Aus Sicht und Aussichten von theologischen Praktiker*innen analysiert Elmar Honemann die massiven gegenwärtigen Herausforderungen kirchlichen Lebens.
„Das Thema ‚Corona‘ ist weitgehend durch.“ Redaktionstechnisch völlig nachvollziehbar; auch die Abläufe der kirchlichen Institutionen sind gut umgestellt, aus gesellschaftlicher Verantwortung heraus, mit Priorisierung des Gesundheitsschutzes. Aber: Damit ist es mitnichten schon getan. Ganz erheblich steht die Gefahr im Raum, mit den ökonomischen und kulturellen Segmenten zusammen wieder die „Normalisierung“ anzustreben, das Ende des „lock down“ auch für Gottesdienste und andere kirchliche Veranstaltungen. War es das? War da was?
Zeichen der Zeit
haben sich längst aufgedrängt
Positiv zugespitzt: Auf welche „Zeichen“ sollten wir denn noch warten? Auf die profunde Auswertung langfristiger religionssoziologischer, milieu-basierter Trendanalysen? Sicher. Auf essentiell wichtige Ökumene- und Emanzipationsentwicklungen? Selbstverständlich. Wie es aussieht mit den regelmäßig erhobenen Befunden über Gottesdienstbesucher*innen, Mitgliedszahlen und Kirchensteuern? Hinreichend bekannt – bislang jedenfalls.
Theologisch betrachtet bleibt die Frage virulent [no joke]: Ist Corona ein „Zeichen der Zeit“? Ein Menetekel im biblischen Sinn ist es gewiß nicht – um damit gleich schon allen ‚manichäischen‘ Verschwörungstheorien entgegenzutreten. Aber noch einmal präziser: Zeigt der Umgang mit Corona etwas Wesentliches auf?
Die Kompetenzen liegen vor Ort
Ist die Frage offenkundig rhetorisch, soll die Antwort hier nicht theoretisch abstrahiert werden. Sondern extrahiert: aus der Expertise von denjenigen, die als hauptamtliche Seelsorger*innen ihre Erfahrungen „vor Ort“ rückgemeldet und theologisch qualifiziert haben. Dieser Ansatz macht ernst mit dem Inkarnationsgeschehen inmitten von Leben, und eben auch im Lebensfeindlichen. Auch wenn es heuer in leeren Kirchen gefeiert wurde … Und diese „Feldforschung“ nimmt Kompetenzen (hier: von Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten) ernst und in die Pflicht, die verbaliter hochgeschätzt werden mögen. Schon im Krisen-Modus vermögen sie in der Tat Wesentliches beizutragen – vor einer bequemen Rückkehr in den „Normal-Modus“ tragen sie dazu bei, das Tun zuvor zu reflektieren.
Große Sehnsucht nach der Handlungsperspektive
Die von den Kolleginnen und Kollegen in der pfarrlichen Pastoral zur Verfügung gestellten „Beobachtungsdaten“ sind nicht repräsentativ im statistischen Sinn; ihr ‚Sinn‘ liegt wo(-)möglich vorrangig in einem pastoralen ‚Sensus‘. Der einschlägig bekannte und beliebte „Drei-Schritt“ ist dabei allerdings zu vorschnell-handlungsoptimistisch: Auch wenn es nicht ihm selbst anzulasten ist, verführt und versucht der weite Weg zwischen Reflektion und Handlungsebene doch wie ein „garstiger Graben“ zum Verbleib in der eigenen Systemlogik vermeintlich souveräner „Machbarkeit“ und Wichtigkeit. So sind die Notizen nicht mehr, aber auch nicht weniger als mitunter gleißend-helle, nur mit großer Mühe ausblendbare spot lights – und damit hoffentlich Notanda:
Faktisch wurde Seelsorge politisch/systemisch als nicht-„systemrelevant“ eingestuft – anders als medizinisches Personal, Entsorgungsunternehmen und Öffentlichkeitsarbeiter*innen (vgl. Zweite Verordnung des Landes Hessen zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 13.3.2020 §2 Abs. 2 Satz 15). Dies ist aus Perspektive einer säkularisierten Gesellschaft nur konsequent.
Das Kreisen und Kreißen um die Liturgie
Vieles in Pastoralteams und Ordinariatszirkeln kreiste um Liturgie, kreißte Berge von Papier – gleichzeitig wurden Ostergottesdienste von mehr als 70% der Katholik*innen ausdrücklich gar nicht vermisst (KNA 23.4. über eine repräsentativen Umfrage des Erfurter Meinungsforschungsinstituts «INSA Consulere»).
Außerliturgisch wurden viele Ressourcen eingesetzt für den Aufbau von Hilfe-Netzwerken und -Angeboten – doch wurden diese von den vermutet Hilfe-Bedürftigen kaum abgerufen. Seelsorgliche Praxis im bisherigen Sinn war kaum fortführbar – dafür blühten viele Initiativen auf bei Engagierten.
