Angesichts der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker fragt Matthias Remenyi nach inhaltlichen und strukturellen Konsequenzen für die katholische Theologie.
Die MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker erschüttert. Das liegt nicht nur an der schieren Zahl der Taten, die sie offenlegt, sondern auch an dem System des Vertuschens und Verschweigens, das nun ans Licht kommt. Die universitäre katholische Theologie ist Teil dieser Kirche. Sie bleibt von dem Geflecht aus sexueller und geistlicher Gewalt, Machtmissbrauch und Klerikalismus nicht unberührt. Was bedeutet das für die katholische Theologie? Welche inhaltlichen, welche strukturellen Konsequenzen sind zu ziehen?
Die klassischen Reizthemen
Wir sind in der zweiten Phase der Rezeption der MHG-Studie angekommen. Nach dem ersten Entsetzen tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Wer laut über Zölibat, Homosexualität oder Priesteramt der Frau nachdenkt, muss sich Instrumentalisierung, sogar Missbrauch des Missbrauchs vorwerfen lassen. Dabei ist klar, dass die Daten der Studie interpretiert werden müssen – und dass diese Interpretation niemals neutral sein kann. Auch wer alles beim Alten lassen will, folgt einem Interpretationsentscheid. Wohin die Reise geht, vermag niemand zu sagen. Sicher ist nur, dass der Versuch, Dinge zu verschweigen, um die Kirche zu schützen, den Zerfall noch beschleunigt.
Zölibat, Homosexualität oder Priesteramt der Frau sind theologisch bis zur Ermüdung bearbeitet.
Dabei sind gerade diese Themen theologisch bis zur Ermüdung bearbeitet. Dass der Zölibat kein ius divinum, sondern eine einfache, dispensfähige kirchliche Rechtssetzung ist, steht in jedem Handbuch ebenso zu lesen wie der Umstand, dass die katholische Kirche nicht nur in den unierten Ostkirchen, sondern auch bei konvertierten anglikanischen oder evangelischen Geistlichen längst verheiratete Priester kennt.
Auch nicht zum ersten Mal wird ausgesprochen, dass die Kirche wohl weniger ein Problem mit Homosexualität denn mit Homophobie hat, wenn sie vermittels der Bildungs- und der Kleruskongregation gleich doppelt amtlich verlauten lässt, dass Homosexuelle daran gehindert seien, „korrekte Beziehungen zu Männern und Frauen aufzubauen“ (Zitatnachweis: Unheilige Theologie, hg. Striet/Werden, Freiburg 2019, 125).
Und die These, dass die Unmöglichkeit, Frauen das sakramentale Weiheamt zu spenden, unbeschadet der massiven lehramtlichen Einschärfung auf – vorsichtig gesprochen – theologisch diskutablen Argumentationslinien beruht, ermangelt ebenfalls eines absoluten Neuheitswerts.
Neu sind nicht die Argumente, neu ist, dass sie nun auch von amtlicher Seite aufgegriffen werden.
Offensichtlich liegt hier weniger ein Diskurs-, als vielmehr ein Rezeptionsproblem vor. Neu sind nicht die Argumente, neu ist, dass sie nun auch von amtlicher Seite aufgegriffen werden: Bischof Kohlgraf zum Zölibat, Bischof Overbeck zur Homosexualität, die Bistümer Paderborn und Münster zur Weihe von homosexuellen Männern, Bischof Feige sogar zum Priesteramt der Frau. Es tut sich was. Endlich. Das gilt unbeschadet des Umstands, dass wir auch nach dem großen Februartreffen in Rom das gleiche Kirchenrecht und den gleichen Katechismus haben werden.
Sakralität oder Sakramentalität
All diese Fragen bündeln sich in der Alternative zwischen Sakralität und Sakramentalität des Amtes. Sakralität meint eine besondere kultische, sacerdotale Kompetenz, die sich auf die sog. potestas sacra, also die Konsekrations- und die Absolutionsvollmacht des Priesters konzentriert. Diese stellt den Priester in den kultisch reinen, heiligen Raum des sacrum und entsprechend dem Raum des profanum, des Weltlichen entgegen – mit allen damit verbundenen Gefahren hinsichtlich Überforderung, Doppelmoral, Klerikalismus etc.
