Welchen Wert hat die kirchliche Strafrechtsreform, wenn sie Missbrauchsdelikte neubewertet, missbrauchsbegünstigende Strukturen jedoch reinstitutionalisiert und systemische Missbrauchsursachen weiterschreibt, fragt Judith Hahn.
Die Reform des kodikarischen Strafrechts haben in den vergangenen Tagen viele Kanonist:innen kommentiert. Sie haben Positives benannt und Kritik formuliert.[1] Die Kommentator:innen lobten die Herauslösung des Missbrauchs Minderjähriger aus dem Katalog der Klerikerdisziplinarvergehen und seine Neuqualifizierung als Straftat, die die menschliche Würde und Freiheit missachtet, ferner die Aufnahme des Unschuldsprinzips in den kodikarischen Normtext. Sie kritisierten, dass das Strafrecht bei Sexualdelikten weiterhin die diffuse Rede von Taten „gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ pflegt.
Straftat der versuchten Weihe von Frauen: nicht neu, aber neu im Kodex
Eher nachrangig nahmen die meisten Kommentierenden die Einfügung der Straftat der versuchten Weihe von Frauen in den Kodex zur Kenntnis. Dass dies geringere Aufmerksamkeit erfuhr, ist aus kanonistischer Sicht wohl weniger Nonchalance gegenüber der bekannten Problemlage, dass es Frauen in der Kirche nicht leicht haben, als vielmehr darin begründet, dass diese Anordnung nicht neu ist. Sie hat nun im Kodex einen Platz gefunden, ist aber seit 2007 geltendes Recht.[2]
Form follows function
Ein neuer Ort, kein neuer Inhalt. Nichtsdestoweniger lohnt genaues Hinsehen. Denn es ist aufschlussreich, nicht nur die inhaltlichen Neuerungen des revidierten Rechts, sondern auch die formalen Veränderungen zu studieren. Über die innovative Bedeutung der Strafrechtsreform sagt nämlich nicht nur der Inhalt der neuen Normen einiges aus, sondern auch Kompositionsaspekte – wie Normmaterien arrangiert wurden, in welche Zusammenhänge sie gestellt werden, welche Normen durch eine prominente Platzierung betont werden und, nicht zuletzt, welche unverändert übernommen wurden, obwohl ihre Revision nahegelegen hätte.
Nicht nur die inhaltlichen Neuerungen, auch die formalen Veränderungen erkennen
Unterzieht man das überarbeitete Strafrecht einer solchen Analyse, zeigen sich Auffälligkeiten. Drei Beobachtungen will ich herausgreifen. Sie mögen zufällig wirken. Der Eindruck schwindet jedoch, wenn man ihre Bedeutung für das Hauptanliegen der Reform, die Verbesserung des kirchlichen Vorgehens in Missbrauchsfällen, ausleuchtet.
Drei Beobachtungen
Eine erste Beobachtung: Die die Reform kommentierenden Kanonist:innen haben zu recht gewürdigt, dass der sexuelle Missbrauch Minderjähriger und habituell in ihrem Vernunftgebrauch eingeschränkter Personen nicht mehr als klerikale Standespflichtverletzung behandelt wird, sondern in den Katalog der Straftaten gegen menschliches Leben, Würde und Freiheit Aufnahme fand. Auffällig ist freilich, welche Norm dies nicht tat. Denn setzen Kleriker sexuelle Gewalt gegenüber Erwachsenen ein, wird dies weiterhin zuvörderst als Zölibatsproblem wahrgenommen (c. 1395 § 3 CIC/1983). Vergewaltigung und sexuelle Nötigung durch Einsatz physischer und psychischer Gewalt, einschließlich geistlichen Missbrauchs, erfuhren keine Neuqualifizierung.
Sexuelle Gewalt gegenüber Erwachsenen wird weiterhin zuvörderst als Zölibatsproblem wahrgenommen
Eine zweite Beobachtung: Schon seit Jahren gilt, dass denen, die einer Frau eine Weihe zu spenden versuchen, die Exkommunikation als Tatstrafe droht, und von derselben Strafe auch die Frauen getroffen werden, die eine solche Weihe zu empfangen versuchen. Mit der Aufnahme in den Kodex erhielt die Frauenordination nun einen prominenten Platz im ersten Kanon des kodikarischen Strafkatalogs der strafbaren Handlungen im Kontext der Sakramente (c. 1379 § 3). Sie folgt direkt auf den Versuch, die Eucharistie oder das Bußsakrament ohne Priesterweihe zu feiern, und rangiert in der Reihung noch vor der Hostienschändung (c. 1382) oder priesterlicher Übergriffigkeit im Beichtstuhl (c. 1385).
Frauenordination vor Hostienschändung oder Übergriffen im Beichtstuhl
Eine dritte Beobachtung: Die Kommentator:innen der Strafrechtsreform hoben zu recht die Aufnahme der Unschuldsvermutung in den Kodex (c. 1321 § 1) positiv hervor. Ein modernes Strafverfahrensrecht muss sich bis zum Beweis des Gegenteils von der Annahme leiten lassen, Beschuldigte seien unschuldig. Dessen ungeachtet ließ die Aufnahme dieses Grundsatzes in den Kodex lange auf sich warten. Erst als in den vergangenen zwei Dekaden die Missbrauchsbeschuldigungen gegen Kleriker rapide zunahmen und die Bischöfe im Umgang mit den Beschuldigten in Bedrängnis brachten,[3] erkannte der Gesetzgeber die Notwendigkeit, die Unschuldsvermutung positivrechtlich zu etablieren.
