Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen warnt Regina Polak (Wien) davor, sich gewalttätigen Tendenzen zu beugen. Und sie nimmt die Eliten in ihre Pflicht am Dienst an der Gesellschaft.
Länger schon nehme ich angesichts des Erstarkens neofaschistischer, rechtsautoritärer und rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in Europa zwei Reaktionen wahr, die mich sehr befremden. Ich halte sie für demokratiegefährdend – Demokratie hier verstanden als politisches Ordnungssystem, das Gerechtigkeit und die Anerkennung von Differenz sichern soll. Im Zuge der Reaktionen auf das amerikanische Wahlergebnis sind sie mir jetzt erneut aufgefallen.
Zum einen höre ich da ein Eliten-Bashing von Teilen der Eliten, die sich selbstkritisch an die Brust klopfen und der Arroganz gegenüber jenen bezichtigen, die sich aufgrund des realen oder bloß imaginierten Gefühls des Zu-kurz-gekommen-Seins und immer wieder beschworener Ängste, oder schlichtweg aus Widerstand gegen nötige Veränderungen, berechtigt fühlen, in ihrer Wut hetzerische, hasserfüllte und rassistische Politik zu unterstützen.
Zum anderen vernehme ich Aussagen – im Tonfall je nach Ausmaß des Autoritarismus gleichgültig, verächtlich, triumphierend bis zynisch – wie „Was wollt Ihr, das ist die Demokratie!“; so, als wäre die Demokratie verantwortlich für diese Entwicklungen.
Manch einer scheint … der Ansicht zu sein, es wäre besser, wenn die Eliten der Gesellschaft wieder feudal-autoritär darüber entscheiden, was für „das Volk“ gut ist.
Die zweitgenannte Position lässt sich so einfach widerlegen, dass es fast keine Freude macht, über Gegen-Argumente nachzudenken – zu offensichtlich sind deren Interessenslage und Grundeinstellung.
Dieser oberflächliche Kurzschluss erinnert mich nicht nur an die Logik eines infolge von Übergewicht krank gewordenen Menschen, der nun die Waage oder den Arzt für seinen Gesundheitszustand verantwortlich macht; es ist auch zu offensichtlich, dass es manchem Vertreter dieser Position schlichtweg lieber wäre, man würde von den gesellschaftlichen Entwicklungen, die da in den kulturellen „Unterschichten“ stattfinden – z.B. wachsende Armut und/oder soziokulturelle Exklusion –, nicht belangt werden müssen.
Manch einer scheint, mehr oder weniger explizit ausgedrückt, der Ansicht zu sein, es wäre besser, wenn die Eliten der Gesellschaft wieder feudal-autoritär darüber entscheiden, was für „das Volk“ gut ist, statt dieses selbst – von Natur aus zu „tumb“ für Demokratie – durch Wahlen zu Wort kommen zu lassen. Auch wenn das Ergebnis demokratischer Wahlen und Demokratie als solche weitaus mehr sind als ein bloßes Mess- und Diagnose-Instrument über den Zustand der Gesellschaft, können unsere Demokratien in Europa doch auch in gewissem Sinn froh sein, dass PolitikerInnen auf diese Weise gezwungen werden (müssten), sich mit den Ursachen dieser Entwicklungen auseinanderzusetzen – statt den Rechtspopulisten nachzulaufen.
Inhaltliche Demokratieentleerung ist in Europa schon länger ein Problem.
Die massiven demokratiepolitischen Probleme, die schon lange bestehen – ich verweise auf die Ergebnisse der Europäischen Wertestudie, der zufolge sich in Österreich bereits seit den 1990er-Jahren bis zu 20% der Bevölkerung einen „starken Führer, der sich nicht um Wahlen oder ein Parlament kümmern muss“, vorstellen können – sollen damit nicht kleingeredet werden. Inhaltliche Demokratieentleerung ist in Europa schon länger ein Problem. Hier ist Bildungs- und Handlungsbedarf.
Aber die autoritäre „Lösung“ verschärft die Situation und ist in ihren Interessen, die soziale Schichtung der Gesellschaft zu stabilisieren sowie die Verteilung von materiellen und geistigen Ressourcen und Machtkonzentrationen nicht zum Thema machen zu müssen, allzu durchsichtig.
Solange es nicht gelungen ist, alle Menschen gleichermaßen an Kultur und Bildung teilhaben zu lassen, braucht eine Gesellschaft Eliten.
Aber auch die erste Position leidet in gewissem Sinn an der Tabuisierung dieser Themen. Deren Kritik ist freilich schwieriger, denn Selbstkritik und die Kritik elitärer Arroganz sind ja zunächst durchaus zu begrüßen.
Aber ist diese primär soziokulturalistisch argumentierende Position nicht auch ein Ablenkungsmanöver und eine Diagnose, die die zentralen Probleme verfehlt? Das Problem besteht ja nicht in der Existenz von Eliten, schon gar nicht intellektueller Eliten. Solange es nicht gelungen ist, alle Menschen gleichermaßen an Kultur und Bildung teilhaben zu lassen, braucht eine Gesellschaft Eliten: Menschen, die bereit sind, ihre materielle und/oder geistige Macht, ihre Ressourcen, ihre Kompetenzen im Dienst der Gesellschaft einzusetzen und diese mit ihren Ideen und Visionen einer humaneren, gerechteren Gesellschaft zu führen.
