In Zeiten planetarer Verwobenheit plädiert Claus-Dieter Osthövener für ein kosmopolitisches Verständnis von Nächstenliebe und dafür, neu darüber nachzudenken, was gutes Leben ist.
Als Kosmopolit ist man Bürgerin (oder Bürger) des Kosmos, der Welt. Es ist eine antike griechische Idee, die sich zugleich aber auch kritisch verhält zum antiken Stadtstaat, der Polis, dem Zentrum allen politischen Nachdenkens damals. So eine Polis konnte sehr inklusiv und demokratisch sein und zugleich ausgrenzend und tyrannisch, je nachdem. Frauen hatten dort nichts zu bestimmen, Sklaven noch weniger. Und so prägte Diogenes (ja: der in der Tonne) den Ausdruck „Weltbürger“. Unzugehörig zum normalen bürgerlichen Leben.
Der unzugehörige Jesus
Christinnen sollte dieser Gedanke vertraut sein, so unähnlich war Jesu Lebensweise der des Diogenes nicht. Unzugehörig auch er, in vielfacher Weise. Es gehört zu den eigenwilligen Entwicklungen der jüdischen Bewegung, die später das Christentum werden sollte, daß dieser Unzugehörige nur einige Jahrzehnte nach seinem Tod als Zentrum des Kosmos hymnisch verklärt werden würde (wie das erste Kapitel des Briefs an die Kolosser eindrucksvoll zeigt). Und es ist kein Wunder, daß eben dieser Hymnus in der gegenwärtigen ökotheologischen Diskussion als Ausweis einer vertieften Menschwerdung Gottes (deep incarnation) gilt, die nicht nur die Menschenwelt umgreift, sondern buchstäblich alles Leben und alle Prozesse dieser Welt.
Ausgreifen auf das denkbar Umfassendste
Ein solches Ausgreifen auf das denkbar Umfassendste ist – wie man sieht – nicht neu, aber immer wieder einmal attraktiv. Das Jahrhundert der Aufklärung war so eine Zeit, die einem Weltbürgertum viel abgewinnen konnte. Nach den katastrophischen Erfahrungen nationalistischer und totalitärer Kriege im letzten Jahrhundert hat Hannah Arendt das aktive Leben einer verbundenen Menschheit skizziert. Und auch andere als die westlichen Kulturen kennen diese Faszination des kosmischen Denkens. Doch bleibt da nicht etwas auf der Strecke? Wird hier nicht das Besondere, das Individuelle, das Lokale und Vertraute zur Seite gedrängt und für unwichtig erklärt? Und ist nicht ohnehin diese Schwärmerei für „die Welt“ einigen wenigen Gebildeten und Gutsituierten vorbehalten? Zeigt sich etwa auch hier wieder ein Ungleichgewicht der Macht und sei es nur der Deutungshoheit darüber, was hier Welt und was hier Kosmos heißt?
Allen soll es nützen, vor allem jenen, die sonst nur wenig haben
„Wem nützt es?“ ist eine naheliegende kritische Frage, wenn es um hehre Ideen und Ideale geht. Und ein dem Christentum naheliegendes Kriterium bei der Beantwortung dieser Frage sollte tatsächlich sein: Allen sollte es nützen, nicht nur wenigen. Und darüberhinaus sollte es vor allem wiederum jenen nützen, die sonst nur wenig haben und wenig beachtet werden. Sie haben Vorrang, immer. Läßt sich ein Weltbürgertum denken, das diesen Anforderungen genügt? Die Diskussion dieser Frage ist seit vielen Jahren in vollem Gange, wenngleich weniger in Deutschland oder Europa, sondern vor allem anderwärts in der Welt. Wir (in Deutschland, in Europa) haben da vieles zu lernen (und müssen auch lernen, zuzuhören).
