Seit fast einem halben Jahrhundert treffen sich jedes Jahr im Sommer Juden und Christen in Deutschland, um biblische Texte gemeinsam zu lesen. Christiane Schubert und Gregor Scherzinger beleuchten die Bedeutung dieser Woche für den jüdisch-christlichen Dialog.
Vom 24.-31. Juli 2016 / 18.-25. Tamus 5776 fand in Haus Ohrbeck bei Osnabrück die 48. internationale jüdisch-christliche Bibelwoche statt. Rund hundertzwanzig Jüdinnen und Juden, Christen und Christinnen aus verschiedenen Ländern kamen zusammen, um gemeinsam biblische Texte – dieses Jahr die Psalmen 107-118 – zu lesen und zu studieren, sich über Themen des jüdisch-christlichen Dialogs auszutauschen und zum Ende der Woche gemeinsam Schabbat und Sonntag zu feiern. Wohltuend ist die Zusammensetzung der Gruppe: Kinder gehören ebenso dazu wie Professoren, die Physikerin ebenso wie der Theologe.
Herzstück der Woche, die in Kooperation mit dem Leo Baeck College in London stattfindet, sind die vormittäglichen Arbeitsgruppen, die der Diskussion der biblischen Texte gewidmet sind. Den verschiedenen Interessen der Teilnehmenden entsprechend gibt es ein weites Spektrum solcher Gruppen. Es reicht von Gruppen, die allein am hebräischen Text arbeiten, bis hin zu Gruppen, die sich an einer kreativ-künsterlischen Interpretation der Texte probieren. Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch, und in geübter Manier und mit Hilfe von vielen freiwilligen Übersetzerinnen und Übersetzern wird sorgfältig darauf geachtet, dass alles Gesagte in die jeweils andere Sprache übertragen wird. Nachmittags besteht die Gelegenheit, in so genannten „Speakers‘ Corners“ eigene Projekte vorzustellen oder aktuelle Fragen mit anderen Interessierten zu besprechen. Oder einfach auf der Terrasse zu sitzen, Kaffee zu trinken und mit wechselnden Gesprächspartnern über „Gott und die Welt“ zu plaudern. Der Abend steht für kreative und künstlerische Gestaltung zur Verfügung – Konzerte, Kantillationen, Filme usw. Mit den Feiern von Schabbat und anschliessend Sonntag findet die Woche zugleich ihren Höhepunkt und ihren Abschluss.
Die eigene Rede- und Denkweise muss deshalb daran gemessen werden, ob sie dem Gegenüber am Mittagstisch gerecht wird.
Während die Lektüre hebräischer Bibeltexte ihren Dreh- und Angelpunkt ausmacht, hat diese ausserordentliche Woche darüber hinaus im Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog eine grosse Bedeutung. So treffen sich nicht allein exegetisch interessierte Menschen, sondern ebenso Menschen – und dies sind oft dieselben -, die einen lebendigen Dialog leben möchten, einen Dialog, in dem das Christ- und Jude-Sein offenbart ist. Man will Einblicke in Alltag und Denkwelt der anderen gewinnen, und man ist ebenso bereit, diese Einblicke in die eigene Religion zu gewähren. Das Zusammenleben ist geprägt durch eine über Jahre gewachsene Selbstverständlichkeit im Miteinander. Fragen sind erlaubt und gar erwünscht, die meisten finden auch Antworten. Niemand muss seine Religion verstecken. Unweigerlich verlieren Judentum und Christentum die Gestalt, wie man sie sich vielleicht über ein Lehrbuch aneignen könnte. Im Idealfall verschwinden sie gar als das abstrakte Dritte in der persönlichen Begegnung.
