Katharina Karl (Eichstätt) berichtet von Lernerfahrungen in Argentinien, „am anderen Ende der Welt“ (P. Franziskus): zwischen Befreiungstheologie, Weltkirche, Arbeiterpriestern und mühsamer Änderung traditioneller Rollenbilder.
Als Franziskus vor 10 Jahren zum Papst gewählt wurde, führte er sich ein als „Papst vom Ende der Welt“. In dieser Selbstzuschreibung klingt durchaus Kritik an, der sich Theologinnen und Theologen aus Europa oder anderen Ländern der sog. Ersten Welt stellen müssen: Wie fern sind andere theologische Orte und Denkweisen wirklich und wer legt dies fest?
praktische Theologie ist … methodisch per se eine „gelebte Theologie“
An dieses zumindest aus der Perspektive der deutschen Theologie „andere Ende der Welt“ brachte mich ein Forschungsaufenthalt in Argentinien und Chile. Nach über 20 Jahre kehrte ich nach Lateinamerika zurück, damals als Studentin im Voluntariat, heute für einen Forschungsaufenthalt. Damals wie heute empfängt mich große Gastfreundschaft und ein theologisches Ambiente, das durch Solidarität und die Herausforderungen des Lebens in einer Megacity wie Buenos Aires geprägt ist – mit Stromausfällen und im Schatten einer enormen Inflation. Gerade die praktische Theologie ist, zumindest in den Forschergruppen, mit denen ich zusammenarbeite, methodisch per se eine „gelebte Theologie“. Dort schlägt sich der Einsatz für Menschen in prekären Situationen – die Option für die Armen – nicht nur in den Themen, Ansätzen und Publikationen nieder, sondern stellt eine Haltung dar, die auch den Lebensstil der Forschenden prägt. Einige Schlaglichter des Aufenthalts, die einen Einblick in die theologischen Denkrichtungen und Schwerpunkten in Argentinien und Chile gewähren, sollen hier kurz vorgestellt werden.
Das Thema Synodalität ist allgegenwärtig und wird durchaus kontrovers diskutiert.
Ein erstes Schlaglicht beleuchtet das aktuell allgegenwärtige Thema der Synodalität. Das Thema ist allgegenwärtig und wird viel und durchaus kontrovers diskutiert. In die Zeit meines Aufenthalts fiel die Versammlung der Kontinentalphase der südamerikanischen Länder mit mehr als 180 Vertreter:innen der Bischofskonferenzen von Paraguay, Chile, Argentien, Uruguay und Brasilien („Asamblea sinodal del Cono Sur“). Dabei geht auch hier das Spektrum der Positionen weit auseinander. Sie reichen vom Verständnis von Synodalität als „spirituelle Hermeneutik des Hörens“, so die Homepage der CELAM, bis zum Manifest der jungen Synodalen der Asamblea, die konkrete Mitbestimmung fordern.
Sie zeichnen ein Bild der Enttäuschung einer jungen Generation von Katholik:innen, die auch ohne offiziellen Kirchenaustritt die Kirche verlassen: „Wir wissen, warum unsere Freundinnen und Freunde gegangen sind“. Die Gründe, die genannt werden, betreffen die Frage der sexuellen Orientierung, die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden und sich in ihrer Lebenssituation, vor allem in Schwierigkeiten, alleine gelassen zu fühlen, den Verlust der Glaubwürdigkeit durch Missbrauch und mangelnde Beteiligung. Bei einem Austausch mit Studierenden zu diesem Thema fasst ein junger Mann seine Haltung wie folgt zusammen: „Und so habe ich beschlossen, dass ich ohne Kirchen besser glauben kann.“
Wer spricht für wen und wer hat die Deutehoheit über die Relevanz der Erfahrungen anderer?
Soviel dazu, dass die sogenannte Weltkirche die Fragen nicht kennt, die Anlass für den synodalen Weg in Deutschland gewesen sind. Ein intensiver Austausch mit jungen Ordensleuten zum Thema Synodalität bleibt mir besonders in Erinnerung. Alle sind sich darin einig, dass es um gelebte Synodalität gehen muss, nicht nur um eine Idee. Entscheidend ist für die jungen Theolog:innen die Frage nach Gerechtigkeit und die Möglichkeit zur Mitgestaltung konkret in ihrem eigenen kirchlichen Lebensumfeld: Wie gestaltet sich Beteiligung in der eigenen Gemeinschaft, Diözese etc. Für einen jungen Ordensmann aus Tansania war Synodalität bislang eine Utopie im Sinne der Unerreichbarkeit. Aber in Argentinien erlebt er, dass er mitsprechen kann und Teilhabe möglich ist. Am nächsten Tag verfolge ich die letzte Versammlung des Synodalen Wegs in Deutschland auf youtube und höre die Einlassung eines Teilnehmers des Synodalen Weges, der seinerseits aus Afrika stammt. Er erklärt, die in Deutschland verhandelten Themen seien dort nicht existent. Im Blick auf die vorher geschilderten Eindrücke drängt sich eine Frage auf, die für den Prozess der Weltsynode symptomatisch ist: Wer spricht für wen und wer hat die Deutehoheit über die Relevanz der Erfahrungen anderer?
Die „Pastoral Villera“ entstand aus der Bewegung der Priester für die dritte Welt, einer Art Arbeiterpriesterbewegung.
