Eine neue großangelegte Studie untersucht die Bibelverwendung in Deutschland. Was bedeuten ihre ersten Ergebnisse? Von Elisabeth Birnbaum
Wie wird Bibel in Deutschland verwendet? Wird sie gelesen und wenn ja, von wem, wann, wie und wie oft? Und: Wie wird Bibel verstanden, so sie denn gelesen wird? Diese und andere Fragen untersucht eine jüngst erschienene Studie zur multiplen Bibelverwendung in Deutschland.[1]
Die Ergebnisse hier im Detail zu wiederholen, ist nicht die Absicht dieses Beitrags. Nur ein paar wenige Reflexionen aus der Perspektive einer, deren Auftrag und deren Begeisterung darin liegt, Freude an Bibel zu übermitteln, sollen hier geteilt werden.
Bibel – nur für andere?
Ein erstes: Der Erstkontakt mit Bibel, so die Studie, findet überwiegend in Kindheit und Jugend statt. Und die bei weitem wichtigsten Orte dafür sind der Religionsunterricht, der Gottesdienst und der Firm-/Konfirmationsunterricht. Erst in zweiter Linie sind es Großeltern und Eltern, die den Kindern Bibel näherbringen. Dazu passt auch, dass Personen mit jungen Kindern unter den zumindest ab und zu Bibel Lesenden stärker vertreten sind als Kinderlose. Bibel hat demnach offenkundig mit Pädagogik zu tun und wird mehrheitlich anderen anempfohlen, vorgelesen und beigebracht.
Gehört die Bibel also in die Kategorie „ich weiß, was gut für dich ist“?
Ein weiteres Indiz dafür ist, dass die Mehrzahl aller Bibeln, die in doch sehr vielen – auch nichtkonfessionellen – Haushalten zu finden sind, als Geschenk ins Haus kamen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass kaum jemand eine Bibel für sich selbst kauft. Gehört die Bibel also in die Kategorie „ich weiß, was gut für dich ist“? Und ist der Grund für die geringe Nachhaltigkeit der Erstbegegnung darin zu suchen, dass manche Religionslehrer:innen, Liturgieverantwortliche, Großeltern oder Eltern Bibel nur mit und für ihre Schützlinge lesen und nicht auch aus eigenem Bedürfnis heraus?
Bibel – nur in kleinen Dosen?
Ein zweiter Befund: Auch wenn Bibeltexte nach wie vor meist in gedruckter Form gelesen werden, geht die Tendenz allmählich in Richtung digitaler Medien, die auch tatsächlich großartige Möglichkeiten für die Bibelarbeit bieten. Dennoch eignen sie sich eher für die zielgerichtete Arbeit am Computer als für das ungestörte Lesen längerer (Bibel-)Texte am Smartphone. Dementsprechend erfreuen sich vor allem Einzelverse wie „Wort zum Tag“ oder die Jahreslosung großer Beliebtheit. Ob dies jedoch ausreicht, um zur vertieften Lektüre längerer Textblöcke oder sogar der gesamten Bibel anzuregen, ist fraglich.
Bibel – nur als Teil des Rituals?
Auch im Gottesdienst steht laut Studie die vertiefte Beschäftigung mit Bibeltexten nicht gerade im Vordergrund. Die Lesungen gehören nach Ansicht der Mehrheit dazu, sie werden akzeptiert, hingenommen oder auch tatsächlich gemocht, aber nur wenige würden gern mehr Bibeltexte hören. Dazu passt auch, dass Auslegungen der Texte in der Predigt oft gar nicht erwünscht sind. Ist Bibel vom „Wort des lebendigen Gottes“ also längst zum traditionellen Ritual innerhalb der ebenso traditionellen Liturgie geworden, über die es sich nicht lohnt, näher nachzudenken?
Besonders erstaunt hat mich, dass immerhin je ein Drittel der Katholik:innen und der Protestant:innen angibt, noch nie der Bibel begegnet zu sein. Da Gottesdienstbesuch zwangsläufig auch Bibeltexte enthält, kann das nur zweierlei bedeuten: Entweder diese Personen haben noch nie einen Gottesdienst besucht; oder sie besuchen zwar den Gottesdienst, aber ihnen ist gar nicht bewusst, dass hier Bibel verkündet wird.
Ist Bibel zum traditionellen Ritual geworden?
Bibel – nur fakultatives Beiwerk?
Der Zusammenhang zwischen Religiosität und Bibel ist bemerkenswert. Bibellesende schätzen sich selbst zwar im Schnitt als religiöser ein als Nichtlesende, aber der Unterschied ist nicht übermäßig groß. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sich Menschen nicht als wesentlich weniger religiös empfinden, nur weil sie nicht in der Bibel lesen.
Das deckt sich mit vielen meiner persönlichen Begegnungen. Oft sagen mir Menschen über ihre Religiosität: „Ich bin ein religiöser Mensch, auch wenn ich nicht immer in die Kirche gehe.“ Noch nie habe ich jedoch den Satz gehört: „Ich bin ein religiöser Mensch, auch wenn ich nicht oft Bibel lese.“ Das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, scheint bei fehlender Gottesdienstpraxis eher gegeben zu sein als bei fehlender Bibellesepraxis.
