Nur ein Strohfeuer, oder eine neue Demokratiebewegung? Hildegund Keul entdeckt Überraschendes. Gerade in Ostdeutschland sind die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus nicht vom Himmel gefallen.
Die unzähligen Menschen auf den Straßen und in so vielen Orten Deutschlands, in Ost und West, Nord und Süd sind eine Überraschung. Mit einer solchen Bewegung war nicht zu rechnen. Selbst die Soziologie, die immer ein Auge auf wachsende Bewegungen hat, zeigt sich sprachlos. Die Millionengrenze ist längst überschritten. Und im Gegensatz zu vielen anderen Protesten bleiben die Demonstrationen offensiv gewaltfrei, trotz punktueller Versuche, sie in eine andere Richtung zu lenken. Aufgrund der schieren Menge spreche ich von einer „Neuen Demokratiebewegung“.
Menschen auf der Straße, Menschen in Bewegung
Von Bekannten, Freundinnen und Kollegen ernte ich dafür Stirnrunzeln. Sind die Demos nicht eher ein kurzatmiges Aufflammen, dessen Wirkung schnell verpufft? Was wird sich bei den kommenden Wahlen zeigen? In der Tat ist die Neue Demokratiebewegung kein Selbstläufer. Nur wenn Menschen beharrlich weitermachen, bleibt sie lebendig. Aber wie geht das Weitermachen? Was können Verfechter*innen von Demokratie und Menschenrechten tun, damit die Bewegung lebendig, stark und vielfältig bleibt?
Undemokratische Seitenwege zur Macht – Türen zu!
Am 20. Januar mit etwa fünftausend Menschen auf dem Münzplatz in Koblenz für Demokratie einzustehen, war für mich ein eindrückliches Erlebnis. Ein Wermutstropfen lag darin, dass CDU und FDP noch nicht dabei waren, weil ihnen das Bündnis zu breit erschien. Aber sie sahen bald ein, dass das ein Fehler war. Der Widerstand gegen die Zerstörung der Demokratie lebt davon, dass sich alle demokratischen Kräfte zusammenschließen und dass sich niemand die Tür zur AfD heimlich offenhält. Die Türen, die undemokratische Seitenweg zur Macht eröffnen, müssen konsequent geschlossen werden. Man kann in politischen Einzelfragen durchaus unterschiedliche Positionen vertreten, aber entscheidend ist, dass sich demokratische Parteien in der Verteidigung der Demokratie einig sind.
Einig in der Verteidigung der Demokratie
Im Folgenden interessiert mich die christliche Seite der Demokratiebewegung. Dabei schaue ich besonders auf Ostdeutschland, weil ich zehn Jahre im Bistum Magdeburg gearbeitet habe, sehr gern sogar, und mich mit den dortigen Bistümern besonders verbunden fühle.
Kürzlich erklärten die sechs katholischen Bischöfe Ostdeutschlands in einem gemeinsamen Appell, warum sie „die Positionen extremer Parteien wie dem III. Weg, der Partei Heimat oder auch der AfD nicht akzeptieren können“.[1] Kurz darauf positionierten sich die Diözesan- und Katholikenräte Ostdeutschlands ebenso deutlich.[2] Diverse Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen riefen in Sachsen-Anhalt zu einer landesweiten Demonstration am 17. Februar auf unter dem Motto: „Dem Rechtsruck widersetzen. Solidarisch. Vielfältig. Demokratisch“. Der katholische Ortsbischof Dr. Gerhard Feige sagte in seiner Rede vor etwa 6.000 Menschen, dass er „weniger eine Überfremdung von außen als eine Entmenschlichung von innen“ fürchte; nicht alle, die demokratisch gewählt werden, seien Demokraten. „Manche entpuppen sich inzwischen als Rattenfänger und Brandstifter oder zündelnde Biedermänner.“[3]
Klare Positionierungen – ein Lichtblick
Die klaren Positionierungen in Ostdeutschland werden die Kirche etwas kosten, nicht nur, weil mittlerweile auch etliche Mitglieder in den eigenen Reihen rechtsextreme Partei wählen. Wer in einem gesellschaftlichen Konflikt Position bezieht, muss mit Gegenwind rechnen, der manchmal schneidend ist. Dass der Magdeburger Bischof in seiner Rede sagte, er lasse sich den Mund nicht verbieten, wenn es um „die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens und das Gemeinwohl geht“, lässt ahnen, dass es solche Versuche des Zum-Schweigen-Bringens gab. Es würde mich nicht wundern, wenn er nach dieser Rede Drohungen erhält, die bis hin zu Morddrohungen gehen.