Dazu bedarf es des Bemühens um Verständigung. Die Textarbeiten sind dafür so etwas wie der Katalysator. Die gemeinsame Arbeit am Text zwingt zu vielem: zur Diskussion unterschiedlicher Übersetzungen, zur Rechtfertigung eigener Interpretationen, zum Befragen des eigenen Vorverständnisses bei der Lektüre. Dialogerfahrene können ein Lied davon singen, wie oft noch Stereotypen bedient werden, welche die Theologie der letzten 70 Jahre schon abgehakt hat. Das Ausspielen des neutestamentlichen Liebesethos-Gottesbildes gegen den alttestamentlichen Gewalt-Gott ist in diesem Repertoire weiterhin anzutreffen, ebenso die unreflektierte Identifikation gegenwärtigen Judentums mit dem Volke Israel aus der Tora, oder gar den „Juden“ aus Evangelien und Briefliteratur. Die eigene Rede- und Denkweise muss deshalb immer wieder daran gemessen werden, ob sie dem Gegenüber in der Lektüregruppe oder am Mittagstisch auch gerecht wird. Nimmt sie seinen und ihren Glauben ernst?
So bildet die Bibelwoche einen günstigen Rahmen für gelingenden Dialog. Sie ermöglicht persönliche Bekanntschaften und verunmöglicht es, dem anderen aus dem Weg zu gehen. Sie fördert die Bereitschaft, vorgefertigte Meinungen zu hinterfragen und schneller zu verändern. Als Folge wird deutlich, dass eine verantwortete Verkündigung nur nach einer Verständigung im Dialog gelingt, einer Verständigung über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der gleichzeitigen und verwobenen Tradierungs- und Rezeptionsgeschichte der Texte.
Die Bibelwoche als Lackmustest
Gleichzeitig ist die Bibelwoche eine Art Lackmustest für jede Theologie des Dialogs. Im engen Kontakt zwischen Juden und Christen in dieser Woche wird offenbar, wie theologische Bestimmungen und offizielle Verlautbarungen einzuordnen sind. So können Erklärungen religiöser Institutionen durchaus ein Stirnrunzeln verursachen, wenn ihre theologischen Einordnungen die Erfahrungen des gelebten Dialogs nicht wirklich aufnehmen. So begrüssenswert beispielsweise eine theologische Selbstvergewisserung und Standortbestimmung aufgrund des 50jährigen Jubiläums von Nostra Aetate ist, so unbefriedigend ist für den konkreten Dialog dann das Ergebnis, dass zwar der Judenmission eine deutliche Absage erteilt wird, es bei der Würdigung und Anerkennung des jüdischen Glaubens letztlich aber nur für die theologisch unterbestimmte Figur des „Geheimnisses“ reicht. Eine solche Zurückhaltung im Urteil kann man einem theologischen Papier durchaus zu Gute halten, und sie mag hinsichtlich der Natur seines Entstehungskontextes in einem Expertengremium mit unterschiedlichen Positionen sogar lobenswert sein. In seiner Zweideutigkeit jedoch wirft es bei den Interessierten in der „Speakers‘ Corner“ mehr Fragen auf als es Antworten gibt.
Meine Religion gehört mir!
Bei allem Gelingen und dem Beispielcharakter, den diese Woche hat, werden auch Grenzen spürbar. Trotz der Tatsache, dass die meisten Teilnehmenden Expertinnen und Experten im jüdisch-christlichen Dialog sind und viele schon seit Jahren zum Erfolg der Bibelwoche beitragen, gehören auch Enttäuschungen und sogar gegenseitige Verletzungen zu ihren Erfahrungen.
Dazu gehört z.B. das unbefriedigende Gefühl, dass noch kein gelingender Austausch stattfindet, wenn jüdische und christliche Auslegungen der Schrift – hin und wieder – beziehungslos nebeneinandergelegt werden. Das gleiche gilt, wenn es zu Besitzstandswahrungen kommt: die rabbinische Auslegung “gehöre” den Juden, die Kirchenväter-Kommentare seien Eigentum der Christen, die Deutungshoheit über die Texte des Neuen Testaments stehe ebenso nur ihnen zu… Hier muss man fragen: Welche Bedeutung haben die Interpretationen der anderen für uns? Wie ist heute mit verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Texte umzugehen, besonders, wenn in ihnen die jahrtausendealte Abgrenzungsgeschichte zum Vorschein kommt?
