer der profiliertesten Gelehrten im deutschsprachigen Raum verstorben. Johannes Thonhauser (Graz-Klagenfurt) hat zu ihm geforscht – und würdigt das vielseitige Wirken Assmanns.
Er sei dankbar für die kritische Aufnahme seiner Ideen in Disziplinen, in denen er „unverfroren gewildert“ habe, hat Jan Assmann einmal geschrieben. Mit seinen bedeutenden Arbeiten zu Erinnerung und kulturellem Gedächtnis hat er die Geistes- und Kulturwissenschaften weit über die Grenzen seiner eigentlichen Profession, der Ägyptologie, hinaus geprägt. In dieser Woche ist der vielfach ausgezeichnete Gelehrte im 86. Lebensjahr verstorben.
Jan Assmann, eigentlich Johann Christoph Assmann, wurde 1938 im niedersächsischen Langelsheim als Sohn eines Architekten geboren. Aufgewachsen in Lübeck und Heidelberg, studierte er Gräzistik, Klassische Archäologie und Ägyptologie in Heidelberg, München, Paris und Göttingen. Nach seiner Habilitation 1971 erhielt er eine ordentliche Professur für Ägyptologie an der Universität Heidelberg, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 innehatte. 2005 nahm er eine Honorarprofessur an der Universität Konstanz an, wo seine Frau, die Anglistin und Kulturtheoretikerin Aleida Assmann, am Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft wirkte.
Den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt.
Aus der Ehe mit Aleida Assmann sind fünf Kinder hervorgegangen. Mit ihr hat Jan Assmann einflussreiche Schriften zur kulturellen Bedeutung von Erinnern und Vergessen vorgelegt. Aufbauend auf den Arbeiten des Soziologen Maurice Halbwachs und des Kunsttheoretikers Aby Warburg hat Assmann deren Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis weiterentwickelt und den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt. Er versteht darunter „alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht“ (aus: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, 1988). Durch seine organisierte und rituell geformte Pflege vergangener Ereignisse unterscheidet es sich von der ganz unsystematischen und alltäglichen Formung von Erinnerung und Wissen im kommunikativen Gedächtnis. Beide Erinnerungsformen, sowohl das kulturelle als auch das kommunikative Gedächtnis, sind maßgeblich für die Identität einer Wir-Gruppe.
Die Attraktivität dieses Konzepts liegt wohl nicht zuletzt darin, dass es … mühelos auf gegenwärtige Gesellschaften und Kulturen umzulegen ist.
Dieses Konzept, dessen Ausarbeitung er in seinem ersten Hauptwerk Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen 1992 vorlegte, sorgte für überaus positive Resonanz in Disziplinen, die weit über die Ägyptologie hinausreichen. Assmanns Kulturtheorie wird nach wie vor sowohl an geistes- und kulturwissenschaftlichen wie auch sozialwissenschaftlichen und theologischen Fakultäten wahrgenommen und gelehrt. Die Attraktivität dieses Konzepts liegt wohl nicht zuletzt darin, dass es abseits von seiner altertumskundlichen Verankerung mühelos auf gegenwärtige Gesellschaften und Kulturen umzulegen ist. Offensichtlich traf das Konzept inmitten der politischen Umbrüche der 1980er und 1990er Jahre den Nerv einer Zeit, die vom Ringen um kollektive Identität(en) geprägt war.
Heftige Debatte um das inhärente Gewaltpotential des exklusiven Monotheismus.
