Lässt sich der Corona bedingte Lockdown, der für unsere Gesellschaft zahlreiche, auch noch nicht vollends absehbare negative Konsequenzen gezeitigt hat, zumindest im Blick auf die Frage nach New Work als ein unfreiwilliges, aber letztlich erfolgreich ausgegangenes Großexperiment nutzen? Ursula Nothelle-Wildfeuer
Kann das Virus offenbaren, wie sich Erwerbsarbeit weitaus individueller und agiler gestalten lässt, wie sich Erwerbsarbeit, Familienzeit, Hausarbeit und Rekreationszeit individuell und autonom in ein stabiles Gleichgewicht bringen lassen? Kurz: wie sich die neue Arbeitswelt oder auch „New Work“ letztlich doch einfach umsetzen lassen?
Digitalisierung ja, aber neue Kultur?
In der Tat, Studien zeigen, dass sich – zumindest auf den ersten Blick – durch die und in der Krise ein massiver Sprung in Richtung New Work eingestellt hat. Das lässt sich in ein paar Fakten und Zahlen andeuten: Deutlich mehr Menschen arbeiten im Homeoffice. „Während derzeit mehr als die Hälfte der Befragten fünf Tage in der Woche von zu Hause arbeiten, waren es vor der Krise lediglich vier Prozent. Auch Personen, die vor der Krise nie im Homeoffice gearbeitet hatten (30 Prozent), nutzen nun Homeoffice. Nur noch fünf Prozent der Befragten arbeiten gar nicht von zu Hause aus. Ferner verteilt sich die Zeit, in der gearbeitet wird, nun bei mehr Personen über die komplette Woche. Während vor der Krise nur zwei Prozent der Befragten sechs bis sieben Tage die Woche arbeiteten, sind es aktuell mehr als zehn Prozent.“1
Zahlreiche technologisch-strukturelle Anpassungen an die neue Situation hat es also gegeben. Bei den drei „Ds“, die New Work kennzeichnen, nämlich „Digitalisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung“2, ist in Richtung Digitalisierung, auch zum Teil in Richtung Dezentralisierung tatsächlich einiges passiert. Ob aber in Richtung Demokratisierung und damit verbunden Selbstbestimmung eine Entwicklung stattgefunden hat, muss sehr bezweifelt werden.
Retraditionalisierung der Rollenverteilung
Im Gegenteil, unterschiedliche Studien zeigen auf, dass sich gerade im Umfeld dieser Herausforderungen keine neue familiale und gesellschaftliche Kultur entwickelt, sondern dass es im Gegenteil einen Rückfall in alte Rollenmuster gibt – die Soziologie spricht hier z.T. sogar von „Retraditionalisierung“3. Das mag daraus zu erklären sein, dass angesichts der großen Unsicherheiten im Umfeld der Pandemie auf der einen Seite Debatten und Aushandlungsprozesse über anstehende Fragen in den Hintergrund geraten sind, dass sich auf der anderen Seite die Tendenz entwickelt hat, auf alte Strategien zu setzen, die sich jedoch unter ganz anderen Konditionen bewährt haben. In Konsequenz aus der Rückverlagerung des gesamten Lebens in die jeweils eigenen vier Wände „erhalten auch die klassischen Geschlechterrollen wieder Rückenwind“4.