Begegnung oder „Vergegnung“
Angesichts der Pluralität von Deutungen reicht es nicht, sich auf schon gewonnenes Terrain zurückzuziehen, was in diesem Fall die Texte der hebräischen Bibel sind. Bei ihnen wird anerkannt, dass sie zwei gleichberechtigte Überlieferungswege besitzen. Welche Rolle aber nimmt die damit verbundene “Vergegnungsgeschichte” ein – die Historie wechselseitiger Missverständnisse, Unterstellungen und verpasster Gelegenheiten? Und als wie eng ist die Beziehung der beiden “Geschwister” des Glaubens zu bestimmen? Sicher ist immerhin, dass sie sich weit über die Geburtsstation hinaus gegenseitig beeinflusst haben.
Aber nicht nur gefestigte Strukturen im Denken werden in der Bibelwoche herausgefordert, auch zu schmerzlicheren Erfahrungen kann es bei allem guten Willen kommen. Die Erfahrung etwa, dass mein Gegenüber in seinem Verstehen-Wollen meines Glaubens vorbei zielt an dem, wie ich mich selbst verstehe und im Eifer doch nicht richtig zuhört, wenn ich mich zu erklären versuche. Oder die Erfahrung, dass man doch etwas “falsch” macht, beispielsweise bei einer Jüdin am Schabbat für ein Buch am Schriftenstand bezahlen möchte und dann mit einem schlechten Gewissen zurückbleibt… Es sind Erfahrungen, in denen man mitten in der Freude über den Dialog und die Verbundenheit doch wieder blitzartig vom Getrenntsein in den verschiedenen Religionen eingeholt und bei allem Interesse und der Offenheit zur Anteilgabe der Anspruch spürbar wird: “Meine Religion gehört mir!”
Lernen, mit Brüchen, Verschiedenheiten und noch offenen Fragen zu leben
Und genau das macht die Besonderheit und auch den Wert der Bibelwoche aus. Sie ist ein Ort, an dem neben allem Erfolg auch die Grenzen im jüdisch-christlichen Gespräch offenbar werden. Da kann es kein Sich-Einnisten in der Illusion geben, dass doch alles schon reibungslos läuft im Miteinander, wenn nur das ehrliche Interesse da ist. Da wird die noch lange nicht überwundene Prägung durch bestimmte Denkstrukturen offenbar, und es brechen beunruhigende Fragen nach dem Sinn und den Möglichkeiten des gemeinsamen Bibelstudiums auf. Da gibt es am Ende des Tages nicht immer eine für alle optimale Lösung offener Fragen, oder man muss in dem Bewusstsein auseinandergehen, dass man sein Gegenüber unter Umständen noch immer nicht ausreichend verstanden hat.
Insofern ist die Bibelwoche eine großartige Gelegenheit, sich in Ambiguitätstoleranz einzuüben, zu lernen, mit Brüchen, Verschiedenheiten und noch offenen Fragen zu leben – und gerade so ein wirklich tragfähiges, weil belastbares Fundament für ein Miteinander und einen echten Dialog zu bauen, der mit der Spannung von Nähe und Distanz umzugehen weiss.
Im nächsten Jahr findet die Bibelwoche vom 23.-30. Juli 2017 / 29.Tamus-7.Aw 5777 statt.
Die Theologin Dr. Christiane Schubert wirkt als Referentin für den interreligiösen Dialog im Bistum Hildesheim. Dr. Gregor Scherzinger wurde an der Universität Fribourg/CH promoviert mit einer Arbeit zu: Normative Ethik aus jüdischem Ethos. David Novaks Moraltheorie.
Foto: Oliver Pracht, www.oliverpracht.com.