Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst beschreiben, warum es im Umgang mit ‚rechter‘ Agitation auf Argumente und alternative Deutungsangebote ankommt.
Die plurale Demokratie ist unter Druck. Der mit den Wahlen am 9. Juni sichtbar gewordene „Rechtsruck“ in Europa wirft viele Fragen auf. Verstört schauen nicht wenige nach Frankreich, wo der Rassemblement National 31% der Stimmen geholt und Präsident Emmanuel Macron aufgrund der Wahlergebnisse die Französische Nationalversammlung aufgelöst und Parlamentsneuwahlen anberaumt hat: ein Spiel mit dem Feuer und möglicherweise eine fatale Fehleinschätzung der Attraktivität rechter Versuchungen. Diesen Versuchungen erliegen offenbar zurzeit viele Menschen in Europa. Aber mal Hand aufs Herz: Ist das wirklich eine neue Einsicht nach der Europawahl? Oder können sich das Erstaunen über die Wahlergebnisse vor allem Privilegierte leisten, die nicht Zielscheibe der Diffamierungen und menschenverachtenden Agitationen von Rechtspopulist:innen bzw. Akteur:innen der extremen Rechten sind?
Können sich das Erstaunen über die Wahlergebnisse vor allem Privilegierte leisten, die nicht Zielscheibe der extremen Rechten sind?
In den vergangenen Jahren erschienene Studien weisen für Deutschland darauf hin, dass es zwar weniger verfestigte „extremistische Milieus“ (Otto Brenner Stiftung/Heinrich-Böll-Stiftung 2022, 9) gibt, wie es die aktuelle Leipziger Autoritarismusstudie feststellt. Gleichzeitig finden sich aber ausländerfeindliche Einstellungen, sexistische und antifeministische Einstellungen in der Fläche auf vergleichsweise hohem Niveau – nicht selten in Kombination mit anderen Ressentiments wie etwa Homo- und Transfeindlichkeit oder Antisemitismus und eng verbunden „mit einem traditionellen Männlichkeitsbild und einer dogmatisch-fundamentalistischen Religiosität“ (Otto Brenner Stiftung/Heinrich-Böll-Stiftung 2022, 10). Dabei können Formen „traditionsbewusste[r] Religiosität“ (Kalkstein/Pickel/Niendorf/Höcker/Decker 2022, 259) mit Frauenfeindlichkeit und Antifeminismus einhergehen. Es ist bekannt, dass Sexismus und Homophobie immer noch Probleme von Kirchenmitgliedern sind (Pickel u.a. 2022, 87).
ausländerfeindliche Einstellungen, sexistische und antifeministische Einstellungen in der Fläche auf vergleichsweise hohem Niveau – und unter Kirchenmitgliedern
Der Befund, dass vorurteilsbezogene Haltungen und Einstellungen in die Gesellschaft hinein diffundieren und sich nicht (mehr) auf bestimmte extremistische Milieus beschränken, passt zu Forschungsergebnissen, wonach ein Teil der gesellschaftlichen ‚Mitte‘ kein Vertrauen mehr in das Funktionieren und die Institutionen der Demokratie hat, ja, dass sich ein Teil der ‚Mitte‘ radikalisiert: Es steigt „die Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen“ (Zick/Mokros 2023, 84), wobei – wie die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung festhält – „rechtsextreme Einstellungen […] politisch mit eher rechtskonservativen Positionen verbunden“ (Zick/Mokros 2023, 84) sind. Entsprechend kann man es auch als ‚Erfolg‘ der Agitation von Akteur:innen der extremen Rechten – die zum Teil auch in der AfD vertreten sind – werten, wenn die Autor:innen der Mitte-Studie festhalten: „Insgesamt weisen die Befunde und der Trend höherer Zustimmung […] auf eine Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung hin“ (Zick/Mokros 2023, 85).
Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung
Es gibt verschiedene Ansätze, um zu erklären, warum Menschen mit rechtsextremen Einstellungen sympathisieren. Woher rühren Autoritarismus (Leipziger Autoritarismusstudie) oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Mitte-Studie)? Modelle zur Explikation argumentieren mit autoritärer Erziehung, sozialer Deprivation oder dem Gefühl, ‚Verlierer:in‘ in einer krisengeschüttelten Gesellschaft zu sein.
Nicht nur für Theolog:innen sind die Einsichten der soziologischen Studie von Philipp Rhein interessant: Sie rekonstruiert über Interviews mit AfD-Wähler:innen einen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Rhein 2023, 18) einer chiliastischen Gegenwarts- und Zukunftsdeutung. So wird die parteiförmige Artikulation einer Vorstellung der extremen Rechten auch für Christ:innen attraktiv: Die vermeintlich dekadente Gegenwart ist unwiederbringlich im apokalyptischen Niedergang begriffen. Die AfD kann so zum Symbol für die Entscheidung werden, auf welcher Seite man sich in der Geschichte des Verfalls positionieren will. Insbesondere der Verlust von tradierten heteronormativen Geschlechterbildern und die Liberalisierung von Familienmodellen werden dabei, so Rhein, zu Topoi des Apokalyptischen. ‚Rechte Mobilisierung‘ ist immer auch Mobilisierung von Affekten, in diesem Fall speist sie sich, so Rhein, u.a. aus säkularisiertem christlichem Ideeninventar (vgl. zur Dimension rechter Gefühlspolitik: Spissinger 2024).
parteiförmige Artikulation einer chiliastischen Vorstellung der extremen Rechten auch für Christ:innen attraktiv
Kirchlicherseits versucht man dagegen, sich klar abzugrenzen. So hat die Deutsche Bischofskonferenz im Februar dieses Jahres in aller Deutlichkeit erklärt: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ (Deutsche Bischofskonferenz 2024), man wandte sich scharf gegen Rechtsextremismus und distanzierte sich von der AfD. Ähnliche Gesten waren und sind in der Evangelischen Kirche zu beobachten, von der amtierenden Ratsvorsitzenden Kirsten Fehrs über entsprechende Beschlüsse der EKD-Synode bis hin zu Maßnahmen versuchter Bewusstseinsschärfung in den verschiedenen Landeskirchen und auf gemeindlicher Ebene.
Diese klaren Positionierungen sind für das demokratische Gemeinwesen unverzichtbar. Laut und deutlich muss dafür eingetreten werden, dass Pluralität und Toleranz zum Gedeihen des Miteinanders beitragen, dass die Ideen der gleichen Würde aller Menschen, von Solidarität und Gleichberechtigung für liberale Demokratien unaufgebbar sind.
Diese klaren Positionierungen sind für das demokratische Gemeinwesen unverzichtbar – ebenso wie entsprechende Argumentationen.
Unaufgebbar sind, wie wir es vielerorts bereits finden, mit den Abgrenzungen verbundene Argumentationen. Die Feststellung jedenfalls, der Bezug ‚rechter‘ Akteur:innen auf Christliches sei nur eine Instrumentalisierung (vgl. etwa Schelkshorn 2017) zu meta- und identitätspolitischen Zwecken (vgl. Cremer 2023), das Amalgam von rechtskonservativen, ja rechtsextremen Einstellungen mit christlichem Gedankengut fuße allenfalls auf einer ‚dünnen‘, auch falschen Theologie, erhellt nur Teilphänomene.
Betrachtet man erstens die lange Historie auch theologisch begründeter Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen, des Zusammengehens von Christentum und nichtdemokratischen Staatsformen und zweitens den o.g. Befund der Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung: Spätestens dann kommen Zweifel auf an binären Operationen (wir/die, christlich/unchristlich, wahr/falsch), die schlicht eine Opposition von ‚Christentum‘ bzw. Theologie und bestimmten Weltanschauungen setzen. So zeigen etwa auch die jüngsten quantitativ orientierten Untersuchungen zum Zusammenhang von (christlicher) Religiosität und Vorurteil bzw. Demokratieaffirmation, dass v.a. zwischen christlichen monoreligiösen Orientierungen (vgl. Pickel u.a. 2022, 38ff.) mit „exklusivem Religionsanspruch“ (Steinmann 2022, 36) und rechts-identitären Einstellungen, Vorurteilen und dementsprechendem Wahlverhalten eine Korrelation besteht.
