Im Gespräch mit zwei lateinamerikanischen Künstlerinnen zeigt Elke Pahud de Mortanges, was sie als Theologin der Kunst verdankt. Und wie in den memorialen Umkehrfiguren der Kunst sich ihr das bleibend gefährdete, fragile Humanum entbirgt.
Ich gebe es zu: ich gehe fremd. Schon lange. Und das notorisch. Ich lege mich zu den Künsten: zu Maler:innen, Dichter:innen und Filmemacher:innen. Und lerne bei ihnen Sehen und Fragen. Sie konfrontieren mich unerbittlich mit dem Ambivalenten und Ungelösten, dem Gewalttätigen und Rohen, dem Nackten und Wunden in der Welt, in jedermensch und auch in mir. Ich verdanke Andy Warhol, Alfred Hrdlicka und Marina Abramović, Paul Celan, Annie Ernaux und Arnold Stadler, Salvador del Solar, Álvaro Delgado-Aparicio und Claudia Llosa unendlich viel. Nein, nicht viel. Eigentlich alles. Mich selber und meine ganze theologische Existenz. Aber, Hand auf’s Herz, ist das nicht pathetisch und fragwürdig noch dazu, sich solchermassen Kulturen und Ästhetiken anzueignen? Ich denke nicht. Und ich will mich erklären. Wie? Nun, kommen Sie einfach mit mir mit. Schauen Sie mir beim Fremdgehen mit der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo (*1958) und der peruanischen Filmregisseurin Claudia Llosa (*1976) zu.
1.
„The work is very fragile.
Please do not step onto the names”
Doris Salcedo
Doris Salcedo weiss, was ihre Kunst vermag: „Art exceeds knowledge – specifically, the knowledge or present understanding of what it means to be human.” Und so sind es die unbetrauerten Toten, die im Zentrum ihrer begehbaren Installation Palimpsest stehen, welche noch bis zum 17. September 2023 in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel (Schweiz) zu sehen ist.
Raumgreifend ist sie, die Installation. Und doch ist der weite Raum leer und die Wände sind kahl. Und so geht der Blick auf den Boden, auch gelenkt durch die strenge Ermahnung: „The work is very fragile. Please do not step onto the names“. Und so gehe ich, den anderen gleich, den Blick nach unten gewandt; achtsam, sanft und beinahe zögerlich mit den Füssen meinen Weg suchend, um auch ja nicht einen einzigen der 171 Namen von Flüchtlingen und Migrant:innen auszulöschen, die auf 66 Bodenplatten aufgetragen sind.
AISHA, MALAK, EMAN, ELAHA, TALU
Alle weggespült und ausgelöscht. Ertrunken in den Wassern von Mittelmeer und Atlantik auf der Suche nach einem besseren Leben. Über die Namen tragenden Bodenplatten legen sich von unten aufsteigende Wassertropfen. Diese formen 129 neue Namen und überschreiben die ersten. Auch sie verkörpern und materialisieren weggespülte und ausgelöschte Leben. Das Wasser kommt, das Wasser geht. Und mit ihm die wässrigen Tropfen der Erinnerung. Und die aus Sand auf die Bodenplatten geschriebenen Namen, sie werden wieder sichtbar. Und so geht das und vergeht doch nicht. Ein begehbares Palimpsest aus Wasser und Sand. Fragil und wund die Leben, die einmal waren und nie wieder sein werden. Fragil und wund das Erinnern und das Vergehen. Fragil und wund ich, die Besucherin, ob meiner Achtsamkeit in der Ausstellung und meiner Unachtsamkeit im Leben. Humans are very fragile. Please do not step onto their bodies. Habe ich das nicht vorher gewusst? Beschämt gebe ich zu: ich habe es gewusst. Aber jetzt weiss ich es anders. Jetzt wissen es auch meine Augen und meine Füsse, meine Haut und mein Herz.
2.
Die Milch des Leids
und nur eine Kartoffel als Schutz
Claudia Llosa
In Claudia Llosa’s Film La teta asustada (wörtl. Die erschrockene Brust; engl. The Milk of Sorrow), der in der peruanischen Hauptstadt Lima spielt, tragen die beiden indigenen Hauptfiguren das kollektive Trauma einer ganzen Nation auf ihrem Leib. Und der Schmerz darüber vergeht (fast) nicht. Die Mutter, Perpetua, singt noch – oder erstmals? – im Sterben „davon“. Darüber sprechen konnte sie nie. Auch ihre Tochter Fausta, die Frucht und Zeugin der Vergewaltigung(en) ihrer Mutter durch Militärs in Zeiten des Sendero Luminoso während der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts war, trägt diesen Schmerz in sich.
Die junge Fausta hat sich eine Kartoffel zwischen die Beine gesteckt. Zum Schutz und aus Angst. Die Knolle treibt in ihrer Vagina harte Triebe, nach innen wie nach aussen. Die nach aussen schneidet Fausta mit einer Nagelschere ab. Wenn es Fausta triggert – etwa wenn sie ein an der Wand hängendes Foto eines weissen Militärs sieht – hilft ihr zum Leben nur das, was ihrer Mutter beim Sterben half: sie singt sich Lieder in Quechua. Diese Lieder werden im Film nicht übersetzt, was authentisch ist und von Gewicht. Denn so steht die weisse Peruanerin Claudia Llosa mit ihrem Film ein für das Recht der indigenen Frauen Perus, ihre Geschichte(n) selber zu erzählen. In ihrer Sprache. Es sind dies Geschichten von sexueller Gewalt, die Hand in Hand gehen mit Rassismus und Klassismus, mit politischer und sozialer Exklusion. Mit dem, was man in Peru choleando nennt.