Die Förderung vielgestaltiger sozialer Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ist ebenso unabdingbar wie der Dienst der Eliten an und in der Gesellschaft.
Das Problem der Eliten meine ich anders gelagert zu erkennen. Zum einen ist die offenkundige soziale Abkoppelung (intellektueller, politischer, ökonomischer, wissenschaftlicher) Eliten von der Mehrheit der Bevölkerung riskant. So entstehen „Parallelgesellschaften“, die von- und umeinander nichts wissen. Zum anderen besteht das Problem von Teilen der Eliten darin, dass sie „vergessen“ haben, dass ihr Reichtum, ihre Macht – materiell wie geistig – nicht nur dem persönlichen Fortkommen auf der Karriereleiter dienen, sondern allem voran im Dienst von Gesellschaft und Gemeinwohl stehen, also gemeinwohlpflichtig sind – ein ganz und gar altmodisches Wort aus der Katholischen Soziallehre. Wenn es eine Gesellschaft nicht zerreissen und die soziale Kohäsion bewahrt werden soll, ist die Förderung vielgestaltiger sozialer Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ebenso unabdingbar wie der Dienst der Eliten an und in der Gesellschaft.
Dazu aber müssten sich Teile der Eliten eingestehen, dass sie selbst – je nach der Sicherheit ihrer Position – mittlerweile primär für die Sicherung ihrer Eigeninteressen (Karriere, Ansehen, Zugang zu finanziellen Ressourcen wie „Drittmitteln“) kämpfen oder zumindest darauf hoffen, den Elitenstatus sichern oder in Zukunft erringen zu können. Das macht nun eben auch nicht gerade „frei“ und lässt vor allem viel zu wenig Zeit, sich sozial oder politisch zu vergemeinschaften und gemeinwohlorientiert zu handeln.
Auch die Bewertung, dass eine rüpelhafte, aggressive, auf sexistische, rassistische und andere menschenverachtende Rhetoriken setzende politische „Kultur“, und sei es zum „Spaß“, schlichtweg indiskutabel ist und im öffentlichen politischen Diskurs fehl am Platz ist und ausgegrenzt wird, ist nicht „arrogant“, sondern schlichtweg um der humanen Qualität der Demokratie willen notwendig. Sich hier klein zu machen und selbst zu rügen ist nicht nur kokett und heuchlerisch, es ist auch demokratiepolitisch gefährlich und unethisch.
Die Frage nach der Gerechtigkeit stellen.
Die Vertreter beider Positionen müssten aber allem voran endlich die Frage nach der Gerechtigkeit stellen – und dabei ihren Anteil an ungerechten Verhältnissen reflektieren. Das ist nicht nur altmodisch, es ist auch ein unangenehmer Prozess der Selbsterkenntnis. Aber ohne diesen werden die strukturell nötigen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und auch wissenschaftlichen (ich nehme meine Zunft und mich da gar nicht aus) Veränderungen nicht möglich sein. Denn selbst, wenn nicht wenige Eliten-Angehörige mittlerweile von diesen Strukturen in Wirtschaft, Politik oder Wissenshaft selbst „aufgefressen“ werden (Stichwort: Zeitnot, Dauerstress, Burnout), müssen sie (wir) doch wahrnehmen, dass wir als Kollaboteure von diesem System immer noch profitieren. Wir können uns, etwas polemisch gesagt, zumindest die Thermenwochenenden leisten, um uns von Druck und Stress – zu denen es angeblich keine Alternative gibt – zu erholen.
Unsere reichen Gesellschaften haben verabsäumt, sich auch um die Bildung von Herz und Geist zu kümmern.
Ich glaube keinesfalls, dass die aktuelle Krise ausschließlich und nur vermittels dieser sehr „links“ klingenden Analyse zu verstehen ist. Auf dem Weg zu Wohlstand und Sicherheit haben unsere reichen Gesellschaften verabsäumt, sich auch um die Bildung von Herz und Geist zu kümmern. In den wütenden Protestwählern wie auch dem Syndrom „roher Bürgerlichkeit“ (W. Heitmeyer) wird dies deutlich sichtbar. Aber sind diese nicht nur die Spitze eines Eisbergs einer Kultur, die für solche „Menschlichkeits-Bildung“ viel zu wenig Zeit und Ressourcen investiert? Es gibt nicht nur ökonomische Probleme, es gibt auch die geistige Sinnkrise, die die Demokratie von innen her aushöhlt. Nichtsdestotrotz scheinen mir die ökonomischen Probleme Vorrang zu haben – sonst kommen wir zur Lösung der anderen Fragen gar nicht mehr, weil der rechtspopulistische „Mob“ – so hat das Hannah Arendt sehr scharf genannt – schlichtweg die Grundfesten der Demokratie wegfegt.
Auch „Wut-Bürger“ sind erwachsene Menschen und zu ethischem Verhalten fähig und verpflichtet.