Aber gerade wegen der Bereitschaft, mit einer klaren Positionierung ein Risiko einzugehen und einen Preis dafür zu zahlen, sind diese Positionierungen ein Lichtblick. Sie setzen ein Zeichen der Humanität, die der Unmenschlichkeit des Faschismus widersteht. Davor habe ich allergrößten Respekt.
Darüber hinaus stellt sich ein Nebeneffekt ein, der keineswegs geplant oder angezielt war. Denn die katholische Kirche gewinnt etwas zurück, das vielerorts vermisst wird: Glaubwürdigkeit und Autorität. Plötzlich hat die Kirche etwas zu sagen, das gesellschaftlich wirklich gebraucht wird und deswegen auch Gehör findet. Sogar auf einer Demonstration mit 6.000 Menschen aus allen möglichen gesellschaftlichen Kontexten.
Ein bedenkenswerter Einwand
Es ist ein schönes Gefühl, bei einer Großdemonstration unter vielen Gleichgesinnten und in einer gewissen Anonymität für etwas einzustehen. Auch ich kann sagen: Ich war dabei. Allerdings kam meine persönliche Demonstrations-Euphorie ins Stolpern, als ich im „Spiegel“ einen berechtigten Einwand von Daniel Kubiak las.[4] In Kleinstädten und Dörfern, wo die AfD schon längst erstarkt ist und sich in der Mehrheit fühlt, sieht die Sache ganz anders aus als bei Großdemonstrationen. Hier kann Gegnerschaft gefährlich werden. Man kennt sich und weiß, wo Demonstrierende wohnen, wo der Arbeitsplatz ist und wo die Kinder zur Schule gehen. Hier gegen die Zerstörung der Demokratie auf die Straße zu gehen, kann zum Spießroutenlauf und auch für Angehörige bedrohlich werden. Menschen, die die Bösartigkeit des Rechtsextremismus benennen, laufen Gefahr, dieser Bösartigkeit zum Opfer zu fallen.
Auf dem Land kann Gegnerschaft zur AfD gefährlich werden
Diese Gefahr entsteht aus einer perfiden Strategie des Rechtsextremismus im Umgang mit der menschlichen Vulnerabilität. Bei den Menschen, die für den erwünschten Rechtsruck empfänglich sind, schürt er die Verlustangst und das Gefühl, besonders vulnerabel zu sein. AfD-Wähler*innen aus der „Mitte der Gesellschaft“ leben meist nicht in besonders schwierigen Umständen; aber viele von ihnen befürchten, dass das in Zukunft so kommen könnte. Der Rechtsextremismus steigert das Gefühl erhöhter Vulnerabilität in der Hoffnung, dass damit auch die Aggressivität und Gewaltbereitschaft der Anhänger*innen steigt. So entsteht allmählich der Eindruck, dass die Menschen in Deutschland die höchste Vulnerabilität überhaupt hätten – obwohl global gesehen das Gegenteil der Fall ist. Die reell oder angeblich erhöhte Vulnerabilität dient dann dazu, die Ausübung von Gewalt zu legitimieren.
Vulnerabilität erhöhen, und damit Gewaltbereitschaft legitimieren
Diese angeheizte Gewaltbereitschaft richtet sich anschließend gegen diejenigen, die die Demokratie verteidigen wollen. Wenn rechtsextreme Anhänger*innen aufmarschieren, agieren sie mit Hass und der Androhung von Gewalt. Sie wollen Andersdenkenden und Anderslebenden Angst machen, sie in die Enge treiben und möglichen Widerstand von vornherein brechen. Und ihre Gewaltbereitschaft wächst, wie die Ermordung von Walter Lübcke am 1. Juli 2019 aus einer rassistischen, völkisch-nationalen Überzeugung heraus zeigt. Bei den Einen das Gefühl steigern, besonders vulnerabel zu sein, um die Gewaltbereitschaft anzuheizen (Vulneranz aus Vulnerabilität); und diese Gewaltbereitschaft auf diejenigen zu lenken, die sich dem Rechtsextremismus widersetzen – das ist die politische Strategie.
