Ein neues Lesejahr steht vor der Tür, in dessen Zentrum das Evangelium nach Markus steht. Christian Bauer ermöglicht einen erfrischend alternativen Blick darauf: konkrete Jesusnarrative statt abstrakte Christusspekulation. Neues von Markus – Teil zwei.
Markus war ein wirklich genialer Theologe. Es lohnt sich daher, zu Beginn des neuen kirchlichen Lesejahres im kommenden Advent einen etwas anderen, diskurstheoretisch ausgerichteten Blick auf den Evangelisten und sein Evangelium zu werfen: Welche Rolle spielte Markus am Beginn der christlichen Theologiegeschichte?
Das Neue Testament ist ein offener Diskursraum, in dem die Frage nach Jesus aus verschiedenen Perspektiven verhandelt wird. Der folgende Erkundungsgang konzentriert sich auf eine spannungsvolle und für das frühe Christentum in höchstem Maße grundlegende Differenz des neutestamentlichen Diskurses: Paulus und Markus.
Christus- versus Jesusmystik
In seinen situativ verorteten Gemeindebriefen bietet Paulus eine nachösterliche ‚Christusmystik‘, die im Horizont der eigenen Bekehrungserfahrung weitgehend ohne Erinnerungen an den historischen Jesus auskommt. Darauf antwortet Markus mit einem Narrativ, das die Geschichte des historischen Jesus theologisch so rekonstruiert, dass ihr offener Schluss geradewegs in die ‚Jesusmystik‘ gelebter Nachfolge führt: „Er geht euch voraus nach Galiläa… “ (Mk 16, 7).
Paulinische Christusspekulation und markinisches Jesusnarrativ bilden, diskurstheoretisch betrachtet, eine neutestamentliche Grundkonstellation des Christlichen. Im Folgenden werden mit Blick auf diese Konstellation zwei exegetische Stimmen ausgewählt und hörbar gemacht – eine ältere[1] und eine neuere[2]. Alle nachfolgenden Zitate stammen aus diesen beiden Büchern, welche die theologiegeschichtlich nicht zu unterschätzende Leistung des Evangelisten Markus erhellen.
Markus in der älteren Exegese
Als erster Exeget der jüngeren Theologiegeschichte schrieb der evangelische Neutestamentler Willi Marxsen bereits 1956 Markus das Verdienst zu, eine „Vereinigung des hellenistischen Kerygmas von Christus“ mit der später synoptisch genannten „Tradition über die Geschichte Jesu“ geleistet zu haben. Erstmals in der Christentumsgeschichte stellte der Evangelist somit das paulinische „Christus-Kerygma“ in den narrativen Rahmen eines synoptischen „Jesus-Kerygmas“.
In seiner bahnbrechenden Habilitationsschrift über den Evangelisten Markus, mit der Marxsen die exegetische Redaktionsgeschichte begründete, stellte er dessen redaktionelle Leistung („Framing“) zugleich auch als eine eminent theologische heraus: „Markus […] hat – außer gewissen Sammlungen und einer Passionsgeschichte – lediglich anonyme Einzeltraditionen vor sich. […] Den Anteil an seinem Werk und damit seine eigentliche Leistung fassen wir […] nicht im Stoff, sondern im ‚Rahmen’.“
Narratives Reframing
Dieser narrative „Markusrahmen“ verleiht dem Evangelisten eine äußerst wichtige Position am Beginn der christlichen Theologiegeschichte: „Im Markusevangelium kreuzen sich zwei Ströme […]. Der eine ist begrifflich-theologisch, wird vertreten etwa durch Paulus. Der andere ist kerygmatisch-anschaulich, bedient sich des synoptischen Traditionsgutes. Markus führt nun beide Ströme zusammen […]: das paulinische [Christus-]Kerygma und die […] synoptische [Jesus-]Tradition.“
Diese diskursgeschichtliche Leistung verleiht Markus eine „zentrale Stellung unter den Theologen der Urchristenheit“. Entsprechende Linien lassen sich bis in unsere heutige Zeit hinein ausziehen – bis hin zur nachkonziliaren Theologie der Befreiung bzw. zur Neuen Politischen Theologie. Denn durch sein narratives Reframing von Vorgefundenem ‚re-messianisiert’ (vgl. J. Sobrino) der Evangelist die paulinische Christusspekulation, in dem er das christologische Dogma „zurückerzählt“ (J. B. Metz) zu den messianischen Jesusgeschichten an dessen Beginn.
