Peter Neuhaus, Schüler und Freund des Theologen Tiemo Rainer Peters, hat ein Buch zu dessen «Theologie der Erfahrung» publiziert, das deren Herkunft und Kontext ebenso würdigt wie deren Gegenwartsbedeutung. Daniel Kosch liest es auch als Ermutigung, sich angesichts der «Kirchenschmelze» nicht nur mit Strategien zu deren Verzögerung zu befassen, sondern mit intensiver theologischer Arbeit zur «Widerstandfähigkeit» des Glaubens beizutragen.
Der Theologe Tiemo Rainer Peters (1938-2017) war Mitglied des Dominikanerordens, Hochschullehrer in Münster und Seelsorger. Zusammen anderen Schülern von Johann Baptist Metz hat er dessen Neue Politische Theologie mitgeprägt und ist gleichzeitig über diese hinausgegangen. Sein relativ schmales Werk ist geprägt von einer dichten und anspruchsvollen, aber dank ihres Erfahrungsbezugs oft existenziell ansprechenden Sprache. Weitere Verbreitung fand insbesondere sein letztes Buch, das unter dem Titel «Entleerte Geheimnisse» von der «Kostbarkeit des christlichen Glaubens» handelt. Es setzt einen kraftvollen Gegenakzent zur Gefahr, dass das Christentum auf die Nöte und Ängste der Menschen «nur noch mit verbrauchten Geheimnissen» antwortet1 und erschliesst zentrale theologische Begriffe von «Wort Gottes» bis «Glaube», «Gnade» und «Gott».
Zeugnis einer Freundschaft
Peter Neuhaus (*1964) lernte Tiemo Rainer Peters als zwanzigjähriger Theologiestudent kennen und schätzen, blieb auch nach seiner Entlassung aus dem kirchlichen Dienst freundschaftlich mit ihm verbunden und hatte eine grosse Bewunderung für ihn. In der letzten Phase der schweren Krankheit von Tiemo Rainer Peters, der er gemäss seiner Selbstauskunft mit «Tapferkeit», «Selbstachtung» und einem «geradezu metaphysischen Trotz» ins Auge sah2 führten Neuhaus und Peters einen zugleich persönlich-existenziellen und theologisch reflektierenden Briefwechsel, der zusammen mit anderen Texten veröffentlicht wurde.
Dieser Austausch ist nicht nur ein beeindruckendes Zeugnis von der lebensprägenden Kraft von Peters Theologie und Spiritualität, sondern gibt auch Einblick in eine von gegenseitigem Respekt und grosser Offenheit geprägte Freundschaft3. Neben der Auseinandersetzung mit dem Fachtheologen Peters prägt auch dieses persönliche «Gespräch am Rande des Lebens» die von Neuhaus vorgelegte «Annäherung». Denn in diesem Gespräch gibt Peters Einblick in existenzielle, teils auch für die Zukunft der Kirche zentrale Fragen, die ihn umtrieben.
Wo liegen unsere eigenen Quellen und wie können wir Spätgeborenen sie davor bewahren, endgültig in unseren liberal-aufgeklärten Gesellschaften zu versiegen?
So macht Peters «zunehmend ratlos», wie man verhindern kann, dass sich das religiöse Wissen um Tod und Auferstehung «selbst erschöpft, also verloren geht, überrollt wird von der säkularisierten Religion heute, die in allen möglichen Gewandungen auftritt». Wie kann man dieses «uralte Wissen […] nicht nur theologisch-sekundär bearbeiten (und damit zerreden), sondern […] wirklich am Leben erhalten, also im eigenen Leben so selbstverständlich beherbergen […] dass es hier aufgehoben […] ist und (indem es hier in sich selbst geschützt wird) alles trägt. […] . Wo liegen unsere eigenen Quellen und wie können wir Spätgeborenen sie davor bewahren, endgültig in unseren liberal-aufgeklärten Gesellschaften zu versiegen» (153f.4).
