Mit dem Advent startet am kommenden Sonntag auch zugleich ein neues kirchliches Lesejahr, das für die Liturgie diesmal höchst spannende Abschnitte aus dem Markus-Evangelium bereithält. Christian Bauer berichtet aus der aktuellen exegetischen Forschung. Dabei geht es um zerstrittene Gemeinden, römische Kaiser und einen verschwundenen Jesus.
Das Markusevangelium ist immer für eine Überraschung gut. Nicht nur deshalb ist es mein erklärtes Lieblingsevangelium. Seit der großartigen Würzburger Markus-Vorlesung von Martin Ebner[1] während meines Studiums verfolge ich die exegetische Fachdiskussion mit entsprechender Begeisterung.
In den letzten Jahren sind im deutschen Sprachraum gleich drei interessante neuere Habilitationsschriften zur Markus-Exegese erschienen: „Wege des Heils“ (2010) von Karl Matthias Schmidt (Professor in Gießen), „Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis“ (2014) von Sandra Hübenthal (Professorin in Passau) und „Christus militans“ (2016) von Gabriella Gelardini (Privatdozentin in Basel).
Gemeinde, Flavier und Struktur
Aus der Fülle der neueren Markusliteratur greife ich diese drei Monographien heraus und konzentriere mich dabei auf das Buch von Karl Matthias Schmitt bzw. auf einen bestimmten Aspekt daraus – nicht ohne knappe Seitenblicke jedoch auf die beiden anderen Werke. Denn Schmidts Buch verknüpft gleich drei wichtige Interessen der jüngeren Markusforschung miteinander: die das Evangelium hervorbringende Markusgemeinde, die kontextuellen Bezüge zum Aufstieg des Flavischen Kaiserhauses und die mit beiden Aspekten verbundene Gesamtarchitektur des Markusevangeliums.
Narrative Makrostruktur
Mit Blick auf identitätsstiftende Narrative teilt Sandra Hübenthal im Horizont kulturwissenschaflicher Gedächtnisforschung das erstgenannte Interesse, Gabriella Gelardini im Rückgriff auf historische Militärforschung zum Kontext des jüdisch-römischen Krieges das zweite. Neben diesen beiden Punkten fasziniert mich selbst vor allem das drittgenannte Forschungsinteresse: die mit der narrativen Makrostruktur des Evangeliums verbundene markinische (Oster-)Theologie.
Offenes Ende des Markusevangeliums
Schon lange beschäftigt mich das offene Ende des Markus-Evangeliums[2] mit seiner spätmodern höchst gegenwartsfähigen Ostertheologie. Es schließt nämlich in seiner vermutlich ursprünglichen Gestalt mit Vers 16,8 ohne einen ausdrücklichen Erscheinungsbericht des Auferstandenen. Stattdessen werden die Frauen, die in aller Frühe zum Grab gehen und es leer vorfinden, mit dem Auftrag an die Jünger zurückgeschickt: „Geht nach Galiläa, dort werdet ihr Jesus sehen“ (Mk 16, 7).
Wie bei Monopoly: Gehen Sie zurück auf Start!
Es ist wie bei Monopoly: Gehen Sie zurück auf Start! Die Jünger werden wieder an den Anfang des Ganzen zurückversetzt und das Evangelium kann von neuem beginnen – nun allerdings mit ihnen als den Hauptakteuren, die von nun an ihren eigenen Reich-Gottes-Weg von Galiläa nach Jerusalem gehen: Kranke heilend, Hungernde speisend, Trauernde tröstend und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufend. Im Gehen dieses Weges kann ihnen der Gekreuzigte dann wieder begegnen.
Mk 1,35 als Fortsetzung von Mk 16,8
Wie das geschieht, dazu hat Karl Matthias Schmitt[3] im Anschluss an ältere Forschungsbeiträge eine faszinierende These vorgelegt, die ein neues Licht auf das Ende des Markusevangeliums wirft: Mk 1,35-39 ist der eigentliche Abschluss des Evangeliums. Er bietet eine verborgene „Fortsetzung der in Mk 16,8 abgebrochenen Ostergeschichte“ (5), in der Jesus – gegengleich zum als Sol oriens inszenierten römischen Kaiser Vespasian (vgl. 477f) – „der Sonne gleich am frühen Morgen aus der Unterwelt ersteht“ (160) und seinen Jüngern verheißungsgemäß in Galiläa erscheint.
Grund- und Komplettierungslektüre
Schmidt unterscheidet dementsprechend eine „Grundlektüre“ (6) des Evangeliums, also einen ersten Lesedurchgang, der bei Mk 1,1 beginnt und bei Mk 16,8 endet, und eine „Komplettierungsleküre“ (6), also einen zweiten Durchgang, der von dort aus in Mk 1,35 weiterliest: „In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus.“ (Mk 1,35-39).
Suche nach Jesus im Text und im Leben
Der offene Schluss des Evangeliums lädt somit zu einer „Rückwendung in den Text“ (17) ein: „Das Evangelium drängt seine Leser dazu, am Ende des Textes angekommen die Lektüre erneut zu beginnen.“ (529). Markus greift mit seiner raffinierten Erzählstruktur dabei auf einen Kunstgriff der antiken Rhetorik zurück: „[Ist] […] das Buch durchgelesen, so ist es unbedingt von neuem vorzunehmen, und das besonders, wenn es sich um eine Rede handelt, wo das Vorzüglichste häufig gerade absichtlich versteckt wird. Denn oft bereitet der Redner nur vor, verheimlicht, stellt eine Falle und sagt das im ersten Teil der Rede, was seinen ganzen Nutzen erst am Ende zeigen wird. Deshalb gefällt es nicht recht, da wir bis dahin noch nicht wissen, warum es gesagt ist, und darum wird man es, wenn erst alles bekannt ist, noch einmal betrachten müssen.“ (Quintillian, zit. 529).
Spiritueller Gewinn und pastorale Herausforderung
Selbst dann, wenn sich diese These exegetisch nicht durchsetzen sollte, ist sie ein spiritueller Gewinn und eine pastorale Herausforderung. In jedem Fall lädt sie dazu ein, im neuen Lesejahr das Markusevangelium wieder einmal zur Hand zu nehmen – als das kürzeste aller vier Evangelien lässt es sich gut in einem Zug lesen: „Es gilt, sich angesichts des leeren Grabes auf die Suche nach dem Erstandenen zu machen, nicht nur verborgen zwischen den Seiten des Evangeliums, sondern auch in ganz einfachen, unscheinbaren Begegnungen und Momenten.“ (530).
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Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik in Innsbruck und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bildquelle: Pixabay
[1] Vgl. einführend Martin Ebner: Das Markusevangelium. Neu übersetzt und kommentiert, Stuttgart 2008.
[2] Vgl. Christian Bauer: „Zurück nach Galiläa…“. Praktiken spätmoderner Nachfolge Christi auf den Spuren des Markusevangeliums, in: Joachim Kügler, Eric Onomo Souga, Stephanie Feder (Hg.): Bibel und Praxis. Beiträge des Internationalen Bibel-Symposiums 2009 in Bamberg, Münster 2011, 13-35.
[3] Die nachfolgend angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Karl Matthias Schmidt: Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptionskontexte des Markusevangeliums, Göttingen 2010.