Erstens kommt es anders, und zweites als man denkt. Jan Loffeld wirbt für Improvisationskompetenz als Ziel von Fort- und Ausbildungen von kirchlichen Haupt- und Ehrenamtlichen.
Im Flugzeug las ich kürzlich über den Rücken meines Vordermanns hinweg eine Überschrift aus dem „Handelsblatt“: „Das Problem der SPD: Nicht Visionen, nur Improvisationen helfen heute weiter“. Weit davon entfernt, theologisch motivierte Parteipolitik zu betreiben, kam mir eher ein spontaner Gedanke: vielleicht trifft das vor allem für die Katholische Kirche unserer Tage zu.
Vieles wurde ausprobiert, der „Stein der Weisen“ aber nicht gefunden.
Beim Rückblick in die eigene Biographie haben sich dort schon einige kirchliche Visionen angesammelt: in den 1980ern hieß der damalige diözesane Pastoralplan meines Heimatbistums in der Hochphase von Communio- und Gemeindetheologie: „Communio. Kirche ist Gemeinschaft.“ Während des Theologiestudiums in den 1990ern fand ein über mehrere Jahre und vielfache Beteiligungsebenen hin angelegtes Diözesanforum unter dem Motto „Mit einer Hoffnung unterwegs“ statt. In der Kaplanszeit in den 2000ern waren „Leitbildprozesse“ für unsere Gemeinden angesagt und derzeit, nach Verabschiedung eines Diözesanpastoralplans, sollen alle Gemeinden, falls sie weiterhin diözesane Zuwendungen für ihre Immobilien bzw. Bauprojekte bekommen wollen, lokale Pastoralpläne erarbeiten. So wichtig es scheint und Kräfte freisetzt, nicht planlos in die Zukunft gehen zu sollen, so sehr hört man doch zwischen Tür und Angel ein „Das auch noch!“.
Für die Pastoral ist diese Zeit eine des Experiments, des Risikos, der Improvisation.
Die Diözesen des deutschen Sprachraums gestalten ihre pastoralen Zukunftsprozesse sehr unterschiedlich. Vermutlich stehen viele in der empfundenen Lage, schon vieles ausprobiert zu haben und den „Stein der Weisen“ nicht auffinden zu können. Man weiß vor allem, wie es nicht (mehr) geht. Bei Fortbildungen im Haupt- und Ehrenamtlichensektor kommt zudem häufig die bange Frage auf: werden sich die Bistümer an ihre eigenen Vorgaben halten? Gerade in Konflikten um Personal und Geld? Oder ist dies vielleicht bei allem guten Willen seitens der Verantwortlichen eine eigentlich uneinholbare Erwartung, weil sich in concreto Sachzwänge zu hoch oder Überraschungsmomente unausweichlich zeigen?
Und immer wabert unter der Oberfläche die Vermutung: Wenn immer, in recht kurzer Halbwertszeit, neue Konzepte aufgelegt werden müssen, bedeutet dies zweifelsohne eine geringe Wirksamkeit des Alten. Warum? Rainer Bucher hat unsere Zeiten einmal als „überraschungsdicht und nur auf Sicht befahrbar“ bezeichnet.[1] Für die Pastoral ist diese Zeit tatsächlich eine des Experiments, des Risikos, der Improvisation.[2] Das bisweilen Autoritäre und nicht selten Totalitäre konkreter Handlungsanweisungen läuft damit allerdings ebenfalls ins Leere. Eine Einsicht, die freisetzt und in eigene Verantwortlichkeiten ruft.
Eigentlich ging Pastoral noch nie ohne konkrete Improvisation: sie kann sogar eine notwendige Kunst sein.
Dabei ist die Sache mit der Improvisation so neu gar nicht. Die Werdenfelser Seminare etwa haben schon recht früh begonnen, pastorales Personal in Fragen von geistlichem Zeitmanagement zu schulen. Eine Grundregel dabei war, am Tag ein Drittel bzw. Viertel der täglichen Arbeitszeit für das Ungeplante und Überraschende frei zu halten. Außerdem: Wenn sich etwa an einem Sonntag vier Mal das Bestattungsinstitut im Pfarrhaus meldet und daraufhin Angehörige kontaktiert werden müssen, um die entsprechende Begleitung sowie die Trauerfeiern für die kommende Woche zu planen und später vorzubereiten, ist klar, dass es eigentlich noch nie ohne konkrete Improvisation ging, ja sie sogar eine notwendige pastorale Kunst sein kann.
Bei allen von außen andemonstrierten oder gar verordneten Visionen besteht vermutlich dieselbe Gefahr wie bei (pastoral-)theologischen Konzepten aus der Haltung einer „armchair- Theologie“: „Ihr Pastoraltheolog*innen habt gut reden. Konkret sieht das aber nochmal ganz anders aus.“ Dieser Hinweis auf eine Bruchstelle zwischen Theorie und Praxis, pastoralem Labor und fließendem Leben ist sehr ernst zu nehmen. Sie scheint sich in unseren überkomplexen Zeiten und Welten sogar noch zuzuspitzen, oder besser: zu vervielfältigen.
Die Bruchstelle zwischen Theorie und Praxis, pastoralem Labor und fließendem Leben ist sehr ernst zu nehmen.