Eine entrückte Sonderwelt darf es weder im kirchlichen Leben noch im priesterlichen Dienst geben.
Dass das, was ist, nicht alles ist, ist die vielleicht kostbarste Einsicht einer jeden Religion. Aber eine entrückte Sonderwelt darf es weder im kirchlichen Leben noch im priesterlichen Dienst geben. Gregor Maria Hoff spricht hier zu Recht von der „Sakralisierungsfalle“, in die die Amtstheologie hineingeraten ist (Kursbuch 196, 28).
Davon zu unterscheiden ist die Sakramentalität des Amtes und der Kirche insgesamt, die es nach wie vor entschieden zu verteidigen gilt. Sakramentalität ist das genaue Gegenteil einer transzendenzlosen Sakralität des heiligen Scheins: Sie nimmt die gesamte Schöpfung in diese Abbildbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf mit hinein. Und sie macht innerhalb des Vergegenwärtigungsgeschehens das Moment der Differenz zwischen sakramentalem Symbol und sakramental Symbolisiertem stark.
Eine Sakralisierung von Personen, Ämtern oder Institutionen bedeutet die Häretisierung des Sakramentalen.
Die sakramentale Gestalt des priesterlichen Amtes oder auch der Kirche als Ganzer vermag ihre Zeichenhaftigkeit und Werkzeuglichkeit dann mit Leben zu füllen, wenn sie von sich selbst absieht und auf das hinweist, für das sie Zeichen zu sein hat: Gott und seine Menschenfreundlichkeit, die uns in Jesus Christus nahegekommen ist. Eine Sakralisierung von Personen, Ämtern oder Institutionen bedeutet dagegen die Häretisierung des Sakramentalen, weil sie das sakramentale Zeichen mit dem Bezeichneten identifiziert und so die für das sakramentale Geschehen charakteristische Differenzstruktur leugnet.
Wer stellt fest, was Gottes Wille ist?
Wer bestimmt in wessen Namen und mit welcher Autorität, was der Wille Gottes ist? In dieser Frage kulminieren das Problem des geistlichen und des systemischen Machtmissbrauchs, die Sakralisierungsfalle mit ihrer Asymmetrie zwischen Klerus und Laien und zwischen Männern und Frauen sowie die Debatten um autonome Moral und sexuelle Selbstbestimmung. Die eigentliche theologische Herausforderung liegt in einer angemessenen Neujustierung der Offenbarungstheologie. Damit ist nicht nur die ganze Debatte um das Naturrecht und die theologische Erkenntnislehre wieder auf der Agenda, sondern auch die Frage nach lehramtlicher Vollmacht und Autorität.
Im Streit um den Umgang mit der Missbrauchskrise steht die Autorität des Lehramts zur verbindlichen Auslegung des Gotteswillens auf dem Spiel.
Autorität ist aber kein Automatismus, sondern eine Zuschreibung, die auch wieder entzogen werden kann. Im Hintergrund des theologischen Streits um den Umgang mit der Missbrauchskrise steht die Autorität des Lehramts zur verbindlichen Auslegung des Gotteswillens auf dem Spiel. Und die Härte der Auseinandersetzung ist der Angst vor diesem elementaren Machtverlust – bzw. auf Seiten der Gläubigen dem daraus resultierenden Identitäts- und Orientierungsverlust – geschuldet.
Denn in Zeiten des religionsneutralen, demokratischen Rechtsstaats ist die Möglichkeit von Machtausübung binnenkirchlich gekoppelt an die Zubilligung von Autorität. Schwindet diese, kollabiert jene. Dieser Kollaps ist schon längst Realität, wie etwa die niederschmetternden Zahlen zur Akzeptanz der kirchlichen Sexualmoral zeigen. Neu ist nur, dass diese Realität auch innerkirchlich offen benannt wird.
Was ist Wahrheit?
Eng mit der Offenbarungs- ist die Wahrheitsfrage gekoppelt. Magnus Striet bringt es auf den Punkt: „Man formuliert ungehemmt Wahrheiten, weil man sich in der Wahrheit weiß“ (Unheilige Theologie, 29). Hinter einem naiven Offenbarungspositivismus steckt oft eine wahrheitstheoretische Position, die man in der philosophischen Debatte als Wahrheitsrealismus bezeichnet.
