Die Gemeindetheologie ist kein Weg in die Zukunft der katholischen Kirche. Denn sie denkt Kirche immer noch von ihrer Sozialform her. Rainer Bucher nimmt Stellung zur aufgebrochenen Diskussion, wie es mit der katholischen Kirche hierzulande weitergehen könnte.
I. In Ruinen
Es geht für die deutschsprachige katholische Kirche um nichts weniger, als um die Suche „nach Wegen, in den Ruinen zerbrochener Machtsysteme zu wohnen“.[1]
Ruinen fehlt der ursprüngliche Zusammenhang. Man kann ihn noch ahnen, aber er funktioniert nicht mehr. Zudem fehlt Ruinen das Dach: Sie konstituieren zwar noch einen eigenen Raum, sind aber zugleich Elemente „unter freiem Himmel“. Das ehemals ausgesperrte oder nur kontrolliert zugelassene Außen ist nun permanent sichtbar, es dringt ein mit Regen, Schnee und Sonne, mit Würmern und Gräsern: Elementares und Subversives breitet sich aus. Das eröffnet weite Räume, was jene begrüßen, die sich immer schon eingesperrt fühlten, vermittelt aber auch Schutzlosigkeit, was jene fürchten, die Schutz und Sicherheit suchen.
Wer es sich in Ruinen bequem macht, wird – so malerisch sie sein mögen – bald spüren, wie ausgesetzt er ist.
Ruinen künden von vergangener Größe und schaffen eine Landschaft von nostalgischem Reiz – besonders gerne für bildungsbürgerliche Besucher. Sie sind an ihrem alten Ort, kontextualisieren aber Altes völlig neu. Es gibt manches vom Alten noch, aber es ist nicht mehr dasselbe, manches funktioniert noch in ihnen, aber nichts mehr wie früher. Wer es sich in ihnen bequem macht, so malerisch sie sind, wird bald spüren, wie ausgesetzt er ist. Denn nichts Äußeres hält mehr zusammen, was einst so prachtvoll zusammengehörte, eine neue, eine situative Kohäsion muss imaginiert werden. Diese imaginäre Kohäsion ist reizvoll und setzt Phantasien frei, sie ist aber auch flüchtig und prekär und zudem etwas sehr Individuelles.
Nachdem sich die Machtverhältnisse zwischen Individuum und religiösen Institutionen auch im katholischen Feld gedreht haben und sich auch die katholische Kirche situativ und nicht mehr normativ vergemeinschaftet, sind die Kathedralen der katholischen Pastoralmacht in ruinösem Zustand. Pfarrer Frings hat das gespürt, den üblichen Vertröstungen nicht mehr geglaubt und die Konsequenzen gezogen.
II. Sehnsüchte
Wie aber wohnen in den Ruinen vergangener Machtsysteme? Die wichtigste Voraussetzung: Man darf sich nicht nach etwas sehnen, was es nie und nimmer (wieder) geben wird.
Sehnsucht nach dem letzten „Höhepunkt der gefühlten Bedeutsamkeit“
Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat in seinem Buch „Selbst denken“ eine kleine Analyse der Psychologie absteigender Institutionen entwickelt. „Immer, wenn sich Gesellschaften im Abstieg von ihrer ehemaligen Bedeutung befinden, kommt das Bewusstsein nicht hinterher. Man kann nur schwer verkraften, nicht mehr so bestimmend und mächtig zu sein wie einst, und zieht es daher vor, sich wenigstens noch bestimmend und mächtig zu fühlen. (…) Die Menschen verharren, trotz mit Händen zu greifender Veränderungsprozesse in Rolle, sozialer Lage und politischer Macht, in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe – nämlich auf dem Höhepunkt ihrer gefühlten historischen Bedeutsamkeit.“[2]
Man kann die Reformvorschläge für die katholische Kirche danach einteilen, auf welchen konkreten „Höhepunkt der gefühlten Bedeutsamkeit“ sie sich beziehen. Bei den Traditionalisten ist es die Kirche des Tridentinums in ihrer Realisierung durch die Pianische Epoche von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, ist es die Priesterkirche der Spitzengewänder und der barocken Gesamtentfaltung kirchlicher Schönheit, Gottesgewissheit und innerkirchlicher Macht, ist es die im letzten ästhetische Vision einer kosmischen Bedeutsamkeit der katholischen Kirche über und jenseits aller konkreten Zeiten und Orte.
