Der Bedeutung von Nachbarschaft in urban und digital geprägter Gegenwartskultur geht die Stadtforscherin Anna Becker nach. Die wiederentdeckte Wertschätzung für das eigene Quartier ließ sich schon vor der Corona-Pandemie und der eingeschränkten Mobilität als gesellschaftlicher Trend beobachten. Sie lassen Potenziale und problematische Trends erkennen.
Die Bedeutung der Nachbarschaft und von nachbarschaftlicher Solidarität war selten so präsent wie zu Zeiten der Corona-Pandemie[1]. Was mit einzelnen Zetteln in Hausfluren begann, mit denen Nachbarinnen und Nachbarn Einkaufshilfen für ältere und gefährdete Menschen anbieten, entwickelte sich schnell zu einer breiten, gesellschaftlichen Solidaritätsbewegung. Digitale Medien und Plattformen spielen hier eine zentrale Rolle: Über den Kurznachrichtendienst Twitter werden unter dem Hashtag #NachbarschaftsChallenge zur Nachahmung aufgerufen und Vordrucke für Treppenhausaushänge veröffentlicht. Über Telegram-, Whatsapp- oder Facebookgruppen organisieren sich Menschen vielerorts, um in ihrem direkten Umfeld Unterstützung anzubieten und besonders Nachbarschaftsplattformen wie deinnachbar.de oder nebenan.de werden zur Koordinierung und Bündelung der Aktivitäten verwendet.
Eine riesige Bandbreite von Hilfsangeboten
Auch die Betreiber selbst schalteten zusätzliche Webseiten, gingen Kooperationen mit öffentlichen Verwaltungen ein und schufen analog-digitale Schnittstellen, um gerade ältere Hilfebedürftige, die häufiger nicht online sind, mit digital organisierten Helfenden zusammenzubringen.In der Folge hat in vielen Quartieren das Angebot an Hilfe die Nachfrage sogar übertroffen.
Digitale Angebote zeigen ein gestiegenes Bedürfnis nach Nachbarschaftlichkeit
Dass gerade die Nachbarschaft als Unterstützungsnetzwerk in Notsituation eine zentrale Bedeutung erlangt, ist allerdings nicht überraschend. Nothilfe zählt neben Sozialisation, Kommunikation und sozialer Kontrolle zu den Grundfunktionen von Nachbarschaft, wie sie der Soziologe Bernd Hamm bereits 1973 beschreibt[2]. Und diese haben auch heute von ihrer Gültigkeit nichts eingebüßt. Im Gegenteil.
Ein Revival der Nachbarschaftsidee
Seit gut einem Jahrzehnt ist zu beobachten, dass durch den soziodemographischen Wandel mit einer älter werdenden Bevölkerung, der Zunahme an Einpersonenhaushalten und Alleinerziehenden die Nachbarschaft als Unterstützungsnetzwerk wieder an Bedeutung gewinnt. Auch tragen die globalisierungsbedingten Unsicherheiten und Krisen – wie der Klimawandel oder die Finanzkrise – zu einer wachsenden Sehnsucht nach Vertrauen, Verbindlichkeit und Zugehörigkeit bei. Das Quartier und die Nachbarschaft können hier als „Resonanzsphäre“ dienen[3], also als Orte die Aneignungsprozesse und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. In ihrem direkten sozialräumlichen Umfeld können Menschen das Gefühl erhalten, den globalen Herausforderungen im Kleinen zu begegnen, wofür die gestiegene Anzahl an lokalen sozialen Bewegungen zum Beispiel für Geflüchtete oder Initiativen für nachhaltigen Konsum geradezu symbolisch stehen.
Formen digitaler Nachbarschaft
Auf die gestiegenen und diversifizierten Bedürfnisse nach Nachbarschaftlichkeit und nachbarschaftlichen Kontakten wird seit einigen Jahren auch mit einer Vielzahl an digitalen Angeboten reagiert. Diese reichen von ehrenamtlich geführten Stadtteilblogs über lokale Diskussionsgruppen in sozialen Medien bis hin zu professionellen Portalen mit Smartphone-Apps und bundesweiter Reichweite. Manche Angebote sind wie unser-quartier.de, quartiersnetz.de oder tante-inge.org auf spezifische Zielgruppen wie Seniorinnen und Senioren ausgerichtet oder adressieren Geflüchtete, z.B. das konfetti.app. Aufgrund des starken Wettbewerbs in der relativ jungen Landschaft zeigt sich zudem noch eine recht hohe Fluktuation innerhalb der Anbietenden.
