Mit dem Advent beginnt zugleich ein neues Kirchenjahr. Im Zentrum seiner katholischen Gottesdienst-Leseordnung steht ein ziemlich subversiver Text: das Markus-Evangelium, die vermutlich erste kontextuelle Theologie des Christentums. Christian Bauer berichtet von neuesten Ergebnissen der Bibelwissenschaft.
„Königsmacher“, „Gekreuzigter Triumphator“ sowie „Königsvolk und Gotteskinder“ – schon diese drei Buchtitel animieren zum Lesen. In unterschiedlicher Weise erweisen sie den Evangelisten Markus, zumindest indirekt, als einen frühen (wenn nicht gar als den ersten) christlichen Meister einer kontextuellen Theologie. Nicht zuletzt deshalb interessiert sich in diesem Beitrag auch ein Praktischer Theologe dafür. Alle drei Bücher sind entweder als Habilitationsschriften bei Martin Ebner oder zumindest als von ihm inspirierte Doktorarbeit entstanden und somit im weiteren Umfeld genau jener Würzburger Exegese-Schule angesiedelt, in welcher auch der Verfasser dieses Artikels bei Hans-Josef Klauck, Karlheinz Müller, Bernhard Heininger und eben auch Martin Ebner studieren durfte. Die genannten Bücher sind mit Blick auf das beginnende Markusjahr wärmstens zu empfehlen!
1. Markus als überzeugender Königsmacher
Christian Schramm konturiert in seiner Habilitationsschrift Die Königsmacher. Wie die synoptischen Evangelien Herrschaftslegitimierung betreiben (2019) drei unterschiedliche Typen der „literarischen Inszenierung“ (22) von Jesus als König. Mit Hilfe nichttheologischer Herrschaftstheorien arbeitet er diese Typologie des making of a king im Rückgriff auf antike (biblische wie nichtbiblische) Paralleltexte heraus[1]:
- Aretalogisch-charismatische Legitimierung („An den Taten werdet ihr den guten König erkennen“). Diesen Weg beschreitet Markus, der Jesus als „als König agierend“ (107) erzählt.
- Genealogisch-dynastische Legitimierung („Ein König hat von einem König abzustammen“). Diesen Weg beschreitet Matthäus, der Jesus als „als König geboren“ (207) erzählt.
- Religiös-theokratische Legitimierung („Gott als Herrschaftsfundierer“). Diesen Weg beschreitet Lukas, der Jesus als „als König von Gott eingesetzt“ erzählt.
Politisch-ethische Plausibilität
Von den drei Synoptikern ist mir seit jeher Markus am sympathischsten – so auch die hier präsentierte markinische Erzählstrategie[2]. Diese setzt auf politisch-ethische Plausibilität[3] (Stichwort: Verdienste, nicht Abstammung oder Religion), indem sie Jesus im Kontrast zu Herodes profiliert:
„König Herodes wird direkt als König benannt, dann aber indirekt durch sein […] Verhalten als Nichtkönig enttarnt. Bei Jesus sieht die Sache genau umgekehrt aus: Zunächst wird Jesus indirekt als königlich handelnd charakterisiert – bevor ihm ganz zum Schluss des MkEv (Mk 15) der Königstitel explizit verliehen wird.“ (148).
Jesus als triumphierender ‚Anders-König‘ am Kreuz – das verbindet Schramms Arbeit mit dem zweiten hier besprochenen Buch. Denn vor dieser paradoxalen „Königsproklamation“ (181) inszeniert Markus Jesus auf seinem Passionsweg als „einem römischem Triumphator vergleichbar“ (185).
2. Markus als romkritischer Gegen-Evangelist
Allein schon der Obertitel der Dissertation Gekreuzigter Triumphator. Eine motivkritische Untersuchung zum Markusevangelium (2019) von Markus Lau wäre für antike Menschen eine Provokation. Denn ein Triumphator zu sein, galt als höchstes und ehrenvollstes Lebensziel, gekreuzigt zu werden hingegen als schlimmste und schändlichste Todesart. Beides fällt bei Jesus ineins: coincidentia oppositorum, christologisch zugespitzt. Lau stellt in seiner Untersuchung dabei zunächst die historischen Realien vor und zeigt dann in einem zweiten Schritt, wie sich die so unterschiedlichen ‚Triumphzüge‘ siegreicher römischer Kaiser und des gekreuzigten Juden Jesus „gegenseitig beleuchten“ (23). Der Anders-König Jesus von Nazareth gewinnt durch seinen „Anti-Triumphzug“ (34) politisches Profil:
„Kreativ wie das […] Urchristentum war, haben die frühen Christen die Zeichenwelt des Triumphzugs […] genutzt, um die Geschichte ihres ganz speziellen ‚Triumphators‘ und seines ganz anderen Triumphzugs zu erzählen […]. […] Das MkEv spielt chiffriert, d.h. im Sinne einer verdeckten Referenz, die von antiken Leserinnen und Hörern […] gleichwohl wahrgenommen und entschlüsselt werden konnte, auf das Ritual römischer Triumphzüge an.“ (22; 25).