Beim Gemeindechristentum ist es die Pfarrfamilie, bei der die Kinder ebenso froh in die Kirche gehen, wie die Eltern, ist es die Gemeinschaft der Anständigen und Aufrechten, die sich um einen freundlichen Priester schart und die das Leben alltäglich wie in den Krisensituationen stützt und begleitet. Paul Weß, der früh und gegen den mainstream realisierte, dass sich dieses Konzept mit volkskirchlicher Kontinuität nicht vereinbaren lässt, schlägt es in Zeiten der volkskirchlichen Auslaufphase noch einmal zugespitzt vor: Kirche als Gemeinschaft hoch integrierter mittelgroßer Überzeugungs- und Lebensgemeinschaften von 70-80 Menschen.
Bei den Engagierten im Bewegungsspektrum aber ist es die Aufbruchskirche der Nachkonzilszeit, sind es die religiös motivierten sozialen Bewegungen für die Umwelt und die Armen, für Gerechtigkeit und Frieden, heute oft formatiert in der Nachfolge der lateinamerikanischen Basisgemeinden als „small christian communities“, an die man anschließen will. Christian Hennecke ist wohl der prominenteste Protagonist dieser Richtung hierzulande.
Sehnsüchte als Zukunftsmodell von Kirche zu nehmen,
das wird nicht funktionierten
Nichts davon ist natürlich per se illegitim und viele, auch ich, verdanken diesen Realisationsformen des Katholischen sehr viel. Nur: Die eigenen Sehnsüchte als Zukunftsmodell von Kirche zu nehmen, das wird nicht funktionieren. Zu leicht droht die projektive Falle, jene Sozialformen von Kirche, denen man die eigenen guten Erfahrungen, die Höhepunkte der individuell gefühlten Bedeutsamkeit von Kirche verdankt, als deren erwünschte Zukunft anzusetzen.
Das ist die zentrale Erschütterung, welche die aktuelle kirchliche Lage dem Volk Gottes und seinen Zukunftsdenkern zumutet: Die eigene, als wertvoll und wichtig erfahrene Kirche ist für die meisten Menschen dieser Gesellschaft offenkundig keine mögliche Kirche, und es ist aussichtslos, dies ändern zu wollen. Man wird dann immer nur jene erreichen, die ungefähr so sind oder werden wollen, wie jene, die noch in kirchlichen Zusammenhängen anzutreffen sind, und deshalb diese, in sich zudem differenten Sehnsüchte teilen. Es ist aber nicht erlaubt, die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat an jene Realisationen zu binden, die bereits existieren, in ruinösen, also dekonstruktiven Situationen ist es sogar existenzgefährdend.
Alle drei projektiven Sehnsüchte unterlaufen die Pluralitäts-, Kontrast- und Entwicklungsproblematik von Kirche in der späten Moderne. Sie imaginieren – unterschiedlich zentrierte und unterschiedlich strukturierte – Einmütigkeitsträume und Einmütigkeitsräume, die es innerhalb der Kirche(n) praktisch nie gegeben hat und in postmodernen Zeiten erst recht nicht oder nur unter massiven (Ausschluss-)Kosten geben kann.
Idyllen sind Verführungen; versucht man sie zu realisieren, werden sie schnell zu Orten, in denen Abweichung Ausschluss bedeutet.
Heutiges Leben bedeutet, dass standardisierte Erwartungen auf nicht-standardisierte Wirklichkeiten treffen (Heinz Bude). Alle drei Zukunftsmodelle aber arbeiten mit der Imagination standardisierter kirchlicher Sozialräume, die versprechen, genau diese prekäre Situation zu umgehen. Das macht ihre Faszination und ihr Versprechen aus, ist aber eben auch der Grund, warum sie nicht funktionieren: Es sind Idyllen, die man da vorschlägt. Idyllen aber sind Verführungen, also haltlose Versprechen; versucht man sie zu realisieren, werden sie ganz schnell zu Orten, in denen Abweichung Ausschluss bedeutet.
