Nur ein Strohfeuer, oder eine neue Demokratiebewegung? Hildegund Keul entdeckt Überraschendes. Gerade in Ostdeutschland sind die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus nicht vom Himmel gefallen (Teil 2).
Schon länger treibt mich die Frage um: Was kann ich tun? Es reicht nicht, hin und wieder zu einer Großdemo zu gehen. Wie können die Menschen, die sich an gefährlichen Orten engagieren, gestärkt werden? Mit diesen Fragen wende ich mich an ehemalige Kolleg*innen im Bistum Magdeburg, die sich schon viele Jahre gegen Rechtsextremismus und für Demokratie engagieren. Denn eines ist klar: Vernetzungen sind auch hier das A und O. Maria Faber und Ludger Nagel geben mir viele Tipps, wo ich zu meinen Fragen fündig werde. Ihnen ist längst klar, dass die Neue Demokratiebewegung nicht vom Himmel gefallen ist. Sie erzählen von Initiativen und Organisationen, die sich schon längst in der Demokratieförderung engagieren.
Dorfliebe für alle
Besonders angetan hat es mir die Aktion „Dorfliebe für alle“.[1] Ihrem öffentlichen Engagement verdanken wir es maßgeblich, dass am 28.1.2024 der AfD-Kandidat, der im ersten Wahlgang besser abgeschnitten hatte, im zweiten Wahlgang doch nicht zum Landrat gewählt wurde. Ein kleiner, aber entscheidender Sieg für die Demokratie. Die überparteiliche Gruppe „Dorfliebe für alle“ mit bislang nur 20 Personen organisierte vor der Wahl eine Demonstration mit dem Motto: „Kein Landratsamt der AfD!“ Sie motivierte Nichtwähler*innen, zur Wahl zu gehen. Und sie verfasste einen offenen Brief, der 1.622 Unterschriften gewann.
Nur selten habe ich einen offenen Brief gelesen, der mich von Wort zu Wort immer mehr begeisterte. Sehr differenziert, sehr konstruktiv, sehr realistisch und mit Herzblut geschrieben. „Wir, die hier verwurzelt sind oder unsere neue Heimat gefunden haben, kennen das Leben in Ostthüringen und den Saale-Orla-Kreis mit seinen kleinen Städten, den Dörfern, Wäldern, Burgen, den Flüssen, Teichen und Feldern. Wir sind zuhause in der Orlasenke und im Oberland.“ Die Gruppe teilt die Sorgen vieler Menschen in Thüringen. Und sagt zugleich ganz klar: „Einem Kandidaten, der stolz von seiner guten Beziehung zu Björn Höcke berichtet, bewaffnete Reichsbürger lustig findet, mit Andreas Kalbitz posiert (der selbst dem Bundesvorstand der AfD zu rechtsextrem war) – einem solchen Kandidaten dürfen wir keine Stimme geben!“
Sehr differenziert, sehr konstruktiv, sehr realistisch und mit Herzblut geschrieben
Welchen Risiken haben sich die Initiator*innen von „Dorfliebe für alle“ wohl ausgesetzt? Obwohl der CDU-Kandidat Landrat wurde, haben erschreckende 47,6 Prozent den untragbaren AfD-Kandidaten gewählt. Einem Gastwirt, einer Ärztin, einem Geschäftsführer, einer Yogalehrerin bringt es sicher Nachteile, sich öffentlich gegen die Partei zu positionieren. Ganz zu schweigen von dem Hass, der ihnen vor Ort entgegenschlägt, wenn sie jetzt ihre spontane Aktion in ein nachhaltiges Bündnis verwandeln wollen.
Vielleicht wäre eine Dorfpartnerschaft im Zeichen von „Dorfliebe für alle“ eine Möglichkeit, die Stimmen gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie zu stärken? Gern auch eine Partnerschaft zwischen Ost und West, um die Kluft zwischen den Landesteilen zu überschreiten.