Gerade die Frauen sind unter Corona-Konditionen im Blick auf die Aufteilung der familiären Sorgearbeit deutlich stärker gefordert. Einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung zufolge geben 54% der befragten Frauen, aber nur 12% der Männer an, „den überwiegenden Teil der Kinderbetreuung zu übernehmen. […] Nur ein Drittel der Befragten gibt an, dass die Betreuung der Kinder von beiden Elternteilen gleichermaßen übernommen wird.“5 Der Rückfall in alte Muster drückt sich auch genau darin aus, dass selbst Familien mit vormals fairer Aufteilung während der Pandemie nur noch zu 60% von einer Fortsetzung ihres bisherigen fairen Modus sprechen. Für Corona-Frauen (so ein Hashtag auf Instagram) bedeutet diese Situation eine vierfache Belastung6 :
Neben der veränderten Situation der Erwerbsarbeit – entweder mit gleichbleibenden Anforderungen im Homeoffice oder in Sorge aufgrund von Kurzarbeit oder Kündigung – müssen sie den weitaus größten Teil der Kinderbetreuung übernehmen, das Homeschooling, ggf. für mehrere Kinder unterschiedlichen Alters, meistern und den Haushalt (auch das ohne Unterstützung der ggf. sonst den Alltag erleichternden Haushaltshilfe) führen. Zudem gilt es, vor allem in den prekären Familiensituationen, die für das Homeschooling notwendigen technischen Voraussetzungen, z.T. unter enormen Anstrengungen, zu schaffen. Mit wenigen Abstrichen galt dies auch übrigens dann noch, als schon zahlreiche Lockerungen eingeführt und die Wirtschaft und das öffentliche Leben wieder hochgefahren worden waren, aber Kita und Schule immer noch im Not-Betrieb agierten. Ergänzt sei an dieser Stelle jedoch auch das hier noch einmal differenzierende Ergebnis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das in einer repräsentativen Studie die Arbeitsteilung in den Familien insbesondere unter Corona-Bedingungen untersucht hat und feststellen konnte, dass zwar in der Tat die Frauen immer noch den größeren Teil der Mehrfachbelastung schultern, dass aber die Männer hinsichtlich der Beteiligung an der Carearbeit durchaus aufholen.7
Individuelle oder systemische Gründe?
Nach den Gründen für diese Retraditionalisierung gefragt, greift es sicher deutlich zu kurz, den Blick nur auf den Willen und die Einsatzbereitschaft der jeweiligen Eltern zu richten. Es geht auch sicherlich nicht darum, Kinder in dieser Debatte prinzipiell einfach nur als Belastung zu bezeichnen8 und den Eltern in Wiederaufwärmung einer überwunden geglaubten Debatte pauschal vorzuwerfen, ihr erklärtes Ziel sei, die Kinder so schnell wie möglich „wegzuorganisieren“. Sicher ist, dass auch ein besonderer Fokus auf die Rahmenbedingungen gelegt werden muss, die es nicht leicht machen, eine gleichberechtigte Aufgabenteilung umzusetzen. Die Betreuungssituation führt in vielen Fällen dazu, dass ein Elternteil den zeitlichen Umfang seiner Berufstätigkeit reduzieren muss. Dass das größtenteils die Frauen trifft, liegt auf der Hand, denn sie arbeiten vielfach in den Berufen, die zwar jetzt als systemrelevant erkannt sind und vor allem in den ersten Wochen als „Coronaheldinnen“ vielfach spontanen Beifall ernteten, die aber insgesamt wenig Prestige genießen und schlecht bezahlt sind. So versuchen die Familien, zumindest die Einkommenseinbußen so gering wie möglich zu halten. Dass die Erkenntnis der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung dieser Berufe zu einem dauerhaften, institutionell und strukturell verhandelten besseren und angemesseneren Einkommen führt, muss ein vorrangiges Ziel zeitnaher gesellschaftlicher Verständigung sein.
Corona-Pandemie als Brennglas
Insgesamt zeigt sich, dass in der Pandemie hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle der Frauen kein gänzlich neues Problem aufkommt, sondern dass Corona wie ein Brennglas wirkt, das die bisher gesellschaftlich weitgehend überwunden geglaubten, aber doch noch vorhandenen Ungleichheiten in der Lastenverteilung bündelt und jetzt offenbar werden lässt. Der nicht mehr für möglich gehaltene Rückfall in die Rollenverteilung früherer Generationen lässt auch einschneidende Konsequenzen dieser Entwicklung sichtbar werden: Die Reduktion der Arbeitszeit bei Frauen führt zu für sie deutlich erschwerten Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten, insbesondere in den unteren Einkommensgruppen.9 Das wiederum zementiert den ohnehin in unserer Gesellschaft immer noch vorhandenen gender pay gap, also die Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern, aber auch die Unterschiede zwischen den Haushalten mit höheren und niedrigeren Einkommen.
