Das Katharina-Werk Basel hat sich vom Säkularinstitut zur ökumenischen Gemeinschaft mit interreligiöser Ausrichtung weiterentwickelt und orientiert sich neu am Modell der Soziokratie. Sibylle Ratsch, die maßgeblich an diesem Prozess beteiligt ist, erhellt die Hintergründe und gibt Einblick ist diesen Transformationsprozess, der neue Energien freisetzt und zur Gleichwürdigkeit aller beiträgt.
Seit gut drei Jahren orientieren wir unsere gemeinschaftsinterne Organisation am Modell der Soziokratie. Kooperationswege und Entscheidungsprozesse haben sich dadurch spürbar verändert. Staunend nehme ich wahr, wie tief und nährend sich das auf unser zwischenmenschliches und spirituelles Miteinander auswirkt. Erfreulich nachhaltig gelingt es, die Aufgaben, Aktivitäten und Verantwortlichkeiten auf vielen Schultern verteilt am Laufen zu halten. Noch dazu erstaunlich stressfrei, obwohl jede Menge Neues dazuzulernen ist.
Soziokratie bietet einen flexibel einsetzbaren Rahmen
Die Soziokratie in ihrem heutigen Verständnis hat ihre Wurzeln in Holland. Mitte des letzten Jahrhunderts hat dort der Quäker und Friedensaktivist Kees Boeke eine reformpädagogische Schule nach jenen Prinzipien organisiert, die bis heute die Soziokratie prägen. Einer seiner Schüler, Gerard Endenburg, hat diese 1970 in sein elektrotechnisches Unternehmen übertragen. Seither breitet sich der auf Selbstorganisation und Mitverantwortung fokussierte Ansatz in Profit- und Nonprofitorganisationen grenzüberschreitend aus.
Im deutschen Sprachraum hat die Soziokratie in vielen neu entstandenen Wohnprojekten Fuß gefasst, in generationenübergreifenden Zusammenschlüssen, genossenschaftlichen Lebensformen und Ökodörfern. Wo immer sich Menschen mit dem Anliegen zusammentun, in einem engeren Verbund gemeinsam zu leben oder zu arbeiten, Ressourcen zu teilen und Macht ebenbürtig und partizipativ zu gestalten, bietet Soziokratie einen flexibel einsetzbaren Rahmen. Für uns hat sich die Soziokratie als ein schlüssiger nächster Schritt in der Folge jahrzehntelanger struktureller Veränderungsprozesse erwiesen.
Das Bleibende ist der Wandel
Während mehr als hundert Jahren hat sich unsere Gemeinschaft, das Katharina-Werk Basel, kontinuierlich verändert, am markantesten wohl 1977 mit der Öffnung vom katholischen Säkularinstitut (SI) zur ökumenischen Gemeinschaft mit interreligiöser Ausrichtung. Diese Öffnung verdanken wir Pia Gyger (1940-2014), die das Katharina-Werk zwölf Jahre lang geleitet hat. Inspiriert von der evolutiven Theologie Pierre Teilhard de Chardins hat sie die Grundlagen für unsere bis heute andauernde spirituelle und strukturelle Weiterentwicklung gelegt. Der ideelle Leitfaden ist dabei von der Gründung (1913) bis heute gleichgeblieben: die Überzeugung von der Gleichwürdigkeit aller Menschen, das Engagement für soziale Gerechtigkeit, das Einüben eines versöhnten Lebens mit sich selbst, mit den anderen, mit Gott und mit der Welt.
Einen spirituellen Erfahrungsraum erschließen, in dem sich unterschiedliche Berufungswege gleichwertig entfalten und ergänzen
Diese mit unserer Spiritualität verknüpften Ideale haben mit der Entwicklung unserer Strukturen auch äußerlich an Kontur gewonnen. In der Gründungsphase ging es um die persönliche und berufliche Stärkung gesellschaftlich benachteiligter junger Frauen. Später weiteten wir dieses Engagement mit dem Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext auf die ganzheitliche Unterstützung von Familien aus. In Abgrenzung zum häufig überhöhten Bild von der Berufung zum geistlich-zölibatären Leben ging es dann in der Zeit der Öffnung für alle Lebensformen darum, einen spirituellen Erfahrungsraum zu erschließen, in dem sich unterschiedliche Berufungswege gleichwertig entfalten und gegenseitig ergänzen können.