Systemische Schieflagen
Trägt man diese Beobachtungen an die Frage heran, inwieweit die Strafrechtsreform dazu beiträgt, den Schutz vor Missbrauch zu verbessern, so deutet sich an, dass das Recht zwar punktuell richtig ansetzt, indem es den sexuellen Missbrauch Minderjähriger selbst neuqualifiziert, missbrauchsförderliche systemische Faktoren jedoch unberührt lässt. Vielmehr stabilisiert die Strafrechtsreform systemische Schieflagen.
Strafrechtsreform stabilisiert systemische Schieflagen
Denn: Als Problem mit System, das Missbrauch begünstigt, darf man ein Recht verstehen, das der sexuellen Selbstbestimmung bleibend wenig Aufmerksamkeit schenkt. Der Gesetzgeber behandelt sexuelle Gewalt von Klerikern gegenüber Erwachsenen weiterhin als disziplinarisches Problem. Hierdurch zeigt er an, dass er der sexuellen Selbstbestimmung als Aspekt der menschlichen Würde keinen gesonderten Stellenwert zuerkennt. Ob ein effektiver Kampf gegen Missbrauch ohne einen grundlegenden Perspektivwechsel in der kirchlichen Sicht auf sexuelle Integrität gelingen kann, ist fraglich.
Kein grundlegender Wandel in der kirchlichen Sicht auf sexuelle Integrität
Ein weiterer missbrauchszuträglicher Faktor ist die kirchliche Organisationsstruktur, die alle Gewalt in die Hände einer exklusiv männlichen Herrschaftselite legt. Das reformierte Strafrecht arbeitet daran mit, diese Struktur zu reproduzieren. Die Aufnahme des Straftatbestands der Frauenweihe in den Kodex steht für die strafbewehrte Kontrolle des geschlechterdifferenzierten Zugangs zur kirchlichen Herrschaftselite, die Frauen kriminalisiert, die Aufnahme in die kirchliche Hierarchie begehren, und gleichfalls Männer, die dies unterstützen.
Reproduktion exklusiv männlicher Herrschaftseliten
Ein weiteres systemisches Problem stellt der Gruppenzusammenhalt innerhalb exklusiver Eliten dar, der in den Debatten über Klerikalismus nicht selten als „männerbündisch“ problematisiert wird. Aufgrund der in homogenen Gruppen wirkenden Solidarisierungseffekte neigen Entscheider:innen dazu, die Pönalisierung von Gruppenmitgliedern zu verhindern. Vertuschung ist daher ein naheliegender Reflex, solange die Strukturen sie ermöglichen.
Auf der Basis des geltenden Rechts hingegen können Bischöfe Beschuldigungen kaum mehr ignorieren, ohne sich selbst belangbar zu machen. In dem Zusammenhang lässt die Einführung der Unschuldsvermutung aufhorchen. Denn es ist auffällig, dass der Gesetzgeber sie erst positivrechtlich etablierte, als er den kirchlichen Autoritäten in der Strafverfolgung klerikaler Missbrauchstäter einen Großteil ihrer vormaligen Flexibilität absprechen musste. Dieser Zusammenhang nimmt der Unschuldsvermutung nichts von ihrem Wert. Sie schützt Beschuldigte vor Vorverurteilung. Und das ist fraglos richtig. Freilich bleibt zu beobachten, ob sie einen wegweisenden Schritt darstellt, um mehr rechtsstaatlich bewährte Grundsätze in kirchlichen Verfahren zu etablieren, oder ob sie zur Kampfformel wird, um Strafverfolgungsansprüche gegenüber klerikalen Beschuldigten abzuwehren.
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Judith Hahn ist Professorin für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Bild: stux auf pixabay
[1] Vgl. u. a. www.katholisch.de/artikel/30041-neues-strafrecht-kirche-will-strenger-gegen-missbrauch-durchgreifen; www.katholisch.de/artikel/30051-bier-kritisiert-sicht-auf-nicht-katholische-taufe-als-straftat; www.katholisch.de/artikel/30070-bischof-schick-zu-neuem-strafrecht-haette-mir-mehr-klarheit-gewuenscht; www.domradio.de/themen/vatikan/2021-06-02/strafandrohung-ist-praezisiert-worden-theologe-haelt-kirchliche-strafrechtsreform-fuer-sinnvoll.
[2] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Allgemeines Dekret in Bezug auf die Straftat der versuchten Ordination einer Frau, 19. Dezember 2007, in: Acta Apostolicae Sedis 100 (2008), 403; dies., Normen über die der Glaubenskongregation vorbehaltenen Straftaten oder Straftaten gegen den Glauben sowie schwerwiegende Straftaten, 21. Mai 2010, Art. 5, in: Acta Apostolicae Sedis 102 (2010), 419–434, hier: 423–424.
[3] Zum Zusammenhang von Missbrauchsverfolgung und Unschuldsvermutung vgl. Ronny E. Jenkins, The Charter and Norms Two Years Later, in: CLSA Proceedings 66 (2004), 115–136, hier: 116–120.