Die sozialethische Frage nach Freiheit und gelingendem Leben.
Aus (christlich-)sozialethischer Perspektive sind hier vielfältige Aspekte zu bedenken. Zunächst der Freiheitsaspekt: Frauen haben heute eine völlig andere Vorstellung vom gelingenden und guten Leben, welche die eigene Freiheit, eigene Entscheidungen und Gleichberechtigung im privaten und öffentlichen Leben impliziert und sich auch nicht mehr ohne weiteres in Übereinstimmung bringen lässt mit den nun wieder aufgekommenen Rollenzuteilungen. Hier gleich ein Sich-Drücken vor primären Elternaufgaben zu wittern, wird der Situation der Retraditionalisierung in keiner Weise gerecht. Sie basiert nämlich nicht, wie bei den vor allem auf Instagram aktiven so genannten „Tradwives“, auf eigener Entscheidung für eine patriarchalische Ordnung, sondern ist Folge einer ungeplanten und ungewollten Entwicklung und Ausdruck noch verborgen vorhandener Muster. Insbesondere auch in einer christlich-theologisch angemessenen Perspektive kann es in keiner Weise mehr darum gehen, ein geschichtlich längst überholtes Modell von der Rollenaufteilung in Ehe und Familie als überzeitlich gültig und sakrosankt zu erklären, das hier nun wieder fröhliche Urständ feiern würde. Vielmehr geht es entschieden darum, dass beide Partner*innen gleichberechtigt und miteinander aushandeln, wie sie ihre jeweils eigenen und auch die gemeinsamen Werte realisieren und die Aufgaben und Rollen verteilen wollen.
Christlicher Ethik muss es also in diesem Zusammenhang vor allem um den Respekt der Würde und der Rechte der Frau gehen, was selbstverständlich nicht losgelöst von den Aufgaben in einer Familie zu sehen ist. So liegt es nahe, dass sich auch ein positiver Blick auf diese Corona-Zeit in der Familie ergeben kann, aber genau dann, wenn trotz aller Belastungen Raum für Erfahrungen von Freiheit und für diese Art des Miteinander-Familie-Seins bleibt. Dies kann ggf. nicht nur aus eigenen Kräften gelingen, sondern bedarf solidarischer Unterstützung, sowohl in horizontaler Linie, d.h. aus familiärem und zivilgesellschaftlichem Kontext, aber auch in vertikaler Linie durch staatliche Sozialpolitik. Es ist nicht Aufgabe von Politik, für die Menschen zu klären, welcher Art zu leben das Attribut „gelingend“ zukommt – das entscheiden die Menschen jeweils für sich. Aber es ist ihre Aufgabe, ermöglichende Rahmenbedingungen zu setzen.
Die sozialethische Frage nach Gerechtigkeit und Partizipation.
Die Frage nach Staat und Gesellschaft lenkt den Blick auf ein weiteres ethisches Problem, nämlich das der Beteiligungsgerechtigkeit. Christliche Sozialethik definiert den Terminus der sozialen Gerechtigkeit im Anschluss an den amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief von 1986 als Recht zur Teilhabe und Teilnahme. Im vorliegenden Kontext geht es also darum, dass vor allen Dingen den Frauen angesichts der Pandemie und der damit verbundenen Entwicklungen die angemessene und faire Partizipation an den angestoßenen gesellschaftlichen Prozessen vorenthalten wird: an den Möglichkeiten zum Home Office, an den Chancen auf Anpassung der Arbeitsabläufe an ihre individuellen Interessen und Bedürfnisse, an der Beteiligung am fairen Wettbewerb um Aufstiegschancen. Solidarische Unterstützung in diesem Kontext bedeutet das Schaffen von Programmen und Konditionen, die jeweils gesondert und eigens nach den Auswirkungen auf Frauen und ihre Teilhabemöglichkeiten überprüft werden müssen. Christliche Sozialethik muss ihr besonderes Augenmerk darauf richten, artikulierte sich doch darin aktuell ihre spezifische Sorge um die Menschen, die angesichts vorrangig ökonomischer Parameter in der Bewältigung der Krise allzu leicht aus dem Blick geraten.