Wir Menschen haben keinen Gottesstandpunkt, keinen God’s eye view.
Gemeint ist damit ein Begriff von Wahrheit, der Wahrheit als eine wahre Aussage über eine Wirklichkeit versteht, die unabhängig von diesem Urteil existiert und auf die wir in unserem Sprechen verpflichtet sind. Ich vertrete ebenfalls einen solchen klassischen metaphysischen Wahrheitsrealismus, und ich fühle mich durch die Missbrauchskrise darin eher bestärkt als angefragt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir so etwas wie einen Gottesstandpunkt besäßen, der uns absolut sicher „die“ Wahrheit erkennen ließe. Wir Menschen haben keinen Gottesstandpunkt, keinen God’s eye view.
Wir sind immer auf der Suche nach der Wahrheit. Gerade darin liegt eine eigene Tragik vieler Missbrauchsfälle. Der Blick von außen muss sich mit Wahrscheinlichkeiten, mit Annahmen und Hypothesen über die Wirklichkeit begnügen, wenn Aussage gegen Aussage steht. Aber der Wille zur Aufklärung von sexueller Gewalt und Machtmissbrauch zeigt auch, dass wir als Zielperspektive unseres Handelns einen Begriff von Wahrheit annehmen, der Wahrheit nicht einfach als eine Variable versteht, die relativ zu unseren sprachlichen Konstruktionen über Sachverhalte ist.
Wir brauchen die Vorstellung, dass es „da draußen“ eine Wirklichkeit gibt, die unabhängig von unserem Blick auf diese Wirklichkeit existiert.
Wir brauchen die Vorstellung, dass es „da draußen“ eine Wirklichkeit gibt, die unabhängig von unserem Blick auf diese Wirklichkeit existiert, die als solche Gültigkeit beansprucht und die unser Sprechen von ihr unter den Anspruch der Wahrheit stellt. Wie anders sollten wir begründet annehmen können, dass sich Tatsachen von Meinungen unterscheiden lassen? Wie anders sollten wir angesichts des Zeugnisses der Betroffenen nicht nur sagen können: „Ich glaube dir, dass du deine Sicht auf die Dinge schilderst“, sondern: „Ich glaube dir, dass du wahr sprichst“?
Öffentliche Theologie
Es geht darum zu sagen, was der Fall ist. Ohne Selbstüberhebung, aber auch ohne Angst. Was würde passieren, wenn wir diese Klarheit der Sprache auch im Stile einer öffentlichen Theologie einübten? Wenig hauptberufliche Akteure im kirchlichen Feld haben mehr Freiheiten als wir staatsverbeamteten Universitätstheologinnen und Universitätstheologen. Was würde geschehen, wenn wir versuchten, noch stärker als bisher diesen Freiraum zu nutzen, um eine kritische Funktion in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit wahrzunehmen?
Die Kirche leidet unter einem Demokratiedefizit. Was wäre, wenn die universitäre Theologie versuchen würde, hier für Ausgleich zu sorgen?
Die Kirche leidet unter einem veritablen Demokratiedefizit. Das ist auch durch ein einseitig monolithisches Verständnis von sakramentaler Christusrepräsentation bedingt. Was wäre, wenn die universitäre Theologie wenigstens durch entsprechende Wortmeldungen versuchen würde, hier für Ausgleich zu sorgen?
Eine Frage der Haltung: Sprecht auf Augenhöhe miteinander.
Letztlich ist es eine Frage der Haltung, mit der wir unsere Arbeit machen und mit der wir auch mit unseren Studierenden kommunizieren. Man kann zur Umschreibung dieser Haltung so schwere Begriffe wie Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Zugewandtheit gebrauchen. Man kann sich aber auch die schlichte Formulierung zu Eigen machen, die Doris Reisinger, geb. Wagner, in ihrem Gespräch mit Kardinal Schönborn in den Mittelpunkt gestellt hat: Sprecht auf Augenhöhe miteinander.
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Matthias Remenyi ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg.
Bild: pixabay.com