Am 4. Juli endete die offizielle Gedenkperiode, in deren Rahmen Ruander und Ruanderinnen an den Genozid vor 25 Jahren erinnerten. Christine Schliesser blickt für uns auf den schwierigen Versöhnungsprozess in Ruanda.
“Rwanda, in a kind of rebirth”, so überschrieb die New York Times am 24. Mai diesen Jahres einen Beitrag anlässlich des 25jährigen Gedenkens an den Genozid in Ruanda. 25 Jahre nachdem eine irrsinnige Gewaltwelle durch das kleine ostafrikanische Land schwappte, die bis zu eine Million Menschen mit in den Abgrund riss. 25 Jahre nachdem die Weltgemeinschaft tatenlos zusah, wie vor allem Angehörige der Tutsi-Minderheit, aber auch zahllose moderate Hutu ermordet wurden.
25 Jahre sind eine lange Zeit. Aber auch lang genug für „a kind of rebirth“, eine Wiedergeburt?
Wer heute am Flughafen in Ruandas Hauptstadt Kigali ankommt, findet sich im warmen Buzz einer modernen, aufstrebenden Großstadt wieder, die sich in ihrem Ensemble an gehobenen Hotels, schicken Konferenzanlagen und Einkaufsmöglichkeiten vor allem darin von anderen Großstädten unterscheidet, dass sie penibel sauber gehalten wird. Paul Kagame, Ruandas Langzeitpräsident, hat ein ehrgeiziges Ziel: Ruanda soll das Singapur Afrikas werden. Und er hat schon viel erreicht, geradezu Unglaubliches, vor dem Hintergrund der Tragödie vor 25 Jahren. Unternehmen, Banker und Investoren aus der ganzen Welt sind auf Ruanda aufmerksam geworden.
Die Schweizer Großbank Credit Suisse berichtete jüngst ungewohnt euphorisch über das „Wirtschaftswunder“ und die hervorragenden Investmentbedingungen. In der Begeisterung wird allerdings schnell übersehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung unverhältnismäßig stark zu Gunsten der urbanen Eliten geht, während die ländliche Mehrheit deutlich weniger profitiert. Zugleich ebben die Berichte über die katastrophale Menschenrechtsbilanz der Regierung nicht ab, die es überaus geschickt versteht, dem kollektiven schlechten Gewissen der internationalen Gemeinschaft für ihr Versagen während des Genozids einen faktischen Freifahrtschein für massive Menschenrechtsverletzungen zu entlocken.
Die autoritäre Regierung in Ruanda macht „Einheit und Versöhnung“ zur Voraussetzung für das nationale Überleben.
Für die autoritäre Regierung Kagames ist das Wirtschaftswunder seines Landes eng mit seiner „Politik der nationalen Versöhnung“ verbunden. In diesem Land, nur halb so groß wie die Schweiz, jedoch mit rund 13 Millionen Einwohnern eines der am dichtesten besiedelten Länder auf dem afrikanischen Kontinent, wird Versöhnung zum politischen Instrument und zur Voraussetzung für das nationale Überleben gemacht. Der schnellste Völkermord der jüngeren Geschichte erfasste nahezu die gesamte Bevölkerung. Zu seinen Kennzeichen gehörten nicht nur seine Kürze und Intensität, seine Verhinderbarkeit und seine Grausamkeit – viele Menschen wurden mit Macheten in Stücke gehauen und zum Sterben in Latrinen geworfen –, sondern auch die Tatsache, dass sich TäterInnen und Opfer nicht selten kannten. Sie waren NachbarInnen, Freunde und Freundinnen oder gar Familie. Heute, 25 Jahre nach dem Völkermord, neigen sich die Haftstrafen auch derer dem Ende entgegen, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Mörder und Vergewaltiger werden entlassen und kehren in ihre Dörfer zurück, nicht selten der Ort ihrer Verbrechen und die Heimat der Überlebenden. Der Ort, an dem Schmerz und Wut, Rache und Angst sich vereinen. Wie soll, wie kann hier Versöhnung gelingen?