Aus Vulnerabilität wächst Kreativität
Die AfD setzt darauf, dass aus Vulnerabilität Vulneranz wächst. Bei den Initiativen, auf die ich bei meinen Recherchen stoße, nehme ich das Gegenteil wahr: Kreativität aus Vulnerabilität. Die Initiativen begreifen, wie vulnerabel die Demokratie ist. Und sie antworten darauf mit einer überraschenden Kreativität. Auf die Idee, eine Initiative „Dorfliebe für alle“ zu nennen, muss man erst mal kommen. Aus den vielen Initiativen, die es schon längst gibt, kann ich hier nur wenige herausgreifen.[2]
- In Ostritz (zwischen Görlitz und Zittau in Ostsachen) wird seit fünf Jahren regelmäßig ein Friedensfest gefeiert. Anlass war ein Konzert vor Ort mit Nazi-Musik. [3] Bevor das Konzert begann, kauften die Initiatoren in Ostritz und Umgebung sämtliche Biervorräte auf – die rechten Konzertbesucher*innen saßen auf dem Trocknen.
- Das Projekt „Kirche für Demokratie. Verantwortung übernehmen – Teilhabe stärken“ mit Susanne Brandes bildet Ehrenamtliche zu Demokratieberaterinnen und -beratern aus. Es gehört zur Katholischen Erwachsenenbildung in Sachsen-Anhalt und gewann 2023 den „Katholischen Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus“.[4] Ehrenamtliche Demokratieberatung, das können wir vielerorts brauchen.
- In Bad Lobenstein (Saale-Orla-Kreis, Thüringen) unterstützt die „Lokale Partnerschaft für Demokratie“ mit einem „Zukunftsladen“ seit 2015 „Initiativen, Vereine und engagierte Menschen, die sich für ein vielfältiges, gewaltfreies und demokratisches Miteinander einsetzen“ – mit einem besonderen Schwerpunkt auf Radikalisierungsprävention.[5]
- Als das umstrittene „Zentrum für politische Schönheit“ 2021 der AfD mit einem „unschlagbaren Angebot“ 5 Millionen Flyer (= 72 Tonnen) entzog, so dass diese nicht verteilt werden konnten, landete es einen besonderen Coup.[6] Die Aktion funktionierte flächendeckend.
- Der „Demokratiebahnhof Anklam e. V.“ in Mecklenburg-Vorpommern ist seit 2014 in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv, steht aber finanziell momentan auf der Kippe.[7]
- Der Verein „Miteinander“ in Sachsen-Anhalt berät und unterstützt seit 25 Jahren Menschen und Institutionen, die in der Demokratieförderung tätig sind.[8] Besonders bekannt ist der hier aktive Rechtsextremismus-Experte und Theologe David Begrich.
- „Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt“ gedenkt öffentlich der fünfzehn Menschen, von denen bekannt ist, dass sie dort seit 1990 von rechtsextremen Tätern getötet wurden.[9] Besonders beklemmend ist der Mord an Helmut Sackers, der allen Indizien zum Trotz vor Gericht nicht als rechtsextreme Gewalttat benannt wurde.
- Die handliche Broschüre „Christliches in der AfD“ erscheint im Echter-Verlag gerade in einer Neuauflage. Sie eignet sich zur Auslage bei Bildungsveranstaltungen, Aktionen zur Stärkung der Demokratie, zum Katholikentag oder für die persönliche Verteilung bei Demonstrationen. Bei Freundinnen und Freunden der Demokratie ruft die Broschüre jederzeit ein Schmunzeln hervor. Humor hilft.