Quellen und Kontext von Tiemo R. Peters Theologie
Die «Annäherung» an Peters «politische Theologie der Erfahrung» kann meines Erachtens auch als Versuch gelesen werden, auf die Fragen nach der Bedeutung und dem Verständnis des christlichen Glaubens in der heutigen Zeit zu antworten. Denn Neuhaus rekonstruiert nicht nur das theologische Denken von Peters, sondern auch dessen Kontext und die Traditionen, in denen es wurzelt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Neuhaus dabei
- der Spiritualität des Dominikanerordens und der Mystik;
- den Gefängnis-Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffer mit ihren Überlegungen zu einem «religionslosen Christentum», das von einer «tiefen Diesseitigkeit» und von der Überzeugung geprägt ist, dass Kirche notwendigerweise «Kirche für Andere» ist;
- der Theologie von Karl Rahner und jener von Johann Baptist Metz, die Peters stark geprägt, mit der er sich aber auch kritisch auseinandergesetzt hat, unter anderem weil sie «Gefahr läuft, vor lauter Trauerrede die Stimme der Trauernden selbst zu überhören» (100) und weil dessen von der Apokalyptik geprägte Rede vom «kommenden Gott» und vom Gottvermissen Gefahr läuft, nicht genügend Aufmerksamkeit für «das erfahrbare Jetzt Gottes im Dasein-für-andere» zu haben (92f.);
- der politischen Philosophie von Hannah Arendt, die für sein Verständnis von Erfahrung und auch deshalb von Bedeutung ist, weil sie sich intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt hat, wo «irgend etwas passiert [ist], womit wir alle nicht fertig werden» (Arendt) (52), was Neuhaus, ganz im Sinne von Metz und Peters, nicht nur auf die Nachkriegszeit, sondern auch auf die Gegenwart bezieht: «Der Glaube an den Menschen ist uns abhandengekommen. […] Nach Auschwitz ist die Welt nicht mehr, was sie doch nach Wunsch und Werk der Modernen werden sollte: ein Zuhause» (53f.).
Diese Rekonstruktion des theologischen Denkens von Peters und seiner Wurzeln erfolgt nicht primär in historischer Absicht, sondern mit Blick auf die Gegenwart. Neuhaus thematisiert den Krieg in der Ukraine und den drohenden Ökozid, aber auch die Kirchensituation, die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie und die heutige «nervöse Geschäftigkeit, die vor allem eines zu verhindern such, nämlich zur Besinnung zu kommen». «Nun läuft die Unruhe leer […] und bleibt das, was wir ‘Erfahrung’ nennen, auf der Strecke. Denn ‘die Ereignisse lösen einander ab, ohne sich tief einzuprägen, ohne Erfahrung zu werden. […] Die rasende Zeit ist wie eine Zentrifuge, die dem Leben seinen Saft entzieht […]. [Denn] ‘es ist nicht die Anzahl der Ereignisse, sondern die Erfahrung der Dauer, die das Leben erfüllter macht’» (41-47, Zitat: 45).
Mystik als dichte Erfahrung
In dieser Situation plädierte Peters für eine Theologie und eine Frömmigkeit, für die «Erfahrung» und «Aufmerksamkeit», aber auch die Verbindung von «Politik und Mystik» zentral sind: Dabei verstand er Mystik als «dichte Erfahrung der Welt, Konzentration auf die Anderen, Aufmerksamkeit auf das eigene Ich und darin Offenheit für Gott als Geheimnis der Welt. Mystik ist Unmittelbarkeit. […] Politische Verantwortung drängt den Mystiker von heute an die Seite der Leidenden, Mystik erinnert die politisch Aktiven an den, der von sich sagt: ‘Ich bin die Wahrheit und das Leben’. […] Nicht Höhenflüge zeichnen den Mystiker also aus, sondern gesteigerte Erdverbundenheit» (178-180).
Uneingeschränkte Gültigkeit hat nur das Jetzt
An das Ende des Buches stellt Neuhaus einen unveröffentlichten Text von Tiemo Rainer Peters aus dem Jahr 2013, in dem er sich – bereits schwer erkrankt – mit der Endlichkeit und Begrenztheit des Lebens und mit dem Tod auseinandersetzte.
Die Auferstehung Jesu war nicht Ausstieg oder Aufstieg, sondern Einstieg, das pure ‘Da’.