Es kommen Zweifel an binären Operationen auf.
Nicht nur die empirische Tatsache, dass Christ:innen AfD-Wähler:innen sind, sondern auch eine grundsätzlichere Anfrage lässt die Wirkung normativer Oppositionskonstellierungen anzweifeln: Ob sich Menschen von dieser schlichten Normativität überzeugen lassen, wenn sie allenfalls in Ansätzen verargumentiert ist und i.d.R. auch die Motivationen zur Hinwendung zur extremen Rechten nicht bedenkt? Sicherlich, für viele ist klar: Es soll nicht so sein, dass Christliches menschenverachtende Ideologien stützt. Damit hier aber kein Sollen-Sein-Fehlschluss passiert, muss genau hingeschaut werden. Indem nämlich binäre Oppositionen aufgebaut werden: Nähert man sich methodisch nicht dem Vorgehen der Kritisierten an, wird damit nicht Essentialisierungen Vorschub geleistet, die man eigentlich im Denken der extremen Rechten kritisiert?
Gesellschaftlich lassen sich heute Cleavages beobachten, in denen Fragen von Identität gegeneinander ausgespielt werden, um Einfluss und Macht über Identifikationsangebote zu generieren (vgl. Mau/Lux/Westheuser 2023). ‚Rechte‘ Identitätspolitik basiert wesentlich auf identitären Mechanismen, die auf Ausschluss, Reinheit und Homogenisierung ausgerichtet sind. Wenn von kirchlicher bzw. theologischer Seite, bewusst oder unbewusst, ebenfalls auf essentialisierende Prinzipien mit einem ähnlichen Vorgehen reagiert wird, indem – schlicht gesprochen – die einen (‚die‘) ex-kommuniziert und die anderen (‚wir‘) für ‚lautere‘ Christ:innen erklärt werden: Spielt man dann nicht in die Hände derer, nämlich der Akteur:innen des Rechtspopulismus und der extremen Rechten, die ihr eigenes Interesse an Simplifizierungen und Polarisierungen haben?
Identitätspolitik basiert wesentlich auf identitären Mechanismen, die auf Ausschluss, Reinheit und Homogenisierung ausgerichtet sind.
Martha Nussbaum hat im Zusammenhang ihrer demokratietheoretischen Überlegungen auf das Problem von Reinheits-/Unreinheits- und Wir-/Sie-Konstruktionen hingewiesen. Sie sind nach Nussbaum Ausfluss einer „Ekel-Pathologie“ (Nussbaum 2016, 52) und werden der eigentlichen Komplexität der Welt nicht gerecht. Erst die Einsicht, dass jede Reinheitsvorstellung eine Konstruktion mit Legitimationsfunktion ist, öffnet den Blick für das Unreine, die Tatsache, dass wir erst in die Haltung eines Miteinanders finden, wenn wir in der Lage sind, den eigenen Dämonen ins Auge zu schauen, das eigene Versagen und die eigenen Unzulänglichkeiten zu sehen – und nicht all das zu externalisieren.
‚Das‘ Christentum ist wie jede andere Religion vielfältig und vielschichtig, die Bandbreite christlicher Glaubensüberzeugungen und -praktiken ist weit gefächert. Die Unschärfe und Deutungsoffenheit von Symboliken und Semantiken ermöglichen es Akteur:innen der extremen Rechten, ihre ideologischen Eintragungen vorzunehmen. Diese Interpretationen und Einlassungen sind zu analysieren. Worauf es ankommt, ist die Abstandnahme von intellektueller Simplifizierung und Selbstverzwergung: Es werden profunde und elaborierte theologische Argumentationen gebraucht – vielleicht müssen sie auch neu erarbeitet werden -, die nachvollziehen und verstehen lassen, die überzeugen, warum es gute Gründe gibt, als Christ:in für ein plural verfasstes Miteinander einzutreten, das auf Solidarität und Gleichberechtigung abzielt.