Am Ende des Films legt Fausta die in Tücher gewickelte tote Mutter in den Sand am Ufer des Pazifiks, auf halbem Weg von Lima ins Hochland. Wir sehen nicht mehr, wie das Wasser des Ozeans Perpetua mitnimmt. Aber es wird kommen. So wie in Salcedos Palimpsest das Wasser kommt und geht und die Namen der unbetrauerten Toten in wässrigen Tropfen schreibt.
Der Himmel aber, der sich über Fausta’s Morgen spannt, ist am Ende weit und hell. Fausta hat nicht nur die Mutter betrauert, sondern sich auch befreit von der Milch des Leids. Die Kartoffelpflanze, sie blüht jetzt. Zart und weiss. Nicht mehr zwischen ihren Beinen, sondern in Pachamama, in Muttererde.
3.
„A departure with no return, no triumph, no award“
Oder: Wo ich daheim bin
Nach dem Fremdgehen, so will es das Leben und so sagt es uns die Erfahrung, geht mensch (meist) wieder zurück. Zurück dahin, wo er_sie wohnt und daheim ist. Und die Sprache kennt. Und weiss, wo Bett, Brot und Salz stehen. Auch ich? Will ich überhaupt zurück nach dieser nah angehenden und mich tief berührenden Unterweisung?
Saledos Palimpsest und Llosas Milk of Sorrow sind mir zur Schule und zum Unterricht geworden. Ihre Kunst hat mich erfahren lassen, was ich wusste und nun doch anders weiss. In ihren nur vermeintlich „anderen“, memorialen Umkehrfiguren der Kunst hat sich mir das bleibend gefährdete, fragile Humane entborgen. Sie haben mich erfahren lassen, dass mein vermeintliches Fremdgehen mit ihnen gar kein Gehen ins Fremde, sondern ein Kommen ins Eigene ist. Die klassische Theologie hat für meine Erfahrung des Heimkommens nur den sperrigen Begriff der loci theologici (alieni) zur Hand und hat so die Künste zu Unrecht mit dem Begriff des Anderen im Sinne des Fernen und Fremden kontaminiert.
Und so bleibt mein Fremdgehen, auch wenn es letztlich ein Heimkommen ist, dies: „a departure with no return, no triumph, no award“ (Doris Salcedo). Und das muss die Theologin, die ich bin, dann erst einmal aushalten. Dass „meine“ vermeintlich klassische Theologie mir kein Obdach mehr gewährt und ihr Salz mir schal geworden ist; dass mein Heimkommen im Anderen zugleich einen immerwährenden Heimweh-Schmerz in mir generiert (Danke, Arnold Stadler). Ein Heimweh nach einem Morgen, aus dem das Humane heterotopisch leuchtet.
Solchermassen von Heimweh geplagt, halte ich Ausschau nach Theolog:innen, die wie die Künstlerinnen Salcedo und Llosa ins Offene und an die Ränder gehen und sich aussetzen und ebenso fragil und fluid sind, wie das Humane selber, für das sie einstehen. Die früh verstorbene argentinisch-britische Theologin Marcella Althaus-Reid (1952-2009), sie war so eine. Ihre queere und, wie sie selbst sagt, schamlose Theologie ohne Unterwäsche[1], in der Mega-City Buenos Aires geboren, war zu ihrer Zeit Avantgarde. Und ich meine: Sie ist es heute noch. „Indecent Theology is produced by that element of sexual dissidence, rooted in class analysis and the reality of life of the poor (…) mixed with the complexities of issues of race, sexuality, economic exclusion.” (Marcela Althaus-Reid).
4.
Und so gehe ich meinen Weg an der Seite von Marcela, Doris und Claudia. An der Seite von Andy, Alfred, Marina, Annie und Arnold, Salvador und Álvaro.
Und bin nackig und voller Heimweh.
Auf der Suche.
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Elke Pahud de Mortanges, Prof. Dr. theol., Universität Freiburg i.B.
Die Autorin gibt hier einen Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Ihr im Entstehen begriffenes Buch Theologie ohne Unterwäsche 2.0 ist den Werken jener Künstler:innen gewidmet, denen sie ihre theologische Existenz verdankt. Das Buch wird 2024 erscheinen.
ORCID: 0009-0007-3744-558 X
[1] Althaus-Reid, Marcella Maria (1999). On Wearing Skirts Without Underwear: ‚Indecent Theology Challenging the Liberation Theology of the Pueblo‘. Poor Women Contesting Christ. Feminist Theology 7 (20):39-51.
Foto: Hydraulik, gemahlener Marmor, Harz, Korund, Sand und Wasser; Masse variabel Installationsansicht Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 2022; Courtesy of Doris Salcedo and White Cube
© Doris Salcedo; Foto: Mark Niedermann