Let’s talk about money
In seinem Spiegel-Gastbeitrag gibt Daniel Kubiak – auch im Anschluss an David Begrich[10] –
einige Tipps, was Menschen über die Teilnahme an Großdemonstrationen hinaus noch tun können. Beispielsweise, möglichst auch kleine Demonstrationen zu besuchen und den Aktiven vor Ort den Rücken zu stärken. Und er verweist auf eine wichtige Ressource: Geld. Öffentlich in den Widerstand gegen die AfD zu gehen und sich möglichst kreativ für Demokratie zu engagieren, braucht viele Ressourcen, schlicht und ergreifend auch Geld. Plakataktionen, das Anmieten von Räumen, die Einladung von Referierenden, der Druck und die Verteilung von Flyern und Vieles mehr wollen finanziert werden. Für Initiativen im ländlichen Raum ist es häufig schwierig, an das nötige Geld zu kommen. Bei der staatlichen Unterstützung politischer Bildung muss immer ein Eigenanteil aufgebracht werden; auch hier sind Spenden willkommen.
Für Menschen wie mich, deren zeitliche Freiräume eher eng sind, ist das eine gute Idee. Nicht nur Misereor, Caritas International o.ä. verdienen Spenden, sondern auch Aktionen wie die oben genannten, und viele mehr. Dabei hilft es, sich vor Augen zu führe: Wenn die Demokratie bei uns zerstört würde, könnte bald kaum noch jemand an Misereor spenden.
Besonders wichtig erscheint mir, dass Bistümer stärker in jene Bildung investieren, die für Demokratie und Menschenrechte sprach- und handlungsfähig macht. Wenn mancherorts im Blick auf vermeintliche Kernaufgaben des Christlichen in diesem Bereich Sparmaßnahmen geplant werden, ist das angesichts der Gefahrenlage ein Unding.
Kreativ weitermachen
„Für den Triumph des Bösen braucht es nichts weiter, als dass die Guten untätig bleiben“, sagte der kürzlich ermordete Alexej Nawalny. Die Neue Demokratiebewegung in Deutschland bleibt nur dann lebendig, stark und vielfältig, wenn viele Player an vielen Orten und auf vielen Ebenen ihren Teil beitragen. Das gilt auch für Christ*innen. Wo setzt die Ökumene der Kirchen oder der Religionen sichtbare Zeichen? Wird es vor der Europawahl eine gemeinsame Erklärung der europäischen Bischofskonferenzen mit einer Warnung vor rechtsextremen Parteien geben? Der Katholikentag findet dieses Jahr in Erfurt statt, ausgerechnet in Thüringen und kurz vor der Europawahl. Was lassen sich Einzelne, Gruppen und die Leitung einfallen, um die Neue Demokratiebewegung zu stärken? Ich bin gespannt. „Dorfliebe für alle“ hat die Messlatte in Sachen Mut und Kreativität hoch angelegt. Wenn es auf Demonstrationen heute heißt: „Wir sind die Brandmauer!“, dann gehören Christinnen und Christen in die erste Reihe.
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Bild: Sebastian Striegel
Prof. Dr. Hildegund Keul, Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Würzburg, leitet seit 2017 das DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“.
Foto: © Hildegund Keul
[1] https://dorfliebefueralle.de/brief/.
[3] https://ostritzer-friedensfest.de/.
[4] https://keb-sachsen-anhalt.de/kebprojekte/kirche-fuer-demokratie/.
[5] /www.diakonie-wl.de/einrichtungen-angebote/beratung-praxen/fach-und-koordinierungsstelle-partnerschaft-fuer-demokratie-saalfeld-rudolstadt/.
[6] https://politicalbeauty.de/flyerservice-hahn.html. Dort sind vor allem auch die Kommentare aus der AfD lesenswert.
[7] https://demokratiebahnhof.de/.
[8] www.miteinander-ev.de.
[9] www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de/.
[10] www.sueddeutsche.de/kultur/demonstrationen-rechtsextremismus-ostdeutschland-folgen-1.6344843?reduced=true.
Beitrag Teil 1:
Neue Demokratiebewegung: Wenn aus Vulnerabilität Kreativität wächst (1)