Gemeinsames Ziel:
Menschen in Kontakt bringen
Aber egal, ob nextdoor.de, allenachbarn.de, lokalportal.de, nachbarschaft.net oder der momentane Marktführer nebenan.de: Alle Portale verfolgen das Ziel, Menschen in ihrer Nachbarschaft digital in Kontakt zu bringen, um analoges Kennenlernen zu ermöglichen. Auf diese Weise sollen auch die Teilhabe der Menschen und ihre soziale Integration gefördert werden. Aber gelingt es tatsächlich, Menschen online zu vernetzen und analog zusammenzubringen?
Nachbarschaftsplattformen verringern Anonymität und stärken Beziehungen vor Ort
Ja! Mit unserer Studie „Vernetzte Nachbarn“ haben wir die Wirkung digitaler Medien auf das Zusammenleben in Nachbarschaften untersucht[4]. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Nachbarschaftsplattformen tatsächlich dazu beitragen können, die Kommunikation zwischen Nachbarinnen und Nachbarn zu erhöhen, lokale Begegnungen zu initiieren und Bekanntschaften vor Ort aufzubauen. Allein durch die intensiv genutzte Marktplatzfunktion, die das Verkaufen sowie Tauschen, Teilen und Verschenken von Gegenständen ermöglicht, entstehen kurze Begegnungen, die den persönlichen Kontakt und das Gefühl von Hilfsbereitschaft in der Nachbarschaft erhöhen. Die Mehrheit der Nutzenden gab zudem an, für gegenseitige Unterstützungen an ihrem Ort bereitzustehen: Sei es Pakete anzunehmen, Nachhilfe zu geben, Blumen zu gießen sowie bei Computerproblemen zu helfen.
Menschen zusammenbringen,
die sich sonst nie begegnet wären
Allein durch diese eigentlich zweckbezogenen Anlässe werden Kontakte zwischen Menschen geknüpft, die sich sonst nicht begegnet wären und aus denen auch Freundschaften entstehen. Nachbarschaftsplattformen ermöglichen es zudem, Menschen mit gleichen Interessen und für das gemeinsame Ausüben von Hobbies zu finden: Seien es Katzenstammtische, Lauftreffs, Spiele- oder Tatortabende.
Das Gefühl von Anonymität nimmt ab
Zudem hat sich gezeigt, dass das Gefühl von Anonymität in der Nachbarschaft auch bei Personen abnimmt, die nicht selbst aktiv an den Interaktionen auf den Portalen teilnehmen. Hier wird ein zentraler Unterschied zwischen analoger Kommunikation im Treppenhaus oder am Gartenzaun und der digitalen deutlich: Durch ihre Verschriftlichung – sei es auf Nachbarschaftsplattformen oder in WhatsApp- sowie Facebook-Gruppen – geht die kohäsive und vertrauensbildende Wirkung von nachbarschaftlicher Kommunikation sowie der Informationstransfer weit über den Kreis der Teilnehmenden hinaus. Denn auch ohne Nachbarinnen und Nachbarn persönlich zu begegnen, kann das passive Beobachten der Kommunikation gerade bei Verwendung von Klarnamen und Profilbild dazu beitragen, das Zughörigkeitsgefühl zur Nachbarschaft zu stärken und den Grad der Informiertheit über das lokale Geschehen zu erhöhen. Dadurch erleichtern soziale Medien mit lokalem Bezug auch Zugezogenen das Ankommen und Einleben und können somit als „digitale Ankunftsorte“ dienen[5].