Grenzenüberschreitende Solidarität
Die Theologin Namsoon Kang hat ein faszinierendes Buch über eine kosmopolitische Theologie geschrieben, die sich mit Ideen der planetarischen Gastfreundschaft, der Nächstenliebe und Solidarität befaßt.1 Es ist unvermindert aktuell, gerade im Blick auf die derzeit wieder besonders heftig geführten identitätspolitischen Debatten. Partei zu ergreifen ist eine Art Volkssport geworden. Auf der richtigen Seite zu stehen, ist überlebenswichtig. Immer vorausgesetzt, die Richtigkeit der richtigen Seite ist über jeden Zweifel erhaben. Und eben hier neigt die identitätspolitische Diskussion dazu, unduldsam und doktrinär zu werden, Eindeutigkeiten zu behaupten, wo bei näherem Hinsehen komplexe und komplizierte Beziehungen miteinander verwoben sind. Der Nahostkonflikt (eigentlich ein ganzes Bündel von Konflikten) ist ein bitteres und bedrückendes aktuelles Beispiel. Gefragt ist gerade jetzt eine Art grenzenüberschreitende Solidarität.
Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Menschen im Zeitalter planetarer Verwobenheit
Die Pointe einer christlichen Form des Kosmopolitismus besteht darin, das lokale, den Einzelnen und die Einzelne nicht zugunsten einer umfassenden Allgemeinheit zu überspringen oder an den Rand zu drängen, sondern gerade durch die Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Menschen diese Weltbürgerschaft zu gewährleisten. Man kann das rechtsförmig ausdrücken (Menschenrechte) oder auch philosophisch (Menschenwürde), oder eben dadurch, daß man sich der Begegnung mit dem einzelnen Menschen aussetzt, also auch: sich dadurch irritieren läßt. Namsoon Kang plädiert für eine religiös grundierte Unbehaustheit, auch dies eine Idee, die Christinnen nicht unbekannt sein sollte. Jede kennt das „wandernde Gottesvolk“. Und doch: es geht nicht so sehr um das eigene Gefühl und die eigene Verlorenheit, sondern um die Anteilnahme und Empathie für andere. Die Frage „Wer ist mein Nächster?“ muß immer wieder neu gestellt und neu justiert werden. Im Zeitalter planetarer Verwobenheit sind auch die Fernsten die Nächsten und sie vielleicht in besonderer Weise. Denn ihr Ergehen ist nicht zuletzt durch uns (Deutsche, Europäer) beeinflußt, mit oder ohne Absicht.
Neu darüber nachdenken, was eigentlich ein gutes Leben sein könnte
Weltbürger:in wird man nicht, indem man sich in eine Tonne zurückzieht (wiewohl auch das seinen guten Sinn haben mag), sondern indem man die eigenen Grenzen durchlässig werden läßt und sich dafür einsetzt, daß jeder und jedem ein gutes Leben ermöglicht wird. Das ist unbequem, weil es für mehrfach überprivilegierte Gesellschaften wie unsere unangenehme Fragen mit sich bringt.2 Schließlich geht es nicht darum, allen anderen alles Gute zu wünschen, solange man selbst weiterleben kann wie bisher. Es geht darum, neu darüber nachzudenken, was eigentlich ein gutes Leben sein könnte. Ein Leben, das nicht nur die eigene Gruppe, die eigene Gesellschaft im Blick hat, sondern ein Leben, das sich dadurch als weltbürgerlich erweist, daß es tätigen Anteil nimmt am Wohlergehen aller Lebewesen dieser Welt, menschlichen wie nicht-menschlichen. Viel verlangt? Gewiß.
Gottes Liebe erscheint im Angesicht des verstörenden Anderen
Ein Christentum, das sich nicht in die reine Innerlichkeit verflüchtigt, sondern das vom Judentum zumindest so viel gelernt hätte, daß es immer auch auf das Verhalten in dieser Welt ankommt, kann eine solche Form der vertieften Solidarität in den Mittelpunkt stellen. Von hier aus erschließt sich nicht nur die Selbst- und die Nächstenliebe, sondern auch die Gottesliebe neu. Gottes Liebe erscheint im Angesicht des verstörenden Anderen und in der Überwindung der eigenen Irritation. Vielleicht kann es gelingen, den Kosmos zur Heimat zu machen. Für Alle.
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Beitragsbild: Gerd Altmann auf pixabay.
- Namsoon Kang: Cosmopolitan Theology. Reconstituting Planetary Hospitality, Neighbor-Love, and Solidarity in an Uneven World (Nashville 2013). ↩
- Eine ganze Reihe solcher unangenehmer Fragen stellen Hedwig Richter und Bernd Ulrich in ihrem neuen Buch: „Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“ (Köln 2024). ↩