Der fürs Katharina-Werk zuständige Basler Bischof unterstützte diese Idee und sprach uns einen „status ad experimentum“ zu. So konnten fortan neben zölibatär lebenden Frauen auch Männer, Geschiedene, Singles und Paare aller Geschlechter und Konfessionen bei uns Mitglied werden. Dies vollzog sich nach einer Phase der Annäherung in einem feierlichen Gottesdienst mit dem Ablegen von Versprechen. So wuchs die Gemeinschaft und mit ihr auch unsere Vielfalt.
Zunehmend machte sich dabei bemerkbar, dass wir für die neuen Bindungsformen noch keine Rechtsgrundlage hatten. Nach längerer Suche entschieden wir uns für einen zivilrechtlichen Verein. Seit 2004 bildet er ergänzend zum für das Säkularinstitut gültigen katholischen Kirchenrecht unser gemeinsames Dach mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Vielfältig besetzt und gleichberechtigt gewählt wurden fortan unsere Gremien: eine dreiköpfige Leitung für die spirituelle Gesamtverantwortung und alle geschäftsführenden Aufgaben, ein fünfköpfiger Gemeinschaftsrat als Gemeinschaftspräsidium und Beratungsorgan sowie viele Teams und Gruppen zur Umsetzung unserer Aufgaben nach Innen und Aussen.
Not macht erfinderisch
Bald schon forderten uns weitere Veränderungen heraus. Der Rückgang der Eintritte in der zölibatären Lebensform ließ die intern verfügbaren personellen Ressourcen deutlich schwinden. Auch unsere ökonomische Lage gab zu denken. Die dezentralen Wohnformen banden viele finanzielle Ressourcen, ebenso die hohen familiären Verpflichtungen vieler Mitglieder in ihren jeweiligen Berufs- und Lebenslagen. Es zeichnete sich ab, dass wir unsere interne Organisation langfristig nur noch ehrenamtlich bewerkstelligen können.
2017 strukturierten wir uns deshalb erneut um. Wir verteilten einen Großteil der bisherigen Leitungsaufgaben auf Arbeitsgruppen, wählten ein ehrenamtliches Leitungsteam und sorgten über die Delegierten unserer dezentral organisierten Basisgruppen für einen regelmässigen internen Austausch. Viele engagierten sich hoch motiviert in den neuen Aufgabenfeldern. Doch etwas drohte verloren zu gehen: die Koordination und der Blick fürs Ganze.
Die neben dem Beruf ehrenamtlich eingesetzte Leitung konnte die vielen gleichzeitig laufenden Themenstränge nicht in der bisherigen Form und Kontinuität weiterverfolgen. Einige von uns hatten mittlerweile die Soziokratie kennengelernt und sahen hier einen Weg. Unsere neu entwickelten Strukturen standen dazu ja förmlich bereit. Aber wieder galt es, Neues zu entfalten.
Soziokratie entfaltet Synergie im Resonanzraum eigenständiger Kreise
Die Soziokratie zeichnet sich durch ihre Kreisorganisation aus. Abläufe werden nicht über eine hierarchische Ordnung von Funktionen und Personen geregelt, sondern in einer Hierarchie von Kreisen. Jeder Kreis hat sein klar umrissenes Aufgabenfeld. Dort handelt und entscheidet er autonom im Rahmen seiner für alle schriftlich dokumentierten und gemeinsam abgestimmten „Domäne“.
Altgewohnten Leitungsbildern entgegenwirken und die neue Funktion des Kreises eigens hervorheben
Als kleine Nonprofit-Organisation konnten wir recht schnell herausfinden, welche unserer Arbeitsgruppen sich in einem Kreis zusammenbinden oder direkt als Kreis etablieren lassen. Diese Kreise haben sich mittlerweile fast alle konstituiert. Sie haben ihre Domänen und Arbeitsformen definiert und eine Person gewählt, die den Kreis und sein Themenfeld als Delegierte/r im nächsthöheren Kreis vertritt. Dieser heißt bei uns nicht wie sonst meist üblich Leitungs- oder Steuerkreis, sondern Koordinationskreis (KoK). Wir wollten altgewohnten Leitungsbildern entgegenwirken und die neue Funktion des Kreises eigens hervorheben.