Er schrieb: «Uneingeschränkte Gültigkeit scheint nur das Jetzt, die ‘Jetztzeit’ (Walter Benjamin) zu haben, dieser kostbare Moment, wo alles Wichtige geschieht und Gott begegnet. Ich fasse sein Geheimnis nicht, doch mich ergreift es, wenn ich zur Stelle bin. […] Die Auferstehung Jesu war nicht Ausstieg oder Aufstieg, sondern Einstieg, das pure ‘Da’, Eintritt ins Jetzt. [Der Auferweckte ist] nicht zu halten […], so gegenwärtig und lebendig ist er; dem man nachfolgen muss, wenn man ihm begegnen und mit ihm verbunden bleiben will» (186f).
Schutz der Kostbarkeit des christlichen Glaubens vor Banalisierung
Der Ertrag des dichten Buches von Peter Neuhaus geht meines Erachtens deutlich über die Darstellung und Kontexualisierung der Politischen Theologie der Erfahrung von Tiemo Rainer Peters hinaus. Gotthard Fuchs bringt ihn auf den Punkt, wenn er in seinem Geleitwort schreibt «Indem Peter Neuhaus Tiemo R. Peters würdigt, trägt er beispielhaft zu dem bei, was zu leisten ist: mystisch-politische Nachfolge ‘im Beten und Tun des Gerechten’ (Dietrich Bonhoeffer)» (13). Seine Lektüre ist Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die bereit sind, sich intellektuell, aber auch existenziell auf die Frage einzulassen, wie es in heute möglich ist, die «Kostbarkeit des christlichen Glaubens» vor Banalisierung und Verzweckung zu schützen, die Theologie vor «kognitiver Vereinsamung» (175) zu bewahren und sich als Kirche nicht in eine religiöse Sonderwelt abseits der ‘weltlichen Welt’ zurückzuziehen, sondern an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilzunehmen (vgl. 164f.).
Eine kritische Anfrage
Kritisch anmerken möchte ich nur einen Punkt: So anregend und bereichernd die Lektüre des Buches für Theologinnen und Theologen ist, für die «Rahner, Metz, Bonhoeffer & Co.» theologische «Fixsterne» waren, so notwendig scheint es mir heute, die Vielfalt der Perspektiven zu erweitern und die Theologie von Peters in einem grösseren Kreis von Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen weiterzudenken.
Jenseits von «Rahner, Metz, Bonhoeffer & Co.»
Denn um heute glauben und Kirchesein zu können, benötigen wir auch die Erfahrungen und Gottesbilder von Frauen, postkolonial geprägte theologische Logiken sowie Sprachspiele, die für den interreligiösen Dialog taugen. Solche Perspektiven liessen sich nicht so einfach in die theologische Tradition einfügen, die den Gedankengängen von Peter Neuhaus einerseits ihre Stringenz geben und mich anderseits mit der Frage zurücklassen, wie das Buch bei Leserinnen und Lesern ankommt, die ihren Glauben und ihre Theologie nicht diesem Typus einer von Männern geprägten fortschrittlichen deutschen Nachkriegstheologie verdanken.
Peter Neuhaus, Aus Liebe zur Welt. Politische Theologie der Erfahrung – Annäherung an Tiemo R. Peters. Mit einem Geleitwort von Gotthard Fuchs, Echter: Würzburg 2023, 199 Seiten.
—
Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).
- Tiemo Rainer Peters, Entleerte Geheimnisse. Die Kostbarkeit des christlichen Glaubens, Ostfildern 2017, Zitat: 9. ↩
- Peter Neuhaus, Aus Liebe zur Welt. Politische Theologie der Erfahrung – Annäherung an Tiemo R. Peters. Mit einem Geleitwort von Gotthard Fuchs, Würzburg 2023, 185; im Text in Klammern angegebene Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch. ↩
- Tiemo Rainer Peters, Glauben ohne Geländer. Ein Gespräch am Rande des Lebens. Herausgegeben von Thomas Eggensperger und Ulrich Engel. Mit einem Geleitwort und einer theologischen Recherche von Ulrich Engel sowie einem Gespräch zwischen Tiemo R. Peters und Karl Meyer (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 21), Leipzig 2019. ↩
- Neuhaus zitiert hier Peters, Glauben (s. Anm. 3), 74. ↩