Armin Nassehi hat einmal ein vergleichbares Problem beschrieben (in: Die letzte Stunde der Wahrheit, 2017). Er stellt die Frage, warum sich etwa demokratisch auf administrativer Ebene einer Universitätsleitung ermittelte Ziele bzw. Vorgaben meistens nur sehr begrenzt bis unwirksam in das operative Geschäft konkreter universitärer Lehr- und Forschungsprozesse einspeisen lassen. „Dort, wo Übertragung […] stets etwas Anderes erzeugt, als das, was Ausgangspunkt der Kommunikation war.“ (119) Oder ausführlicher:
»Die Gesellschaft besteht aus Unterbrechungen, sie besteht aus internen Grenzen, die man nur um den Preis unterschiedlicher Verarbeitungsregeln überwinden kann. Man wechselt so das Terrain und verliert die Kontrolle darüber, wie die Dinge an anderer Stelle verarbeitet werden – was dann Beschreibungen der Gesellschaft, die einen zentralen Mechanismus der Problemlösung voraussetzen, in ihrer ganzen Impotenz deutlich werden lassen.« (121)
Dies führt freilich in die Aporie bzw. den Zwang, dass man die gegenwärtige Welt nur
»als komplex verstehen und zugleich handelnd in ihr leben muss. Dies hat dann […] exakt mit der Frage zu tun, dass soziale Systeme sich stets so etwas wie eine analoge Benutzeroberfläche geben müssen, die Tiefenstruktur ihrer Operationsweise aber letztlich verborgen bleiben muss. Das gilt für alle Funktionen und Intelligenzen der Gesellschaft, besonders aber für das politische System, das die Gesellschaft in der vereinfachten Form ihrer Steuerbarkeit darstellen muss, weswegen Politik sich stets in der paradoxen Situation befindet, auf komplexe Regelkreise einwirken zu wollen, zugleich aber analog verstehbar bleiben muss.« (139)
Die Haltung derer, die Seelsorge verkörpern, wird in komplexen Zeiten und diversifizierten Lebenswirklichkeiten voraussichtlich immer entscheidender.
Diese Beschreibung Nassehis könnte eine Erklärung dafür sein, warum auch pastorale Prozesse sich letztlich einer 100%-Steuerung entziehen. Aber was wäre die „analoge Benutzeroberfläche“ in der Pastoral? Steil behauptet: alle, die Seelsorge verkörpern, sie konkret mit ihrer Person gestalten – wie und wo auch immer. Deren Haltung wird in komplexen Zeiten und diversifizierten Lebenswirklichkeiten voraussichtlich immer entscheidender, um in ihnen wirksam handeln zu können. Dass solche Menschen weniger werden, ist ein wirkliches Problem für das Evangelium.
Eine pastorale Haltung entwickelt sich im Dreieck von Person, Situation und Evangelium.
Eine adäquate pastorale Haltung entwickelt sich vermutlich im Dreieck von gewordener bzw. sich entwickelnder Person, (u.a. theologisch reflektierter) Situation und dem Evangelium bzw. dem – in Anlehnung an Frère Roger – was ich davon verstanden bzw. wo ich es als heilsam erlebt habe. Eine solche Haltung ist daher Prozess, in dem sich je neu Habituelles mit Überraschendem mischt und konfiguriert.
Die Haltungsfrage ruft in erster Linie Aus- und Fortbildung und deren Konzeptionskompetenzen auf den Plan. Wo sich auch Aus- und Fortbildungsprozesse selbst als dynamische pastorale Orte und als eine an konkrete Personen bindende Formation verstehen, die sich notwendig bezüglich konkreter Vorgaben angesichts komplexer Situationsdynamiken zurückhalten, darf ruhig auf die spirituell-situative Kompetenz und Intelligenz der eigenen Leute vertraut werden.
Nicht Planung und Kontrolle um jeden Preis, sondern den geistgewirkten Dynamiken der Berufenen vertrauen.
Was Nassehi oben als allgemeines gesellschaftliches Phänomen beschreibt, könnte daher in pastorale Demut rufen: nicht Planung, formierende Beeinflussung oder Kontrolle um jeden Preis, sondern den geistgewirkten Dynamiken der Berufenen vertrauen, diese ermöglichen, unterstützen und fördern. Schließlich: Komplexitäts- und Improvisationskompetenz als Aus- und Fortbildungsziel.
Und was wird aus den Visionen? Vielleicht ist hier von der Urkirche zu lernen. Sie musste einsehen, dass die Wiederkunft Christi sich offenkundig nicht nach eigenen Wünschen, Vorlieben oder Planungen zu richten scheint. Liturgiehistorisch ist daher der Gedanke der Parusie vor allem in den Advent als die Auftaktzeit des Kirchenjahres gewandert. Damit war die Vision nicht verabschiedet, aber ein Vorzeichen wurde wirksam durch anderes relativiert, was im Hier und Jetzt wichtig geworden war. Daher: Wer Visionen behält, ohne alles von ihnen abhängig zu machen, fährt vermutlich besser – auf Sicht.
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Jan Loffeld ist Priester der Diözese Münster und wird ab 1. März den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Katholischen Privat-Universität in Linz vertreten.
Bild: Mathias Klingner / pixelio.de
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[1] Vgl. R. Bucher, Eine kirchliche Wissenschaft. Die pastorale Konstitution der wissenschaftlichen Theologie, in: B. Leven (Hg.), Unabhängige Theologie. Gefahr für Glaube und Kirche? Freiburg/ Brsg. 2016, 143-160, 148.
[2] Vgl. zur Improvisation in der Pastoral auch die im Entstehen begriffene pastoraltheologische Dissertation von Florian Kunz unter dem Titel „Kirche als Fragment. Wege konkreativer Pastoral“ an der Universität Trier.
Vom Autor (u.a.) außerdem bei feinschwarz.net erschienen:
Auf dem Weihnachtsmarkt… die „säkulare Option“ als kirchliche und theologische Ortsangabe