Alternativer Triumphzug
Markus Lau steht im Kontext einer weitverzweigten, im Sinne postkolonialer Theorie „antiimperialen“ (601) Lektüre des Markusevangeliums als romkritisches ‚Gegen-Evangelium‘ zum Aufstieg des Flavischen Kaiserhauses (vgl. 29f) – am deutlichsten greifbar im markinischen Passionsnarrativ, dessen Deutung im Sinne eines alternativen Triumphzuges auf einen 1995 veröffentlichten Aufsatz von Thomas E. Schmidt („The Crucification Narrative and the Roman Triumphal Procession“) zurückgeht. Laus Dissertation weitet diese These auf das gesamte Evangelium aus und dechiffiert dabei u. a. das „strahlend weiße“ (Mk 9,3) Verklärungsgewand Jesu mit Hilfe des goldbestickten, von Juwelen funkelnden weißen Gewandes eines kaiserlichen Triumphators („alba vestis triumphalis“, 531).
Kontrastreiche Invertierungen
Entsprechend „kontrastreiche Invertierungen“ (604) durchziehen die gesamte markinische Jesusgeschichte – bis hin zu verblüffenden Analogien wie dem „Kapitol von Jerusalem“ (369), das Golgota („Schädelstätte“) und Kapitol („Schädelhügel“) etymologisch verknüpft. Im Zentrum steht auch hier die Markus-Passionsgeschichte, die möglicherweise für römische Christ:innen geschrieben wurde, die den Triumphzug des römischen Kaisers Titus nach dem Jüdischen Krieg (66-70 n. Chr.) selbst gesehen haben (vgl. 608). Als siegreicher Triumphator und als zu tötender Gefangener erscheint Jesus bei Markus in einer „Doppelrolle“ (593), die gängige Binaritäten in passionstheologisch paradoxer Weise sprengt – denn als Sieger ist er ein gekreuzigter Triumphator und als Opfer ein triumphierender Gekreuzigter:
„Hier wird die Doppelrolle für Jesus entworfen, die nahelegt, dass Markus den Triumphzug eines gekreuzigten Triumphators erzählt, […] der auf dem Weg zum Höhepunkt seines Triumphes selbst zum königlichen Gefangenen wird und – am Ziel angelangt – selbst stirbt. […] Der hier als Triumphator Stilisierte ist das genaue Gegenteil eines römischen Triumphators, ein Anti-Typos. Hier wird einer in Purpur gehüllt und bekränzt, hier huldigen die Soldaten kniefällig einem […] als König, dessen Leben […] gar nicht triumphwürdig erscheint.“ (600).
3. Offene Frage: Jesus- oder Gottesherrschaft?
In beiden Studien bleibt für den exegetischen Laien eine (nicht nur exegetisch synchron zu stellende) Frage offen: Wie verhält sich das auf textueller Erzählebene propagierte alternative Königsein Jesu zu der von ihm aller historischen Wahrscheinlichkeit nach in Taten und Worten zentral bezeugten Königsherrschaft Gottes[4]? Braucht es hier nicht auch eine exegetisch diachrone Perspektive[5], die nach dem Zusammenhang des vorösterlich von der Gottesherrschaft erzählenden Jesus mit dem nachösterlich als Verkörperung der Gottesherrschaft erzählten Jesus fragt? Gemeinsam ist beiden ein konstitutiver Bezug zur anbrechenden Herrschaft Gottes – jenem heilvollen Ende der Herrschaft von Menschen (auch von Kaisern!) über Menschen, das nicht nur vor Ostern jesuanisch bezeugt, sondern auch nach Ostern synoptisch erzählt wurde (z. B. bei Markus kontextualisierend als anti-römisches Gegen-Evangelium).
Außermarkinische Traditionsbestände
Den historischen Realien dieser Gottesherrschaft widmet sich das dritte hier vorgestellte Buch: Hildegard Scherers Habilitationsschrift Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex (2016), die mit kontextuellem Spürsinn die „gemeinsam bei Mt und Lk über Mk hinaus vorliegenden Texte“ (533) der genannten Traditio duplex (auch als Spruchquelle Q bekannt) untersucht. Es geht um außermarkinische Traditionsbestände, die für das beginnende Markusjahr jedoch eine nicht unerhebliche Relevanz haben, weil sie das dem Reich Gottes zugehörige ‚Gottesvolk‘ der Jünger:innen Jesu zu konturieren helfen.