Es werden profunde und elaborierte theologische Argumentationen gebraucht.
Auf das Glaubwürdigkeitskonto zahlen dabei Beiträge zur Aufarbeitung der eigenen kirchlichen bzw. theologischen Gewaltgeschichte ein, die Auseinandersetzung mit Rassismus, christlichem Antisemitismus, antimuslimischen Ressentiments, Klassismus und Antigenderismus in Kirche und Theologie. Und zum politischen Bild gehört es auch, danach zu fragen, welche Strukturen in unserer Gesellschaft und in unserem Zusammenleben Menschenverachtung ermöglichen und befördern.
Wie wollen wir leben? Was ist erforderlich für ein der menschlichen Würde entsprechendes Leben (vgl. Nussbaum 2015)? Welche Vorstellungen von einem gutem Leben sind anschlussfähig, welche Hoffnungsnarrative – statt apokalyptischer Untergangsszenarien – brauchen Menschen, um ihr Leben unter den Bedingungen vielfältiger Differenzen und Anforderungen gestalten zu wollen? Wenn theologisch an solchen und ähnlichen Fragen weitergearbeitet wird und dabei gute Gründe für die Arbeit an der Verwirklichung eines friedlichen und gerechten Miteinanders gefunden werden, dann könnte dies einen Beitrag dazu leisten, dass Diffamierungen und menschenverachtende Agitation von Rechtspopulist:innen bzw. Akteur:innen der extremen Rechten ins Leere laufen. Hoffentlich bald.
Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg und berufenes Mitglied der 13. Synode der EKD.
Dr. Hans-Ulrich Probst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Praktische Theologie III an der Ev.-Theol. Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen und Mitglied der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Beitragsbild: Oleg Laptev / unsplash.com
Literatur
Cremer, Tobias, The Godless Crusade. Religion, Populism and Right-Wing-Identity Politics in the West, Cambridge/UK 2023.
Deutsche Bischofskonferenz, Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar. Erklärung der Deutschen Bischöfe, Bonn 2024.
Kalkstein, Fiona/Pickel, Gert/Niendorf, Johanna/Höcker, Charlotte/Decker, Oliver (2022), Antifeminismus und Geschlechterdemokratie, in: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.), Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismusstudie 2022, Gießen, 245–270.
Mau, Steffen / Lux, Thomas / Westheuser, Linus, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023.
Nussbaum, Martha C., Fähigkeiten schaffen. Neue Wege zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität, Freiburg i.Br. 2015.
Nussbaum, Martha C., Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht, Mühlheim a.d. Ruhr 22016.
Otto Brenner Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung, Vorwort, in: Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.), Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismusstudie 2022, Gießen, 9–10.
Pickel, Gert u.a., Kirchenmitgliedschaft, Religiosität, Vorurteile und politische Kultur in der quantitativen Analyse, in: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung, Leipzig 2022, 24–98.
Rhein, Philipp, Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus, Frankfurt New York 2023.
Schelkshorn, Hans, Wider die Instrumentalisierung des Christentums. Zur Unvereinbarkeit von neorechter Ideologie und christlicher Moral, in: Walter Lesch (Hg.), Christentum und Populismus. Klare Fronten? Freiburg 2017, 26–37.
Spissinger, Florian, Die Gefühlsgemeinschaft der AfD: Narrative, Praktiken und Räume zum Wohlfühlen, Leipzig 2024.
Steinmann, Jan-Philip, (K)eine immunisierende Wirkung? Eine binnendifferenzierte Analyse zum Zusammenhang zwischen christlicher Religiosität und der Wahl rechtspopulistischer Parteien, in: Köln Z Soziol 74 (2022), 33–64.
Zick, Andreas/Mokros, Nico (2023), Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte, in: Dies./Küpper, Beate (Hg.), Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn, 53–89.