Vor 100 Jahren zeigte die Mannheimer Kunsthalle die Ausstellung „Neue Sachlichkeit“. Der Leiter der Kunsthhalle, Gustav Friedrich Hartlaub, hatte mit dem Titel einen Epochenbegriff geprägt. Ihn würdigt eine neue Ausstellung am alten Ort. Jörg Schneider fragt nach der Sache und den Sachen dieser Sachlichkeit.
Max Beckmann schrieb auf die Leinwand seiner zweiten „Auferstehung“ (1916-18) klein aber gut leserlich mit Bleistift „Zur Sache!“. Das riesige Gemälde wurde nie fertig, möglicherweise war die Sache zu groß. Er wurde zugleich nie fertig damit – die zusammengerollte Leinwand soll ihn auf den weiteren Lebensstationen begleitet haben. Das Thema ließ sich nicht versachlichen. Denn wenn man „Sachlichkeit“ mit einer Art des Realismus nach dem Expressionismus gleichsetzt, entzieht sich das vielschichtige Gemälde seiner Realisierung. Wenn selbst Religion und Theologie vollkommen unterschiedliche Konzepte von Auferstehung vertreten, wie soll eine Konzeptualisierung auf einer Leinwand aussehen? Vielleicht deutet sich in der Unfertigkeit eine nächste Epoche im Werk Beckmanns an, die sich dann im Wortsinn einfacheren Gegenständen zuwandte und trotzdem große Kunst hervorbrachte, bevor auch diese in eine mythische Epoche überging.
Beckmanns zwei Fassungen der Auferstehung
Vergleicht man die zweite Auferstehung nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg mit der ersten Fassung von 1909, zeigt sich im Versuch eine Auseinandersetzung mit mehreren „Sachen“. Die erste Fassung versucht gar keine Sachlichkeit; sie erscheint als Gedankenspiel. Ein rubenshaftes Gebilde aus Menschen steigt von dunkler Erde ins Licht auf. Das Hochformat unterstützt die Aufwärtsbewegung. Unten auf der Erde sieht man mehrere Menschen aus dem Umfeld Beckmanns in individuellen Posen und Haltungen. Der Zusammenhang von den unten Lebenden und dem Auferstehungsereignis über deren Köpfen könnte als verschiedene Haltungen zu einem übersteigenden Konzept interpretiert werden. Die Haltungen reichen von Skepsis über Indifferenz zu in sich gekehrter Betrachtung und zu Lamentation.
Die Metapher der Auferstehung nach oben wird gebrochen
Die zweite Fassung hat Ähnlichkeiten mit der ersten, etwa in der Gruppe von zeitgenössischen Menschen, Freunde Beckmanns. Es gibt ebenfalls eine Aufwärtsbewegung, dieses Mal allerdings eher diagonal. Am weitreichendsten ist die Änderung ins Querformat. Daraus ergeben sich inhaltliche Veränderungen. Denn die Metapher Auferstehung wird traditionell und sinnfällig mit einer Aufwärtsbewegung verbunden. Wenn diese Metapher gebrochen wird, stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Entscheidung. Die Unterschiede zwischen beiden „Auferstehungen“ führen zur Frage, die sich der Maler gestellt haben wird: Gibt es Gegenstände der Sachlichkeit und andere? Gibt es nichtsachliche Sachen? Der Ruf „Zur Sache!“ impliziert die Suchbewegung nach ihr. Beckmann würde die Frage in der Zeitspanne der Arbeit an der zweiten Fassung der Auferstehung wohl bejahen. Später, könnte man behaupten, hat er sich in den sagenhaften Triptychen deshalb ganz anderen „Sachen“ zugewandt. Die Sache „Krieg“ im Erlebnis des Ersten Weltkriegs hat zwar zur künstlerischen Interpretation herausgefordert, war aber mit den traditionellen Mustern offenbar nicht zu fassen.
Dix: Den Krieg zu fassen heißt, über die Sache hinaus zu gelangen
Otto Dix hatte ein andere künstlerisches Naturell. Ihm waren Übertreibung, Groteske und Karikatur vertraut. Seine Sachlichkeit stellt sich anders als die Beckmanns dar. Seine Sachlichkeit könnte extrovertierter als die von Beckmann beschrieben werden. Von den vielen Werken, die in Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg entstanden, greife ich nur eines heraus, das Triptychon „Der Krieg“ (1929-32). Vielleicht ist es schon gar nicht mehr der neuen Sachlichkeit zuzurechnen, aber diese Bemerkung zeigt nur, dass die Bezeichnung ein Sammelbegriff ist. Dix‘ Kunst zeichnet Schonungslosigkeit, aber auch Drang zur Symbolisierung aus. Das kann man am „Kriegstriptychon“ gut beobachten. Die äußere Form ruft alte Altarretabel auf und schafft damit einen sakralisierenden Rahmen. Die innere Form wird bis in einzelne Motive und die Komposition hinein von Grünewalds „Isenheimer Altar“ und teilweise von Holbeins d.J. „Christus im Grab“ bestimmt. Das bedeutet, dass die Sachlichkeit von Dix hier aus einer Synthese besteht. Es handelt sich um eine Synthese aus den Mitteln „alter“ Kunst und einem zeitgenössischen Gegenstand, den diese „alte“ Kunst so nicht kannte. Der Realismus wird dadurch gesteigert und zugleich überhöht. Den Krieg zu fassen heißt eben, über die Sache hinaus zu gelangen. Sachlichkeit ist die Suche nach einer Angemessenheit. Es geht nicht um nackten Realismus – wenn es einen solchen theoretisch überhaupt geben kann – sondern um eine emotionale Hereinnahme der Betrachtenden in die Sache. Sollte das auch ein Verfahren der Theologie sein, würden sich Verbindungen zwischen Kunst und Theologie ergeben.