Kontrastprogramm Jesu
Eng am sozialgeschichtlichen Material arbeitet Scherer ein innerhalb der synoptischen Evangelien unabhängig tradiertes „Kontrastprogramm Jesu zu irdischer Herrschaftsrepräsentation“ (538) heraus, das es dann auch Markus ermöglichte, Jesus als eine messianische Alternative zum römischen Kaiser zu inszenieren. Die jesuanisch bezeugte Königsherrschaft Gottes erfasst nur, wer sie im profilierenden Kontrast zu antiken Gegenbildern versteht. Auch hier findet sich die Theologie einer alternativen Königsherrschaft, deren Zugehörigkeit im heilsuniversal entgrenzenden Wanderpredigerethos Jesu „allein über Normen konstruiert“ (536) ist. Analog zum aretalogisch-charismatischen Legitimierungsweg des Markus ist im ‚Staatsvolk‘ der anbrechenden Gottesherrschaft individuelles Verhalten („ethos“) wichtiger als völkische Abgrenzungen („ethnos“):
„Die Basileia [= Königsherrschaft] Gottes lässt sich entlang der sozial erfahrbaren Rolle des Monarchen verstehen – sie tritt allerdings in einen kritischen Kontrast zum römisch-hellenistischen Rollenideal, das nicht zuletzt Herodes und Kaiser repräsentieren. […] Dem Gottesvolk gehört ein jeder an, der sich an die – in der Interpretation Jesu vor allem sozialen – Regeln des Königs hält. […] Nicht das Abgrenzen von den ‚Völkern‘ ist konstitutiv, sondern die solidarische Offenheit.“ (535-537).
4. Noch einmal: Kontextuelle Theologie
Gemeinsam ist den drei genannten Büchern bei aller Unterschiedlichkeit, dass sich das markinische Jesusnarrativ mit ihrer Hilfe (wie eingangs behauptet) als eine erste kontextuelle Theologie des Christentums erweisen lässt. Dessen früheste Inkulturationsversuche[6] erlauben sie „konsequent im Licht der sozialen Welt des Imperium romanum“ (Lau, 34) zu deuten – weshalb sie zugleich auch das kontextuell-theologische Postulat von Papst Franziskus einlösen, das Evangelium jeweils zeitgenössisch „im Licht der gegenwärtigen Kultur“[7] zu lesen:
„Die theologische Reflexion ist […] zu […] einem Paradigmenwechsel aufgerufen […], der sie […] dazu verpflichtet, eine grundlegend kontextuelle Theologie zu sein, die in der Lage ist, das Evangelium unter den Bedingungen […] zu interpretieren, unter denen Männer und Frauen tagtäglich in verschiedenen geographischen, sozialen und kulturellen Umgebungen leben […].“[8]
Doppelte Kontextualität
Man kann das Markusevangelium nicht zur Hand nehmen ohne sich zu gleich auch die Frage nach den heute notwendigen Inkulturationen des jesuanischen Evangeliums vom Anbrechen der Gottesherrschaft zu stellen. Das neue Lesejahr ist daher eine gute Chance für einen entsprechenden kirchlichen Aufbruch. Im Zuge dieser „Rekontextualisierung“[9] ergibt sich eine doppelte Kontextualität von strukturanalog verflochtenen Diskurskonstellationen: damals bei Jesus, später dann bei Markus (als romkontextuellen Evangelisten) und anderen – und heute bei den Christ:innen des 21. Jahrhunderts. Edward Schillebeeckx hat in seiner Abschiedsvorlesung 1983 für diesen Zusammenhang den kontexttheologischen Begriff einer „proportionalen Identität“[10] geprägt, die frühe Christ:innen wie Markus in exemplarischer Weise realisiert haben:
„Die Botschaft, die die Menschen der Gegenwart verkörpern, indem sie Jesus nachfolgen, sollte sich auf ihre Situation gerade so beziehen, wie sich Jesu Botschaft und Taten auf seine Situation bezogen. Loyalität gegenüber Jesu Botschaft bedeutet demnach nicht, die substantiell gleiche Botschaft zu predigen, sondern auf dieselbe Art und Weise am eigenen, zeitgenössischen Kontext teilzuhaben und in ihn einzugreifen, wie Jesus an seinem Kontext teilhatte und in ihn eingriff. Das ist eine recht revolutionäre Idee, denn sie trägt den gegenwärtigen soziokulturellen Kontext in den Kern der Offenbarung selbst ein. […] Der offenbarende Aspekt des Lebens Jesu Christi, seines Todes und seiner Auferstehung muss immer wieder neu entdeckt werden in den sich kontinuierlich verändernden geschichtlichen Kontexten.“[11]