Und nein, es handelt sich nicht um einen gelungenen Großversuch für New Work. Im Gegenteil, eigentlich können diesbezüglich nur einige, auch z.T. ernüchternde Bemerkungen zum Stand der Digitalisierung gemacht werden. New Work meint eben nicht digitales Arbeiten bei gleichzeitiger Mehrfachbelastung der Frauen. Vielmehr meint es im Blick auf unsere Fragestellung die langfristige Etablierung flexibler und agiler Arbeitsbedingungen im beruflichen Kontext, die nicht nur die Produktivität zu steigern vermögen, sondern zudem auch im privaten Kontext Familien die Chance bieten, eine gleichberechtigtere Rollen- und Aufgabenverteilung zu erreichen und mehr gemeinsamen Freiraum zu sichern.
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Text: Dr. theol. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Professorin für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und arbeitet derzeit verstärkt zu den Themen Arbeit 4.0, Digitalisierung und KI.
Bild: Birgit Hoyer
- Bruch, Heike; Meifert, Matthias (2020), Nur das Naheliegende wird umgesetzt. In: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, 28.04.2020. Online verfügbar unter https://www.haufe.de/personal/hr-management/auswirkungen-der-corona-krise-auf-new-work_80_514890.html, zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Nopper-Pflügler, Maxim (2020), New Work steht unter Druck. In: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, 21.04.2020. Online verfügbar unter https://www.haufe.de/personal/hr-management/new-work-steht-unter-druck-studie-soll-klarheit-bringen_80_514290.html?emos_sid=AXKEz9oFgzNjq6FKytw63zSArX*zd3iD&emos_vid=AXKEz9oFgzNjq6FKytw63zSArX*zd3iD, zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Allmendinger, Jutta (2020), Familie in der Corona-Krise: Die Frauen verlieren ihre Würde. In: Die Zeit, 12. 05.2020. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueckentwicklung/komplettansicht , zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Hirn, Lisz (2020), Konservatismus: Zurück in alte Muster. In: Die Zeit, Nr. 18. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2020/18/konservatismus-frauen-coronavirus-krise-ungleichheit?print, zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Kohlrausch, Bettina; Zucco, Aline (2020), Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt. Weniger Erwerbseinkommen und mehr Sorgearbeit, S.5f. In: Policy Brief WSI, H. 05. ↩
- Vgl. Deutschlandfunk (2020), Sozialwissenschaftlerin: „Frauen sind oft dreifach benachteiligt“. Ausgestrahlt am 30.04.2020. Online verfügbar unter https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/corona-krise-trifft-vor-allem-die-frauen, zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Groll, Tina; Loos, Andreas (2020), Emanzipation: Von wegen Rolle rückwärts. In: Die Zeit, 08.06.2020. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/emanzipation-corona-krise-gleichstellung-soep-arbeitsteilung-belastung/komplettansicht, zuletzt geprüft am 08.06.2020. ↩
- Vgl. Eberhardt, Anuschka (2020), Homeschooling: Endlich Kinderzeit. In: Die Zeit, 03.06.2020. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2020/24/homeschooling-kinderbetreuung-muetter-kinder-corona-krise. ↩
- Vgl. Kohlrausch, Zucco 2020, S. 8. ↩