Anlässe für Begegnung schaffen
Nachbarschaftsplattformen schaffen somit Anlässe und senken die Hemmschwelle, um mit Nachbarinnen und Nachbaren in Kontakt zu kommen. Dabei entstehen gerade über zweckgebundene Begegnungen wie beim Tauschen, Teilen und Helfen milieuübergreifende Verbindungen. Trotzdem überwiegt auch auf digitalen Portalen die Tendenz zur Homophilie, so dass gerade feste Beziehungen eher zwischen Personen mit ähnlichen Einstellungen und gleichem sozialen Hintergrund aufgebaut werden. Damit reproduzieren digitale Medien auch bestehende gesellschaftliche Exklusionsmechanismen. Dementsprechend war auch bei den vielerorts stattfindenden Nachbarschaftsstammtischen vereinzelt zu beobachten, dass Menschen aufgrund ihres Berufs, Bildungsgrades, Einkommens oder zugeschriebener Herkunft ausgeschlossen wurden. Ebenfalls zeigt sich, dass auf den Nachbarschaftsportalen nicht alle gesellschaftlichen Milieus in gleicher Weise vertreten sind. Mittelschichtsangehörige mit höherem Bildungsniveau sind bisher überrepräsentiert. Diese sozial selektive Nutzung setzt sich auch auf Ebene der Nachbarschaften fort, so dass in Quartieren mit einer ressourcenarmen Bevölkerung digitale Plattformen deutlich seltener verwendet werden und die Anwohnenden von ihren Vorteilen somit auch nicht profitieren[6].
Nachbarschaft ist weder digital noch analog
Unter den Bedingungen des gesellschaftlichen und digitalen Wandels haben Nachbarschaft und nachbarschaftliche Unterstützung nicht nur in Krisenzeiten eine wichtige Funktion. Entgegen der verbreiteten Annahme digitale Medien würden primär zu einer Vereinzelung, der Enträumlichung sozialer Beziehung und dem Bedeutungsverlust des Lokalen beitragen, können diese Instrumente in Quartier und Nachbarschaft helfen das Gefühl von Anonymität zu verringern, nachbarschaftliche Kommunikation zu intensivieren und soziale Beziehungen vor Ort aufzubauen. Die digitale Kommunikation hat damit auch im nachbarschaftlichen Alltag eine zentrale Rolle eingenommen, so dass die Alltagshandlungen von Menschen nicht mehr nur analog verortet sind, sondern auch im Kontext Nachbarschaft in einem hybriden Kontinuum aus digitalen und analogen Praktiken stattfinden.
Digitale Aufwertung des analogen Quartiers
Analoge Begegnungen werden allerdings nicht durch digitale Kommunikation ersetzt; vielmehr helfen soziale Medien die eigenen Vorstellungen, Erwartungen und Bedarfe an Nachbarschaft individuell zu realisieren. Damit differenziert sich auch das Spektrum an nachbarschaftlichen Praktiken durch digitale Medien aus: Die potenzielle Zugehörigkeit zu einer Nachbarschaft sowie die eigene Rolle als Nachbarin und Nachbar kann zu einem gewissen Grad stärker reguliert werden. Die Zugänglichkeit zur Nachbarschaft wird über digitale Medien damit zwar deutlich einfacher, niedrigschwelliger und flexibler, aber vielleicht auch etwas unverbindlicher und damit weniger verlässlich.
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Autorin: Dr. Anna Becker ist Sozialwissenschaftlerin und diplomierte Stadtplanerin. Als Seniorwissenschaftlerin beim vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. erforscht sie urbanen Wandel, soziale Ungleichheit sowie die digitale Transformation von Gesellschaften. Auch ist sie selbst in den sozialen Medien aktiv: Unter @lovinurbanism twittert sie über ihre Forschungsthemen, Gesellschaftspolitik und kommentiert das aktuelle Zeitgeschehen.
Foto: Digitalcollage Cafe Wedding / Adelphi 2017.
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[1] Schnur, O. (2020): Kiez und Corona. Nachbarschaft im Krisen-Modus – Ein Kommentar. vhw-werkSTADT Nr. 40. Berlin.
[2] Hamm, B. (1973): Betrifft: Nachbarschaft. Düsseldorf.
[3] Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
[4] Schreiber, F., & Göppert, H. (2018). Wandel von Nachbarschaft in Zeiten digitaler Vernetzung. Endbericht zum Forschungsprojekt „Vernetzte Nachbarn“. vhw-Schriftenreihe Nr. 9.
[5] Becker, A. und O. Schnur (2020): Die Digitalisierung des Zusammenlebens: Über die Wirkungen digitaler Medien in Quartier und Nachbarschaft. In: Güntner, S. und Hannemann, C. (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion – Digitale Transformation. Wiesbaden: (im Erscheinen).
[6] Becker, A., H. Göppert, O. Schnur und F. Schreiber (2018): Die digitale Renaissance der Nachbarschaft.Soziale Medien als Instrument postmoderner Nachbarschaftsbildung. vhw Forum Wohnen und Stadtentwicklung (4): 206-210.