Christlich glauben – human handeln
In diesen Wochen widersprechen viele Menschen zu Recht aus rein humanitären Gründen der Unmenschlichkeit der „Remigrationspolitik“, sprich Deportation und Vertreibung. Zugleich hat das Christentum einen besonderen Grund, sich gegen Rechtsextremismus zu positionieren. Wenn Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und sich damit der menschlichen Verwundbarkeit stellt, so ist das ein Akt der Solidarisierung mit jedem Menschen, insbesondere mit denen in Not und Bedrängnis. Stärker kann Gott die innere Verbindung zur Menschheit in ihrer Verwundbarkeit nicht ausdrücken, als selbst ein verwundbarer Mensch zu werden.
Daher kommt es im Christentum darauf an, dass Menschen einander in den Verwundbarkeiten ihres Lebens beistehen. Bestimmte Gruppen der Vulnerabilität auszusetzen und ihnen gezielt Gewalt anzutun, ist das Gegenteil von christlich. Einzustehen für Menschen, die von Anderen bedroht werden, gehört selbst dann und gerade dann zu den Kernaufgaben des Christlichen, wenn dieses Einstehen ein Risiko bedeutet und etwas kostet. Denn das Christentum ist davon überzeugt, dass ein solcher Akt der Selbstverschwendung einen überraschenden Lebensgewinn erzielt; dass hieraus Heil entsteht, sogar für diejenigen, die die Selbstverschwendung praktizieren.
Nichts Christliches in der AfD
Man kann also sagen: Die menschliche Vulnerabilität steht im Mittelpunkt sowohl des Christentums als auch des Rechtsextremismus; aber der Umgang mit ihr ist diametral entgegengesetzt. Im Rechtsextremismus geht es darum, andere Menschen ihrer Vulnerabilität auszusetzen und sie gezielt zu verletzen, um selbst unverwundbar zu bleiben und möglichst gut dazustehen. Das Christentum ist jedoch davon überzeugt, dass Leben nur dort entsteht und wächst, wo Menschen bereit sind, ihre eigene Vulnerabilität zu erhöhen und ein Risiko einzugehen, um anderen in ihrer Vulnerabilität beizustehen. Die Geburt Jesu und die Geburt eines jeden Menschen als verletzliches, zuwendungsbedürftiges Kind stehen hierfür. Wenn Menschen nicht mehr zu solcher Zuwendung bereit sind, entsteht eine gnadenlose Gesellschaft, der jede und jeder zum Opfer fallen kann. Der Nationalsozialismus hat gezeigt, wie das geht und wohin das führt.
Als sich der Echter-Verlag im Jahr 2018 auf die Suche nach Christlichem in der AfD machte, konnte er nichts finden. Und machte genau das publik. Aus vulnerabilitätstheologischer Sicht kann ich dem Verlag nur zustimmen: Nichts Christliches in der AfD.[5]
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Bild: Sebastian Striegel
Prof. Dr. Hildegund Keul, Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Würzburg, leitet seit 2017 das DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“.
Foto: © Hildegund Keul
[1] www.bistum-magdeburg.de/aktuelles-termine/nachrichten/gemeinsames-wort-der-katholischen-ost-bischoefe.html.
[2] www.bistum-magdeburg.de/aktuelles-termine/nachrichten/demokratie-respekt-christliche-verantwortung.html.
[3] Die Rede ist im Internet verfügbar (www.youtube.com/watch?v=fKiDzQl2lXQ).
[4] Kubiak, Daniel: Demokratie-Verteidigung: Im Osten bedeutet Sichtbarkeit Bedrohung. Der Spiegel, 29.01.2024 (www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/demokratie-verteidigen-in-ostdeutschland-man-kann-noch-mehr-tun-als-zu-demonstrieren-a-c0481a3e-0392-4b78-b056-08777777f167).
[5] www.echter.de/christliches-in-der-afd/.
Beitrag Teil 2:
Neue Demokratiebewegung: Wenn aus Vulnerabilität Kreativität wächst (2)