Markus in der neueren Exegese
Bisher war immer von ‚Markus’ die Rede. Der Verfasser des mit diesem Namen bezeichneten Evangeliums ist uns jedoch nicht bekannt. Sein Name – Markus ist eine römische Allerweltsbenennung – kommt im Text nirgends vor. Das Evangelium ist eine Schrift mit anonymem Autor. Erst die kirchliche Tradition brachte es mit einem latinisierend ‚Markus’ genannten Johannes zusammen, der Papias zufolge ‚Dolmetscher’ des Petrus war und von daher – so der reformierte Pfarrer Klaus Bäumlin – „über Jesus aus erster Hand“ informiert gewesen sein dürfte.
Einerseits stand dieser Markus der Apostelgeschichte zufolge „ganz nahe am Geschehen“ der Jerusalemer Urgemeinde (vgl. Apg 12,12), andererseits war er aber auch ein „zeitweiliger Begleiter des Paulus“ (Apg 12, 25). Johannes Markus war also ein Mitarbeiter sowohl des Petrus als auch des Paulus – seine Gestalt verbindet somit die beiden frühesten Hauptströmungen des Christentums. Auf seine zweite Missionsreise wollte Paulus ihn jedoch nicht mehr mitnehmen, weshalb es zu einer „heftigen Auseinandersetzung“ (Apg 15,38) zwischen ihm und Barnabas kam.
Hintergrund dieser Trennung könnten – so Bäumlins diskurstheoretisch anregende Spekulation – „grundsätzliche theologische Meinungsverschiedenheiten“ gewesen sein: „Ich halte es für denkbar, dass Markus nicht damit einverstanden war, dass Paulus sich so sehr auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi konzentrierte und am irdischen Jesus von Nazaret kaum interessiert war, in seiner Verkündigung die überlieferten Worte und Taten Jesu nicht erwähnte.“
Exegetisch produktive Spekulation
Diese Hypothese ist zugegebenermaßen nur eine Spekulation – aber eine exegetisch produktive: „Es ist denkbar, dass Johannes Markus mit dieser Ausblendung des irdischen Jesus und dessen Verkündigung vom Reich Gottes nicht einverstanden war und Paulus in dieser Hinsicht auch kritisierte, was dann dazu führte, dass die beiden getrennte Wege gingen. […]. [Auch] […] wenn der Verfasser des Evangeliums ein anderer, uns unbekannter ‚Markus’ ist, kann sich dieser auf das […] durch Paulus überlieferte Bekenntnis mit seiner Konzentration auf Kreuz und Auferstehung bezogen und sich mit ihm auseinandergesetzt haben.“
Markus im neutestamentlichen Diskurs
Der christliche Kanon des Neuen Testaments ist das Zeugnis eines theologisch pluralen Diskurses. In diese neutestamentliche Konstellation gehören neben Paulus, Markus und vielen anderen auch Lukas, der in seiner Apostelgeschichte die synoptische Tradition mit der paulinischen Lebensgeschichte verknüpft, und Matthäus, der auf das Gesetzesverständnis des Paulus kritisch reagiert. Johannes bringt in diesen Diskurs eine ganz eigene spekulative Theologie ein. Die plurale Differenz dieser Stimmen des neutestamentlichen Kanons eröffnet einen weiten Raum für heutige christliche Selbstverortungen.
Öffnende ‚Geschlossenheit‘ des Kanons
Michel de Certeau, ein jesuitischer Doppelgänger Michel Foucaults, über diese neutestamentliche „Autorität im Plural“, derzufolge Paulus und Markus einander in konstitutiver Weise fehlen – und beiden zusammen Jesus als entzogener Ursprung des Christentums: „Jede Gestalt von Autorität im Christentum ist durch die Absenz dessen markiert, was sie begründet. […] Die erste Schrift […] ist ein Ensemble von Texten, die nicht dasselbe sagen. Das Evangelium des Markus ist ebenso wenig reduzierbar auf das des Johannes wie auf die Briefe des Judas oder Paulus. Diese Nicht-Identität charakterisiert die Sprache des Neuen Testaments. […] Die ‚Geschlossenheit’ des Neuen Testaments ermöglicht Differenzen.“
Damit wäre auch in der Pastoral schon viel gewonnen.
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik in Innsbruck und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
Bildquelle: Pixabay
[1] Willi Marxsen: Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, Göttingen 1956.
[2] Klaus Bäumlin: Das Markusevangelium heute lesen, Zürich 2019.