Die Telefone der Kirche blieben still
Nähe und Resonanzen ergaben sich am ehesten absichtslos – wenn Pastorale als „Hoffnungsträger*innen“ durch menschenleere Straßen ‚flanierten‘, ganz konkret, und über die viel zitierten „Zäune“ Menschen dort etwas an die Hand gaben – materiell wie etwa Palmzweige, und damit vor allem ideell. Anders als in der Telefonseelsorge blieben die Telefone im Pfarrbüro still – außer, sie wurden genutzt, um sich bei Familien, Alleinstehenden und Älteren ehrlich interessiert zu erkundigen.
Wenn die Erfahrungen etwas be-zeichnen sollten – was wäre das dann? Vor allem Desiderata.
Deren erstes: Auf die Bestandsaufnahme nicht aus einer narzistischen Kränkung heraus zu reagieren, auch wenn sie so empfunden werden sollte – dann aber bitte auch bewußt wahrgenommen und Selbst-reflektiert. Sonst wird „Reaktion“ agi[ti]ert.
Konstruktiv wird die Gegenwartsdiagnostik in einer „Umkehr“ der Perspektive (i.e. Metanoia), sich also mit den Augen „der anderen“ zu betrachten wagen – auch und gerade, wenn sie (nach Jan Loffeld 2020) gar nicht auf eine Erlösungsbotschaft warten.
Heilung unreflektierter, kirchlicher Deformationen
Dann …
… gilt es, (inner!-)kirchliche Eucharistiefixierung zu heilen – denn wie Julia Knop ebenso pointiert wie zutreffend feststellt: „Weder Weihwasser noch Hostie wirken viruzid“ (KNA 26.3.);
… gibt es die Krux, dass Kirche offenkundig nicht als altruistische, „pro-existente“ Dienstleisterin wahrgenommen wird – wo ist dann aber ihre Relevanz auch innerhalb eines politischen (Deutungs-)Systems? (vgl. Ansgar Kreutzer 2017);
… geht es um die Weitung des Horizonts von „Kirchenentwicklung“ auf wirkliche grass roots, als bestenfalls initiierbarem, jedoch nicht steuerbarem Prozess. Verhilft Corona hier zu einer angemesseneren, weil ebenso demütigen wie geist-gelassenen Haltung?
… gelingt vielleicht eine gründliche Neuausrichtung der eigenen Ziele und Vorgehensweisen – statt ein klammheimliches „mehr des Gleichen“. Denn was, wenn Tomas Halik recht hat, und Christus anklopft – um herauszutreten, während wir „vor dem Fernseher knien“? (MFThK 2.4.2020)
nach einem halben Jahrhundert
Anders gesagt: Die schonungslose Inventur darf nicht zum klammheimlichen Anstreben neuer Investitur führen.
So selbstverständlich dies nicht nur scheint, so nachdrücklich wird die ausstehende Umsetzung verdeutlicht durch folgende Nach-Lese-Empfehlung einer Kollegin: Vor immerhin beinahe fünfzig Jahren machte sich ein gewisser Karl Rahner Gedanken über „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ – und fand „… letztlich [ist] die Zukunft der Kirche ein Gegenstand der Hoffnung wider die Hoffnung und nicht eine Sache der Futurologie“. Aber das ist eine andere Geschichte.
Entscheidend: Wozu das Ganze?
Für hier und jetzt bleibt (zu beherzigen): Unsere erste Frage „nach Corona“ darf nicht heißen „wie weiter?“; sie darf auch nicht – noch so gut gemeint – lauten „wie anders weiter?“
Kairologisch ist die Gretchenfrage nicht nur nach, sondern auch ohne Corona: „Wozu?“
Die „klassische“ Antwort ist nichts Neues unter der Sonne: Ad maiorem Dei gloriam – und den Menschen zum Heil, „besonders den Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1). Sie wird dadurch nicht falsch. Ganz und gar nicht. Praktisch allen der oben festgestellten Leerstellen kann dieser Kanon im wahrsten Sinne als Korrektiv und Orientierung dienen. Aber dazu muss er als wahrnehmungs-, reflektions- und handlungsleitende Maxime (endlich) (wieder?) relevant werden – will Kirche relevant sein. WENN es ihr dabei nicht geht um eine Anknüpfung an frühere Bedeutsamkeit (als „inhärente Häresie“, vgl. Rainer Bucher 2005), sondern um das Ansetzen an einer Botschaft, die alles andere als irrelevant ist – nicht nur und vor allem nicht für sie selbst.
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Autor: Elmar Honemann ist Theologe und Diözesanreferent für PastoralreferentInnen im Bistum Limburg
Bild: shttefan / unsplasch.com
Beiträge zum Thema:
2017: „Berufen/gesendet/erwachsen aus, in und für Gottes Volk in der Welt von heute“ – systematisierte Erträge aus 25 Literaturjahren zu Profil, Aufgabe und Spezifika von PastoralreferentInnen in Deutschland
Herbst 2020: „Seelsorge 2.0“ – Studie zu Inhalt, Ort und Akteur*innen von Seelsorge.