So überrascht es auch nicht, dass ca. 60% der (katholischen wie evangelischen) Kirchenmitglieder nie oder fast nie die Bibel lesen. Und mindestens 37% aller Kirchenmitglieder sehen auch keinen Grund, es zu tun.[2] Glaube und Bibellektüre hängen offenbar für viele nur theoretisch oder kaum zusammen.[3]
Bibel – nur wortwörtlich?
Tägliches Lesen ist nur bei 1,6 Prozent der Bibellesenden anzutreffen. Die Studie hat, wenig überraschend, gezeigt, dass darunter besonders oft (nach eigener Einschätzung) Wertkonservative und Traditionelle sind. Liberale lesen zwar auch, aber weniger häufig in der Bibel. Der Wermutstropfen für die offiziellen Kirchen dabei ist: Gerade unter den häufig Bibellesenden finden sich besonders viele, die Bibel wortwörtlich verstehen – eine Hermeneutik, die von der Lehrmeinung der (katholischen und evangelischen) Kirchen abgelehnt wird. Das bedeutet: Häufige Bibellektüre führt nicht zwangsläufig zu katholischer- und evangelischerseits gewünschtem Bibelverständnis.
Bibel – vielleicht so?
Dem insgesamt eher ernüchternden Befund der Studie möchte ich ein paar „Vielleicht-Hoffnungen“ entgegenstellen, ohne dabei Patentrezepte anbieten zu können.
1) Wenn das Schenken von Bibeln nicht nachhaltig ist, hilft es vielleicht, grundsätzlich umzudenken und stattdessen eine authentische Bibelpraxis zu leben. Das wichtigste Geschenk ist nicht die Bibel, sondern die eigene Bibelbegeisterung. Je ehrlicher sie vorgelebt wird, desto größer sind vielleicht die Chancen auf längerfristige Wirkung, auch bei sich selbst.
2) Da das Lesen längerer Texte abnimmt, könnte man mithilfe von weiterführenden Impulsen und Vertiefungen dazu einladen, kürzere Texte umso länger und eingehender zu bedenken. Vielleicht liegt gerade hier sogar eine Chance. Durch Fortsetzungstexte kann zudem auch der Gesamtkontext deutlich werden.
3) Laut Studie finden viele Menschen Bibel prinzipiell interessant, auch wenn sie sie nicht lesen. Bildungsaffine bzw. wissbegierige Menschen könnten daher mit guter Bibelarbeit, wie sie viele Bildungseinrichtungen und Bibelwerke leisten, durchaus bereichernde Erfahrungen machen. Und vielleicht lassen sich manche von ihnen dann auch auf eine eigenständige Beschäftigung mit der Bibel ein.
4) Wenn Bibel für viele Gläubige zum Gottesdienst einfach dazugehört, ist dies eine Chance, die Bedeutung des „Wortes Gottes“ für den Glauben der gesamten Kirche, auch über die unmittelbar erlebte persönliche Relevanz hinaus, bewusst zu machen. Begegnungsorientierte Bibelerfahrungen im Gottesdienst und Gemeinschaftslektüren (auch in digitalen Formaten) laden vielleicht zusätzlich zur eigenen Lektüre ein.
Vielleicht gelingt Bibelbegegnung am besten, wenn dahinter gute menschliche Begegnungen stehen
5) Gerade wenn jene, die am häufigsten Bibel lesen, sie besonders häufig wortwörtlich verstehen, dann könnten Gespräche auf Augenhöhe mit anders interpretierenden Menschen vielleicht zu einem vertieften Bibelverständnis für alle Beteiligten führen. Der Reichtum der hermeneutisch fundierten Bibelinterpretation böte jedenfalls ausreichend Gesprächsstoff.
6) Selbst wenn Bibel meist allein gelesen wird: Bibellesende stehen immer in einer Gemeinschaft. In Bildungsgemeinschaften, Glaubensgemeinschaften, Sozialgemeinschaften. Je bibelaffiner diese Gemeinschaften sind, desto mehr wird auch Bibel gelesen. Vielleicht gelingt also Bibelbegegnung am besten, wenn dahinter gute menschliche Begegnungen stehen, die den Boden bereiten für die vielen menschlichen und göttlichen Begegnungen der Bibel selbst. Vielleicht liegt da meine größte Hoffnung.
Dank
Der Forschergemeinschaft, die hinter der Studie steht, gebührt jedenfalls großer Dank für die wertvollen Erkenntnisse ihrer Arbeit. Nicht nur vielleicht, sondern sicher helfen die Ergebnisse, den Umgang mit Bibel besser zu verstehen.
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Elisabeth Birnbaum, Wien, ist promovierte Alttestamentlerin und seit 2017 Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.
[1] Deeg, Alexander / Pickel, Gert / Jaeckel, Yvonne / Anika Mélix: Dimensionen biblischer Relevanz. Befunde einer empirischen Befragung zur gesellschaftlichen Verbreitung und Nutzung der Bibel in Deutschland 2022 (Forschungsbericht). Leipzig 2023. https://ul.qucosa.de/api/qucosa%3A86133/attachment/ATT-0/
[2] Hier sind die publizierten Aussagen der Studie widersprüchlich (vgl. S. 21/22 u. S. 36).
[3] Dieses Phänomen habe ich einmal mit: „Die Bibel als Mozart der Pastoral“ beschrieben, vgl. https://www.feinschwarz.net/die-bibel-als-mozart-der-pastoral/.
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