III. Wie weiter?
Hans-Joachim Sander hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man nicht unmittelbar von „den Zumutungen zur Ermutigung“ übergehen kann, „der Respekt vor der Demütigung der Null-Linie“ vielmehr „resistent gegen die Versuchung von Utopie“ machen sollte. Zwischen den Zumutungen der Ruinen und der Ermutigung muss, geistlich gesprochen, die Demut, theologisch gesprochen die erkenntnisbereite Sprachlosigkeit und organisationstheoretisch das Experiment liegen.
Der Weg der Kirche in die Zukunft führt, will man ihn „planen“, am ehesten über eine Analyse jener kirchlichen Orte, an denen sie unter postmodernen Kontexten „funktioniert“– und zwar im Sinne des kirchlichen Auftrages, ein „Zeichen und Werkzeug des Heils“ zu sein. Das sind jene pastorale Orte, wo man ehrlich und aufmerksam ist, wertschätzend und solidarisch, wo Kirche sich schmutzig macht, wo es zu einer kreativen Konfrontation von Evangelium und heutiger Existenz kommt, wo man Gott also im Heute und nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft sucht, um den Papst zu zitieren. Solche Orte gibt es, in der Caritas und der Kategorialpastoral, in der Liturgie und für viele in Klöstern und bei geistlichen Menschen. Es gibt sie sicher auch in Pfarreien.
Der Weg der Kirche führt über eine Analyse jener kirchlichen Orte, an denen sie ein „Zeichen und Werkzeug des Heils“ ist.
Die zentralen geistlichen Kompetenzen, die man für die Gestaltung solcher Orte braucht, sind liebende Aufmerksamkeit, Demut und Vertrauen. Liebende Aufmerksamkeit heißt die Wirklichkeit wahrnehmen, wie sie ist, und ihr so wie sie ist, mit Liebe zu begegnen. Demut heißt, den anderen wichtiger zu nehmen als sich selbst, und Ermutigung durch Vertrauen bedeutet, dem anderen – und übrigens auch sich – ein Stückchen mehr zuzutrauen, als er es (oder man es) eigentlich verdient.
Das wäre der pastorale Habitus, der weiterführend wäre: neugierig sein, aufmerksam sein, zu Wagnissen ermutigen, Spontaneität schätzen, Rollendistanz signalisieren, Freiräume geben, Fehlversuche akzeptieren, Vertrauen schenken knapp über das hinaus, was eigentlich verdient wäre und das alles in Kenntnis der und in Respekt vor den entsprechenden Versuchen unserer Väter und Mütter im Glauben. Das verlagert die Prüfstrecke: Nicht das eigene Kirchen-Erleben, sondern die Erfahrungen der anderen sind der Ort, an dem die Zukunft der Kirche sich entscheidet.
Neuer pastoraler Habitus
Überall dort, wo man sich zum „Sich-Aussetzen“ vorwagt, überall dort, wo man das Eigene aufs Spiel setzt, zeigt sich heute schon, was kommen könnte. Man kann an jene pastoralen Orte anknüpfen, wo die von den kirchlichen „Hirten“ immer schon geforderte Selbstlosigkeit aus der individueller Standesethik in die pastorale Ereignisstruktur gewandert ist. Nur in der riskierten und riskanten Konfrontation der christlichen Botschaft mit konkreten Orten menschlicher Existenz heute wird entdeckbar, worin die Bedeutung dieser Botschaft liegt, und bleibt man nicht in der postulatorischen Rekapitulation ihres Sinns stecken.
Man darf auf das Volk Gottes vertrauen, es hat ähnlich epochale Umbrüche schon öfter gegeben und das Volk Gottes hat sie letztendlich dann doch kreativ gestaltet: die „Konstantinische Wende“ des 4. Jahrhunderts etwa, den Umbruch von der Spätantike zum Frühmittelalter oder die Wende zur Neuzeit mit den Reformationen. Aber auf dieser Ebene liegen die Herausforderungen schon und ohne echte Konflikte wird es nicht abgehen und auch nicht ohne Demut, Scheitern und Schmerzen.
[1] Johannes Hoff, Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida, Paderborn u. a. 1999, 18.
[2] Harald Welzer, Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt/M. 2013, 12f. Ich danke Hildegard Wustmans für den Hinweis auf Buch und Zitat.
(Text: Rainer Bucher Photo: Studio-laube; Ruine Heisterbach)