5. Fazit: Es lohnt sich!
Der einzige Haken an der ganzen Sache ist, dass alle drei Bücher leider gesalzene Verkaufspreise haben und nicht im Open-Access-Modus veröffentlicht sind – weswegen sie von Interessierten wohl eher in theologischen Bibliotheken konsultiert werden. Das lohnt sich aber. Denn sie sind trotz exegetischer Fachsprache auch für pastorale Praktiker:innen fast durchweg gut lesbar und argumentieren gleichermaßen material- wie kenntnisreich. Aufregende Entdeckungen an vielfach bekannten Texten, die z. B. auch versierte Prediger:innen überraschen dürften, inklusive! Die Autor:innen verarbeiten eine Fülle von faszinierenden exegetischen Einzelbeobachtungen und eröffnen zugleich in vielfacher Hinsicht erhellende Perspektiven. Es ist gerade auch mit Blick auf das neue Lesejahr weiterführend, die drei genannten Bücher zu lesen.
Am besten, in gut synoptischer Weise, nebeneinander.
Bereits erschienen: Neues von Markus (Teil I) und (Teil II).
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Münster, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie, theologischer Blogger und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
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[1] Die hierbei verwendete aktualisierende Ausdrucksweise macht das Buch zum einen auf charmante Weise gut lesbar, sie wirkt aber zum anderen auch bisweilen etwas bemüht („PR-Agenturen“, „Wahlkampf“, „Werbekampagnen“, „Strategieexeperten“).
[2] Schramm zufolge bietet Markus die „am universalsten“ (405) einsetzbare Strategie, da sie in verschiedenen Kontexten funktioniert und daher mit Blick auf ihre potenzielle Inkulturierbarkeit über die „größte Reichweite“ (406) verfügt – während Matthäus hingegen „am stärksten einen bestimmten Kontext, eine spezifische Perspektive voraussetzt“ (406). Lukas nimmt eine „interessante Zwischenposition“ (406) ein: „Die religiös-theokratische Legitimierungsstrategie ist ähnlich universal einsetzbar wie die aretalogisch-charismatische von Mk. Allerdings startet Lk mit dem Throne Davids, seines Vaters‘ und der Salbung (durch Gott), womit zunächst einmal ähnlich wie bei Mt ein alttestamentlich-jüdischer Hintergrund aufscheint. Diese Perspektivierung bricht das LkEv jedoch im weiteren Verlauf auf, womit die religiös-theokratische Legitimierungsstrategie nach und nach […] Weite entfalten kann. […] In gewisser Weise vermittelt Lk somit mk Weite mit mt Tradition […].“ (406f).
[3] Zu den weisheitlichen Plausibilisierungsstrategien Jesu vgl. Martin Ebner: Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, Stuttgart 2003, 153-177.
[4] Vgl. expl. Bernhard Heininger/Giovanni Vanoni: Das Reich Gottes. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, Würzburg 2002.
[5] Methodisch bekennt sich beispielsweise Christian Schramm zu einer „Präferenz für die synchrone Betrachtungsweise“ (32), freilich bei „gleichzeitiger Fundierung mittels Traditionskritik und zeit-/sozialgeschichtlicher Analysen“ (32).
[6] Vgl. Bernhard Heininger: Die Inkulturation des Christentums. Aufsätze und Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt (WUNT 255), Tübingen 2010.
[7] Papst Franziskus: Gespräch mit Antonio Spadaro, auf: https://www.herder.de/stz/online/das-interview-mit-papst-franziskus-teil-2/.
[8] Papst Franziskus: Apostolisches Schreiben nach Art eines Motu proprio „Ad theologiam promovendam“, auf: https://www.vatican.va/content/francesco/it/motu_proprio/documents/20231101-motu-proprio-ad-theologiam-promovendam.html.
[9] Vgl. Lieven Boeve: God interrupts history. Theology in a time of upheaval, New York u. a. 2007, 30-49.
[10] Zit. nach Erik Borgman: Edward Schillebeeckx’ Überlegungen zu den Sakramenten und die Zukunft der katholischen Theologie, auf: https://www.schwabenverlag.de/4zeitsch/concilium/12_01/Concilium-Leseprobe-2012-1-02.pdf.
[11] Borgman: Edward Schillebeeckx’ Überlegungen zu den Sakramenten und die Zukunft der katholischen Theologie.