Die Themen Erinnerung und Gedächtnis ließen Jan Assmann nicht mehr los. Die Lektüre Sigmund Freuds inspirierte ihn zu archäologischen Grabungsarbeiten der etwas anderen Art: „Das kulturelle Gedächtnis ist nicht nur eine mémoire volontaire, sondern auch eine mémoire involontaire, in seinen Tiefenschichten ist vieles enthalten, das nach langer Latenz wieder wirksam werden und die Menschen heimsuchen kann.“ (Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, 2003) Auf der Suche nach verschütteten, mitunter traumatisierenden Erinnerungen an die biblische Figur Moses (Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, 1998) spannte er einen überaus faszinierenden gedächtnisgeschichtlichen Bogen von den biblischen Wurzeln der Mosefigur bis zur europäischen Aufklärung. Dabei trat er mehr oder weniger unbeabsichtigt eine heftige Debatte um das inhärente Gewaltpotential des exklusiven Monotheismus, für den der biblische Mose auch stünde, los. Seine eigentlich als Hinführung zum genannten Buch konzipierten Überlegungen dazu riefen nicht nur Widerspruch aus den Bibelwissenschaften hervor – aus beinahe sämtlichen theologischen Teildisziplinen, allen voran aus der systematischen Theologie, darüber hinaus aber auch aus Nachbardisziplinen wie der Religionswissenschaft, insbesondere der Judaistik, meldete man Klärungsbedarf an. Assmann zeigte sich verblüfft, seien seine Überlegungen doch keineswegs neu und im Kern seit dem 18. Jahrhundert immer wieder ausformuliert worden.
Der ausschließliche, also exklusive Ein-Gott-Glaube des Alten Israel musste … mit einer Sprache der Gewalt durchgesetzt werden.
Sein um Klärung und Präzision bemühter Essay Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus (2003) trug keineswegs zur Beruhigung der Debatte bei. Eine überaus reißerische Titelstory im auflagenstarken deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu Weihnachten 2006 („Das Testament des Pharao“) brachten den bis dahin auf akademischer und weitgehend sachlicher Ebene geführten Diskurs in eine Schieflage. Der feinsinnige Gelehrte Assmann zeigte sich offensichtlich schockiert über die oberflächliche und verkürzende Darstellung seiner Thesen. Antisemitismusvorwürfe ließen nicht lange auf sich warten. Zahlreiche weitere Publikationen (darunter Exodus. Die Revolution der Alten Welt, 2015 und Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, 2016) führten die Debatte auf eine sachliche Ebene zurück. Auch wenn er im Laufe der Debatte manche Argumente seines Ansatzes überarbeiten oder gar revidieren musste, blieb er der Kernthese treu: Der ausschließliche, also exklusive Ein-Gott-Glaube des Alten Israel musste, bei allem zivilisatorischen Gewinn dieses Gotteskonzepts, mit einer Sprache der Gewalt durchgesetzt werden, die in der biblischen Literatur ihren Niederschlag gefunden habe und bis in den modernen Fundamentalismus nachwirke.
Interesse für klassische Musik
Im vielseitigen Œuvre Jan Assmanns geriet das Alte Ägypten nie aus dem Blick. Sein Interesse für klassische Musik – Assmann spielte Klavier und soll als Kind bereits komponiert haben – verknüpfte er mit der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Ägyptens, etwa in Die Zauberflöte. Oper und Mysterium (2005) oder in Das Oratorium Israel in Egypt von Georg Friedrich Händel (2015). Ähnliches gilt für seine Beschäftigung mit Literatur, allen voran mit Thomas Mann (Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, 2006).
Jan Assmann erhielt im Laufe seiner akademischen Karriere zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den er gemeinsam mit seiner Frau Aleida Assmann 2018 entgegennahm (siehe Beitragsbild!). Studienaufenthalte und Gastprofessuren u.a. in Paris, Jerusalem, Oxford sowie an mehreren amerikanischen Universitäten (Yale, Houston, Chicago), darüber hinaus die Übersetzungen seiner Hauptwerke in zahlreiche Sprachen (darunter auch ins Arabische) zeugen von einer akademischen Anerkennung weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus.
Zweifellos verliert die Wissenschaft mit Jan Assmann einen umfassend Gelehrten und großen Intellektuellen. Die Erinnerungen seiner Liebsten, aber auch sein beeindruckendes geistiges Werk mögen ihm einen würdigen Platz im kollektiven Gedächtnis sichern.
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Johannes Thonhauser studierte Theologie, Geschichte und Soziologie in Graz. In seinem 2008 erschienenen Buch Das Unbehagen am Monotheismus beschäftigt er sich mit der Debatte um Jan Assmanns Thesen zum Monotheismus. In vielen weiteren Publikationen greift er auf Assmanns Ansatz der Gedächtnisgeschichte zurück. Er lehrt und forscht an den Standorten Klagenfurt und Graz der Privaten Pädagogischen Hochschule Augustinum.
Beitragsbild: Von Martin Kraft, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=73571929