Ich weigere mich daher, vor diesen Explosionen politischer Gewalt – vorerst „nur“ im Bereich der Sprache und Einstellungen, die historisch aber regelmäßig immer die Vorbereitung für praktische Umsetzung waren – in die Knie zu gehen. Auch „Wut-Bürger“ sind erwachsene Menschen und zu ethischem Verhalten fähig und verpflichtet; zumal es auch nicht wenige „einfache“ Menschen gibt, die – „still“ – zu ethisch verantwortbaren politischen Entscheidungen kommen. Ich erwarte mir, dass im öffentlichen Raum des politischen Diskurses solchen Ausbrüchen entschieden Einhalt geboten wird von jenen Eliten, die dafür verantwortlich sind. Auch und gerade dies ist ein Ort, wo um die europäischen Werte, die immer wieder so stolz (gegen Zuwanderer) ins Spiel gebracht werden, gekämpft werden muss. Auf diese Werte sind wir zu Recht stolz. Zugleich muss natürlich – das sage ich jetzt als Pastoraltheologin – um jeden einzelnen dieser menschlich verhärteten Wut-BürgerInnen gekämpft werden, auf dass er oder sie seine „Seele“ wiederfinde. Die Ausgrenzung bezieht sich auf den Raum des politischen Diskurses, nicht auf das Gespräch mit Personen. Dies zu unterscheiden, wäre dringend fällig. Denn die empathische Allianz von Eliten mit politisch verrohten Menschen im öffentlichen Raum ist gefährlich.
Demokratiegefährdender Pessimismus führt zur Unterwerfung unter die Ereignisse.
In diesem Kontext nehme ich auch auf allen Seiten des politischen Spektrums wie auch in den verschiedene sozialen Milieus eine Grundstimmung wahr, die ich für ebenso bedrohlich halte: einen „demokratiegefährenden Kulturpessimismus“ (Fritz Stern). Dieser kann sich auf Seiten der Linken in die Wiederkehr des Glaubens an eine dialektisch mit Notwendigkeit verlaufende Geschichte zeigen, auf Seiten der nationalen oder autoritären Rechten als Glaube an Schicksal, Fügung oder Vorhersehung: In jedem Fall teilen beide die Auffassung, dass Geschichte eben in solchen Pendelschlägen verläuft und „wir da jetzt eben durch müssen“. Eine solche Einstellung beraubt jeglicher Freiheit und führt zur Unterwerfung unter die Ereignisse, die dann nicht gestaltet, sondern erlitten werden. Theologisch ist eine solche Sichtweise auf Geschichte schlichtweg falsch. Der Mensch ist aufgerufen und fähig, seine Geschichte in größtmöglicher Freiheit zu gestalten. Und die göttliche Providentia meint nicht die Festlegung menschlichen Schicksals, sondern beschreibt die „Vorsehung“, die Vorsorge, Fürsorge und den Beistand Gottes durch alle Katastrophen der Geschichte.
Die Bagatellisierung der Ausdrucksformen politischen Protests, und seien die Umstände noch so schwierig, ist gefährlich.
PS: Eine Erinnerung: Gewalt und Aggression der paramilitärischen Organisationen der 1920er- und 1930er-Jahre in Österreich wurden von den damaligen politische Eliten geduldet, weil man deren Ideen und Ziele teilte. Ähnlich war auch die Reaktion auf die Horden der SA, die brüllend durch Österreichs Straßen liefen. Nun hatten wohl auch diese „Wut-Bürger“ der Vorkriegszeit ihre durchaus verständlichen Ängste und Sorgen. Heute wissen wir: Sie hätten zeitgerecht gestoppt werden müssen. Stattdessen gab es eine seltsame Sympathie der Intellektuellen und anderer Eliten mit diesem „Mob“. Lebten diese aus, was sich die Eliten nicht trauten, weil zu gut erzogen – selbst erschöpft und ohne Zukunftsperspektiven in einer politisch wie ökonomisch katastrophalen Situation? In der absurden Hoffnung, dass sich jetzt wenigstens irgendetwas ändern würde???
Die Bagatellisierung der Ausdrucksformen politischen Protests, und seien die Umstände noch so schwierig, ist gefährlich. Wenn die Demokratie als Lebensform und Wert geschützt werden soll, darf man angesichts dieser Gewalt-Eruptionen nicht in die Knie gehen, sondern muss mit allen Kräften und den Werten und Mitteln der Demokratie standhalten, Widerstand leisten und vor allem: Alternativen entwickeln.
Literaturhinweise:
Heitmeyer, Wilhelm: Deutsche Zustände. 11 Folgen, Frankfurt am Main 2002-2011.
Rosenberger, Sieglinde / Seeber, Gilg: ʼKritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migrationʼ, in: Polak, Regina (Hg.): Zukunft. Werte. Religion. Die europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 165–189.
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Autorin: Dr. Regina Polak ist assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien.
Beitragsbild: http://fachanwalt-fuer-it-recht.blogspot.co.at/2015/10/wutburger-gegen-willkurjustiz.html