Kagames „Politik der nationalen Versöhnung“ treibt den Versöhnungsprozess auf allen Ebenen gezielt voran. Anders als Südafrika nach dem Ende der Apartheid entschied sich Ruanda gegen eine Politik der Amnestie, sondern verfolgte das Ziel, alle am Völkermord Beteiligten vor Gericht zu bringen. Um die hoffnungslos überfüllten Gefängnisse zu entlasten, besann sich Ruanda auf seine eigenen Mechanismen alternativer, traditioneller Gerichtsbarkeit: Gacaca. In modernisierter Form wurden mehr als 11.000 dieser traditionellen Dorfgerichte im ganzen Land etabliert und unter dem Vorsitz allgemein anerkannter Laienrichter damit beauftragt, bei weniger und mittelschweren Verbrechen die Wahrheit zu finden und Recht zu sprechen. Schwere Völkermordverbrechen wurden an den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha überwiesen. Mit seinem transformativen statt retributiv ausgerichteten Gerechtigkeitsverständnis zielten die Gacaca auch auf Versöhnung und Wiedergutmachung, statt ausschließlich auf Strafe zu setzen. Aller teils gerechtfertigter Kritik zum Trotz war Gacaca die einzige und damit beste Alternative für dieses Land.
Während jeder offene Ethnizitätsdiskurses verunmöglicht wird, wird der Erinnerungsdiskurs gezielt ethnisiert.
Auf nationaler Ebene treibt die „National Unity and Reconciliation Commission” (NURC) verschiedene Sensibilisierungs- und Versöhnungsprojekte im ganzen Land voran. Ethnizität wurde als Hauptübel identifiziert und die Begriffe „Hutu“, „Tutsi“ und „Twa“ verboten. Jeglicher offene Ethnizitätsdiskurs ist damit verunmöglicht. Stattdessen wird nun die nationale Einheitsidentität unter dem offiziellen Motto „Wir sind alle Ruander“ (Ndi Umunyarwanda) propagiert. Mit diesem ambitionierten Social Engineering-Projekt geht eine zentralisierte Gedenkpolitik einher, in der anderslautende Narrative keinen Platz haben. In bemerkenswerter Paradoxie zur sonstigen De-Ethnisierung wurde der Erinnerungsdiskurs in den letzten Jahren zunehmend ethnisiert. Galt das Gedenken zunächst dem Genozid von 1994, wird nunmehr nur noch des „Genozids gegen die Tutsi“ gedacht. Nicht nur, dass sich dies nur allzu leicht mit einer Kollektivschuldthese gegen die Hutu verbinden lässt, auch die bisher ungesühnten Verbrechen der regierenden (Tutsi) RPF-Partei gegen Hutu im In- und Ausland geraten damit schnell aus dem Blick.
Versöhnung und Vergebung als „Erprobung des Unmöglichen“.
Mit über 90% ChristInnen gehört Ruanda zu den christlichsten Ländern weltweit; die Kirchen sind wichtige Player in der Zivilgesellschaft. Die Narrative der Regierung von Versöhnung und Vergebung stoßen in der christlichen Botschaft von Gnade und Neuanfang auf ein verstärkendes Echo. Was Jacques Derrida als „Erprobung des Unmöglichen“ beschreibt, scheint in den Kirchengemeinden Realität zu werden: Versöhnung und Vergebung. So etwa in der kleinen Landgemeinde Remera, einem Dorf im Westen Ruandas. Der Pastor der dortigen presbyterianischen Gemeinde, ein ausgebildeter Mediator, hat die „Lights“ ins Leben gerufen – benannt nach Matthäus 5,14. Diese Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kontakte zu Überlebenden und zu Tätern zu knüpfen und diese dann selbst miteinander in Beziehung zu bringen. In wöchentlichen Treffen der „Lights“ werden Bibeltexte diskutiert, aber auch Einsichten aus der Traumatherapie und Konfliktlösung vermittelt. Vergeben bedeutet nicht vergessen – der Gedenkort mit den Gräbern der Ermordeten liegt direkt gegenüber vom Treffpunkt der „Lights“. Vergebung heißt hier, Beziehungen neu wagen. Nicht die Vergangenheit, sondern ihre Schatten im Licht des Evangeliums hinter sich zu lassen. Vergebung als Gabe, die Hannah Arendt mit einer Geburt vergleicht. Wird hier das Unmögliche möglich oder handelt es sich um eine reine „Vernarbung der Schuld“ (Dietrich Bonhoeffer)? Wer vermag das zu beurteilen?
Vielleicht zeichnen sich hier tatsächlich Ansätze eines neuen Ruanda ab. „Rwanda, in a kind of rebirth.“
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Autorin: Christine Schliesser ist Privatdozentin für Systematische Theologie am Ethik-Zentrum der Universität Zürich.
Beitragsbild: Faustin Tuyambaze on Unsplash.