Ein Phänomen der argentinischen Kirche ist die Bewegung der „Pastoral Villera“. Diese Pastoral widmet sich den Gemeinden der Peripherien, wobei Peripherie zumindest in Buenos Aires symbolisch zu verstehen ist. Die Armenviertel haben sich hier nicht an den Rändern der Millionenstadt gebildet, sondern mitten drin. Neben dem Busbahnhof, zwischen den Autobahnen, an unbesiedelten Flecken der Stadt und der Provinz von Buenos Aires finden sich Viertel, die keine Straßennamen haben und keine Bezeichnung des Viertels vorweisen können, sondern durchnummeriert sind, etwa als Villa 31, Villa 20 oder Villa 40-42. Die „Pastoral Villera“ entstand aus der Bewegung der Priester für die dritte Welt („sacerdotes para el tercer mundo“), einer Art Arbeiterpriesterbewegung, die befreiungstheologisch geprägt ist und deren Mitglieder durchaus auch politisch verfolgt wurden.
Diese Zeit der Diktatur zwischen 1976 und 1983, als Regimekritiker um ihr Leben fürchten mussten, hat in Theologie und Kirche bis heute Spuren hinterlassen – wie in den Erzählungen der Menschen, aber auch im Stadtbild deutlich wird, wo etwa Gedenkorte an die „Madres de Plaza de Mayo“ erinnern, also an Frauen, die für ihre verschleppten Kinder auf die Straße gegangen sind. Die „Curas Villeros“ solidarisierten sich mit den gesellschaftlich Marginalisierten, demonstrierten gegen die Vertreibung der Bewohner der ärmeren Viertel und setzen sich auch heute für bessere Lebensbedingungen der Menschen ein. So treffe ich eine Gruppe der „Hogares de Cristo“, einer von der Pastoral der Villa getragenen Gruppierung, die sich auf Papst Franziskus beruft und versucht, drogenabhängige junge Menschen und ihre Familien zu begleiten und ihnen professionelle Hilfe anzubieten, die Sucht zu überwinden und neue Perspektiven zu finden.
Es fällt auf, dass trotz der sozialkritischen Ausrichtung, die Bewegung damals wie heute von Priestern geleitet und repräsentiert wird und hierarchisch organisiert ist. Ordensschwestern und Laien, die maßgeblich darin mitwirken und die Arbeit in den Gemeinden unterstützen, haben keine offiziell tragende Funktion. Die Notwendigkeit einer angemessenen Beteiligung, Einbindung und Würdigung steht noch aus. Nichtsdestotrotz ist die Bewegung bis in unsere Tage wirkungsvoll und Ausdruck einer sozialdiakonischen Kirche, die im Gegensatz zu Entwicklungen der Gemeinden, die ähnlich wie in Europa einen recht hohen Mitgliederschwund zu verzeichnen haben, lebendig ist und gesellschaftlich Position bezieht.
Theologische Bedeutung der Erfahrung von Frauen und ihre Suche nach Ermächtigung und Beteiligung
Hier klingt bereits der letzte Punkt an, den ich beleuchten will: die theologische Bedeutung der Erfahrung von Frauen und ihre Suche nach Ermächtigung und Beteiligung. Das Thema hatte ich im Gepäck dabei, es ließe sich natürlich an jedem Ort der Welt erforschen und diskutieren. Im Kontext von Argentinien und im dortigen theologischen Feld nahm ich aktuell folgende Nuancen oder auch „Zeichen der Zeit“ wahr: Ein großes Thema im akademischen Bereich sind mangelnde Chancen und strukturelle Schwierigkeiten für Theologinnen. Es gibt wenige Professuren, die mit Frauen (oder männlichen Laien) besetzt sind, und noch weniger Vollzeitstellen, so dass eine theologisch forschende Frau neben der Familie zum Teil mehrere andere Tätigkeiten als Katechetin, in der Ausbildung von Lehrkräften oder in anderen pastoralen Funktionen ausübet. Über die kirchliche und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen aus prekären Verhältnissen bis zur Problematik von Gewalt gegen Frauen und Feminizid ist die Frauenfrage (die sicher zu erweitern ist auf die Frage nach Diversität) dringend und präsent. Hierzu konnte ich Eindrücke sammeln im Gespräch mit jungen Frauen aus den „Villas“, die ich zu ihren Erfahrungen von Vulnerabilität und Empowerment interviewt habe. Die christliche Gemeinschaft vor Ort ist – trotz der geschilderten Ambivalenzen – für viele von Ihnen ein Ort, an dem sie sich entwickeln können und der sie stark macht.
Es sind so einige Learnings, die ich mit nachhause nehme und als Folie auf die pastoraltheologischen Themen lege, die mich beschäftigen. Sehr nachdenklich macht mich die Frage, die schon anfangs angeklungen ist: Wie lassen wir uns ansprechen von anderen Erfahrungswelten und Denkweisen und wo reklamieren wir bewusst oder unbewusst doch eine Deutehoheit für das, was uns vertraut und teuer ist. Vielleicht ist ja das jeweilige Ende der Welt nicht das Ende, sondern der Anfang einer anderen Art der Wahrnehmung.
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Katharina Karl, Dr. theol., ist Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie befasst sich mit Formen der Nachfolge und christlicher Lebensgestaltung in der Gegenwart – bevorzugt mit biografiesensiblen Methoden der Pastoraltheologie – und interessiert sich besonders für Pastoral in interkulturellen Kontexten.
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