Vieles ist inzwischen soziokratisch klar eingebunden und eingespielt, beispielsweise unsere Öffentlichkeitsarbeit, die Kooperation mit unseren katharinischen Geschwistern in den Philippinen, die Vorbereitung und Begleitung zur und während der Mitgliedschaft und einiges mehr. Manches braucht aber noch Zeit und ein achtsames Abwägen, um die zwar als wichtig erkannten aber schwieriger eingrenzbaren Felder im soziokratischen Rahmen neu einzuordnen.
Die Dinge dürfen sich in ihrem Tempo entfalten
Interessanterweise haben wir für das Themenfeld „Spiritualität“ noch keine befriedigende Lösung gefunden. Traditionell war das Feld immer ganz oben bei der Gesamtleitung angesiedelt. Doch: was genau gibt es eigentlich voranzubringen und zu entscheiden in einem Feld, das letztlich jede und jeder von uns täglich selbst bestellt, das wir in unseren regelmässig tagenden Basisgruppen fortlaufend lebendig halten und wo wir in verschiedenen Teams engagiert Angebote nach Innen und Aussen gestalten – ein Feld, wo ja noch dazu der Geist wehen können soll, wie er will. Einen Kreis sogenannter „Spiritholder“, wie ihn die Soziokratie kennt, schien uns bis jetzt wenig überzeugend, vielleicht auch auf dem Hintergrund mancher geschichtlichen Erfahrung mit früher dominant erlebten Leitungspersonen.
Doch die Dinge dürfen sich in ihrem Tempo entfalten. Die noch offenstehenden Abwägungen wissen wir bei den im jeweiligen Feld engagierten Personen im Zusammenspiel mit unserem Arbeitskreis „Weiterentwicklung“ gut aufgehoben. Dieser ist 2021 von der Gemeinschaftsversammlung für die Implementierung der Soziokratie beauftragt und Jahr für Jahr neu für die noch ausstehenden Punkte in seinem Tun bestätigt worden .
Wachsende Transparenz für Macht und Hierarchie
Der Umgang mit Macht, Hierarchie und Leitung spielte und spielt in allen unseren strukturellen Weiterentwicklungen eine wesentliche Rolle. Was von Oberinnen, Gemeinschaftsleiterinnen, ihren Stellvertreterinnen und ihren Teams in für ihre Zeit völlig selbstverständlich hierarchisch geordneten Abläufen bewerkstelligt worden ist, hat sich Schritt für Schritt in ein differenziertes Zusammenwirken verschiedener Teams, Gremien und Kreise ausgeweitet.
Große Transparenz und ein hohes Maß an ebenbürtiger Kooperation haben wir durch die Strukturierung der drei Kreisebenen erlangt. Für die operativen Aufgaben gibt es eigenverantwortlich tätige Arbeitskreise mit den ihnen zugeordneten Arbeitsgruppen. Im Koordinationskreis wirken ihre Delegierten an der Koordination und Prozesssteuerung aller Aktivitäten mit. Die höchste Entscheidungsebene bildet der Kreis aller Mitglieder in unserer Gemeinschaftsversammlung (GV). Gleichwertig stimmberechtigt kommen wir dazu in der Regel einmal pro Jahr für ein Wochenende aus allen Himmelsrichtungen zusammen.
Macht, Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten werden verteilt
Unsere Gemeinschaftsversammlung trifft grundlegende Entscheidungen und wählt alle vier Jahre den auf zwei Personen verschlankten Vorstand, der uns juristisch und finanziell nach Aussen vertritt und die interne Verwaltung sicherstellt. Beide Vorstandsmitglieder wirken auf der mittleren Kreisebene im KoK mit, gleichgestellt mit den derzeit sechs Delegierten der Arbeitskreise und des Säkularinstituts. Dort vertritt jede Person ihr jeweiliges Handlungsfeld und richtet zugleich den Blick auf die Entwicklung des gemeinsamen Ganzen.