Theologie, die zur Sache redet?
Betrachtet man die zugehörige epochale Theologie, findet man auch solche Verfahren. Die Sprache der Theologie jener Zeit mutet aus heutiger Sicht in ihrer Direktheit und zuweilen Assertorik und zugleich Unbedingtheit wie ein Dix-Gemälde an und zu. Fehlt nur die Dix‘sche Karikatur.
Die sogenannte Dialektische Theologie war sachlich in dem Sinn, dass sie auch „zur Sache“ redete. Aber das kann man von jeder guten Theologie sagen. Ihr sprachliches Engagement war alles andere als sachlich. Aber auch das kann man auch von Harnacks „Wesen des Christentums“ sagen. Oder von Schleiermachers „Reden“. Man könnte sagen, dass bestimmte Gedanken und Findungen „zur Sache“ eine epochale rhetorische und stilistische Gestalt annehmen.
Versuche, Verhältnissen und Beziehungen auf die Spur zu kommen
Vielleicht wäre dies eine Definition: In der neuen Sachlichkeit ging es um eine möglichst große Deckung von Sache und sachlicher Sprache. Das setzt voraus, dass die Sache selbst sachlich ist. Dass dies nicht sein muss, zeigte sich an Beckmanns Ringen um die Fassung der zweiten Auferstehung. Offenbar gibt es nichtsachliche Sachen. Diese kann man auslassen oder anders zu fassen versuchen. Dix hat beispielsweise über die religiös und kirchlich konnotierte Form des Triptychons die Sache des Kriegs einzufangen versucht. Beckmann hat in den zwanziger Jahren mit klaren Farben gearbeitet. Das Licht spielte eine große Rolle, sein Aufenthalt am Mittelmeer hat ihm die Augen und die Palette geöffnet. Beide Künstler waren genügend Theoretiker ihrer eigenen Kunst, dass sie bewusst ihre Mittel einsetzten. Ihre Sachlichkeit war eben nicht ein fotografisches Abbild von Gegenständen, sondern vielmehr der Versuch, Verhältnissen und Beziehungen auf die Spur zu kommen (wobei klar ist, dass auch der Fotorealismus eine Form von Interpretation ist).
Ein Fragment zu haben genügt – zumindest für den Moment
Bezogen auf die heutige Theologie wäre die Definition von größtmöglicher Deckung von Sache und sachlicher Sprache schwierig, weil die behaupteten Sachen keine angemessene Sprache finden. Das Sprachspiel funktioniert nicht ohne weiteres, es bleibt Fragment wie Beckmanns Auferstehung. Nicht, dass es „früher“ so einfach funktioniert hätte. Vielleicht könnte man von Dix lernen: Die alten Meister muss man kennen, um in Form zu bleiben; die alten Meister muss man kennen, um überhaupt etwas zu haben, was man verwenden, zerstören, transformieren, verstecken, aufstecken, ausdrücken, ablehnen oder verehren kann; die Sache muss man direkt angehen; ohne Emotion geht es nicht; Ironie und Karikatur machen das Unerklärliche und Faszinierende erträglich. Vielleicht könnte man darüber hinaus von Beckmann lernen: Auch solch ein Fragment bleibt aktuell, es ist in seiner Unfertigkeit fertig. Es zu haben genügt – zumindest für den Moment.
Im Gestus der Befreiung
Und das kann man für die Theologie von der neuen Sachlichkeit lernen: Sie kam im Gestus der Befreiung daher (weil auch die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen in einem kurzen Zeitfenster darauf angelegt waren). Die Mode änderte sich, die Beteiligung von Frauen intensivierte sich, einige traten als Künstlerinnen hervor, die Körperlichkeit wurde realistischer, um nur einige Merkmale zu nennen. Dieser Gestus der Befreiung und der Freiheit wäre auch für eine neuere Theologie interessant. Denn ist er nicht urevangelisch?
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OKR Dr. Jörg Schneider leitet das Dezernat für Theologie, Gemeinde und weltweite Kirche im Oberkirchenrat der evangelischen Landeskirche in Württemberg. Seine Dissertation beschäftigte sich mit den Kriegserfahrungen von Künstlern im Ersten Weltkrieg.
Portrait: Gottfried Stoppel
Bild: Max Beckmann, Public domain, via Wikimedia Commons.