Macht, Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten verdichten sich im soziokratischen Zusammenwirken auf diese Weise nicht mehr auf Ämter und damit verknüpfte feste Rollen, sondern werden über die gemeinsamen Prozesse an der Gemeinschaftsversammlung hinaus im fortlaufenden Alltag auf viele Personen verteilt. Dadurch tun sich nicht nur im persönlichen und spirituellen Leben, sondern auch im gemeinschaftlich-organisatorischen Zusammenwirken völlig neue Erfahrungen von Selbstwirksamkeit auf.
Gleichwürdigkeit durch Kreismoderation und Konsent
Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die soziokratische Kreismoderation und das Treffen von Entscheidungen im sogenannten Konsent. Beides integrieren wir Zug um Zug in unsere Arbeitsweisen. Themen, die zur Klärung und Abstimmung drängen, beginnen mit einer Meinungsrunde. Reihum kommt dort jede Person zu Wort und wird aufmerksam angehört. Eine zweite Runde und vielleicht auch eine weitere folgt mit der Frage, was sich in uns nach dem Hören der anderen Sichtweisen verändert hat und weiterbewegt. Schließlich formuliert die moderierende Person aus dem Gehörten einen Vorschlag zur Konsentabstimmung.
Eine Atmosphäre des genauen Hinhörens und Nachspürens
Jede beteiligte Person prüft, ob sie mit dem Vorschlag mitgehen und ihn mittragen kann oder ob sie einen erheblichen Einwand hat. Ist dies der Fall, muss der Einwand erläutert werden. Er muss sich über persönliche Vorlieben hinaus auf das gemeinsame Anliegen hin begründen lassen. So kann ein Bedenken fruchtbar in einen für alle einleuchtenden neuen Konsentvorschlag integriert werden. Statt einem Wettkampf von Argumenten zum Gewinnen einer Mehrheit entsteht so eine Atmosphäre des genauen Hinhörens und Nachspürens. Es gibt keine Verlierenden, auch wenn die Konsentlösung vielleicht nicht immer für alle ganz perfekt erscheint. Sie lässt sich aber vom Zeitaufwand her vergleichsweise schnell finden und sie wirkt nachhaltig, weil sie von allen mitgetragen wird. Manchmal einigt man sich auch darauf, etwas erstmal für eine Zeit auszuprobieren und später nochmals zu überprüfen.
Starke Wirkung auf die Vertrautheit und das gegenseitige Vertrauen aller
Auch soziokratische Wahlen erfolgen per Konsent. Reihum schlägt jede und jeder zu Beginn eine Person zur Wahl vor und begründet den Vorschlag. Eine zweite Runde widerspiegelt häufig ein tieferes Abwägen darüber, welche der vorgeschlagenen Personen im Moment für die anstehende Aufgabe am geeignetsten erscheint. Dabei ist es bewegend zu erleben, dass fast immer mehrere Personen in Frage kommen. Das offene Feedback aller vor allen fördert die gegenseitige Empathie und eine alle entlastende Transparenz des Entscheidungsweges. Eine Person, die am Schluss evtl. entgegen ihrer eigenen Vorstellung nicht zum Konsent vorgeschlagen wurde, kann so die Gründe für die aktuell naheliegendere Entscheidung besser nachvollziehen und sie im Gegensatz zur empfundenen Niederlage in einer verdeckten Wahl leichter annehmen.
Die Offenheit und Ebenbürtigkeit der Beteiligung hat eine starke Wirkung auf die Vertrautheit und das gegenseitige Vertrauen aller. Für mich ist im Zuge der Soziokratie eine spürbar neue Nähe untereinander gewachsen. Kritisch auf mich selbst blickend habe ich wahrgenommen, wie geübt ich bei anstehenden Entscheidungsprozessen im engagierten Argumentieren bin und wie wenig geübt im guten Zuhören bei Menschen, die anders denken und fühlen als ich. Insofern erlebe ich jetzt einen Weg, mich selbst und andere neu kennen und lieben zu lernen und zu entdecken, wie sich dadurch mein Blick auf das Leben nochmals grundlegend verändert. Die Gleichwürdigkeit aller Menschen hat ihren Sitz in meinen ganz konkreten Lebensbezügen und wirkt auf mich wie ein spiritueller Dünger in alltäglichen Begegnungen, auch außerhalb unserer Gemeinschaft.
Hierarchische Muster als Teil unserer individuellen und kollektiven DNA
Wenn ich auf unseren Weg zurückschaue, erkenne ich die größte Herausforderung und Chance im Wandel unserer von ihrer DNA her zutiefst hierarchisch geprägten Organisation hin zu kooperativ-partnerschaftlichen Leitungs- und Entscheidungswegen. Kollegiale Leitungsformen und intensive Teamprozesse hatte bereits Pia Gyger eingeführt. Das hat viele von uns aber nicht davon abgehalten, ihr als unserer visionären Erneuerin ein hohes Machtpotential zuzusprechen, um dann im Zweifelsfall aus Sorge vor eben dieser Macht unser eigenes Kooperationsvermögen unter den Scheffel zu stellen.
Aus verschiedenen Rollen und Perspektiven heraus das Neue aufspüren und wagen
In der Quintessenz sind uns in den nach und nach entfalteten neuen Leitungsstrukturen aber viele Schritte zugunsten einer wachsenden Partizipation gelungen. Wer, wie noch viele von uns, vor den 68er-Jahren groß geworden ist, war – insbesondere in einer klösterlichen Organisation – von Gehorsamsstrukturen geprägt. Das lässt sich mit einer neuen Vision nicht einfach abschütteln. Ich selbst habe in meiner Zeit als Leiterin unserer Gemeinschaft leidvoll gespürt, wieviele hohe Erwartungen auf mir lasteten, die Dinge zu „richten“. Wie oft habe ich da trotz allem Bemühen um eine ebenbürtige Kooperation auch aus Furcht vor unliebsamen Konsequenzen Dinge zu bestimmen begonnen, wo es sicher besser, wenn auch geduldfordernder gewesen wäre, andere an das Hören auf ihre eigene Stimme zu erinnern.
Freudig nehme ich heute die Lernchancen der soziokratischen Strukturen und Arbeitsweisen wahr. Mir gefällt, dass wir uns in unseren Kreisen bislang auf keine dauerhaft festgelegten Rollen geeinigt haben. Moderation und Protokollführung wechseln immer wieder ab. So sind wir alle gefordert, aus verschiedenen Rollen und Perspektiven heraus das Neue aufzuspüren und zu wagen. Für mich hat sich darin ein unermessliches spirituelles Lern- und Übungsfeld aufgetan, das für viele spürbar eine neue, gerade in der Gremienarbeit eher selten anzutreffende Energie freisetzt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat dieses Phänomen als eine „soziale Energie“ beschrieben, die uns nicht als eine individuelle Ressource verfügbar ist, sondern in einem partizipativen Geschehen von Geben und Empfangen zuteil wird. Dieser unplanbare Energiezuwachs schließt Konflikte und Engpässe nicht aus, stärkt aber die Hoffnung auf neue und versöhnlichere Wege für den Umgang mit den Herausforderungen unserer kleinen und großen Welt.
Literatur:
Barbara Strauch/Annewiek Reijmer, Soziokratie, Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung des Einzelnen, München 2018
Hartmut Rosa, Was ist soziale Energie, in „Die Zeit“ 2/2024,
Norbert Lepping, Macht.Voll.Teilen, sowie Adelheid Tlach-Eickhoff, Nebenwirkungen erwünscht, in „katharina life“ 12/2024.
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Sibylle Ratsch, (*1954) Dipl.-Päd., evangelisch, lebt in Müllheim/Baden. Nach langjähriger Tätigkeit als Erziehungsleiterin ist sie seit 1986 als Fortbildnerin, Prozessbegleiterin und Supervisorin freiberuflich tätig und seit 1991 zusätzlich als Lehrbeauftragte für Themenzentrierte Interaktion. 1990 ist sie ins Katharina-Werk Basel eingetreten und war von 2009-2014 dessen erste nicht-zölibatäre Gesamtleiterin. Seit 2021 trägt sie im Arbeitskreis Weiterentwicklung zur Einführung der Soziokratie bei.
Beitragsbild: Katharina-Werk