Der Benediktinermönch Martin Werlen beobachtet eine neue Wertschätzung von Orden in der katholischen Kirche.[1] Er verweist dabei auch auf die problematischen Seiten von Klöstern und Orden und formuliert ein Plädoyer für eine ehrliche Betrachtung.
Die Zeit der Orden
Im von Papst Franziskus weltweit initiierten synodalen Prozess und auf dem synodalen Weg in Deutschland entdeckt die Glaubensgemeinschaft, in der ich daheim bin, Wesentliches, das weitgehend im Lauf der Geschichte verloren gegangen ist. Was mich als Gott-Suchender am meisten freut: Baustellen dürfen benannt werden, Vorschläge dürfen eingebracht werden – sogar auf Aufforderung des Papstes –, auch wenn es manchmal noch ganz gehörig holperig ist. Heute ist möglich, was noch vor 10 Jahren unvorstellbar war. Professorinnen und Professoren hätten ihren Lehrstuhl verloren; Bischöfe wären in die Wüste geschickt worden. Der aktuelle Büchermarkt öffnet uns die Augen für das, was seit der Amtszeit von Papst Franziskus in Bewegung gekommen ist. Viele Bücher mit Impulsen, die bewegen, werden von Ordensleuten geschrieben oder sind von Ordensleuten inspiriert. Das gilt auch für Zeitschriften. Es gibt kaum einen Artikel, in dem Ordensleute nicht vorkommen – nicht nur aufgrund des Bezugs auf Papst Franziskus, der Jesuit ist. Wo Veranstaltungen zur Reform der Kirche stattfinden, sind meistens auch Ordensleute auf dem Podium. Die Präsenz der Ordensleute ist stark. Es ist die Zeit der Orden! Das, was der große Theologe Johann Baptist Metz im Jahre 1977 mit einem Fragezeichen versehen hatte („Zeit der Orden?“), können wir heute offensichtlich ohne Fragezeichen sagen.
Aufgepasst
Wird man damit aber dem Phänomen der Klöster gerecht? Ist die Klöster-Euphorie im synodalen Prozess angebracht? Selbstverständlich können Ordensleute viele Impulse aus ihrem Erfahrungshorizont einbringen.
Ein kritischer Blick auf die Ordenslandschaft
Werfen wir aber einen kritischen Blick in die gesamte Ordenslandschaft, so sieht man die Klöster nicht nur als vorbildliche Einrichtungen. Schnell wird mit dem fehlenden Nachwuchs oder dem hohen Durchschnittsalter argumentiert. Doch die Lebendigkeit einer Gemeinschaft hängt nicht von der Zahl ihrer Mitglieder ab und auch nicht vom Durchschnittsalter. Die meisten Klöster wurden und werden kaum als prophetische Zeichen wahrgenommen. Es gibt in der Vergangenheit und auch heute Vieles, was Kirche und Christ*innen nicht von den Klöstern lernen sollten.
Erneuerung und Anpassung des Ordenslebens
Das Zweite Vatikanische Konzil versuchte auch die Ordensleute aus den liebgewonnenen Gewohnheiten zu wecken. Das Bewusstsein für das eigene Charisma war in vielen Gemeinschaften weitgehend verloren gegangen. So wird verständlich, was im Dekret über das Ordensleben steht: «Zeitgemässe Erneuerung des Ordenslebens heisst: ständige Rückkehr zu den Quellen jedes christlichen Lebens und zum Geist des Ursprungs der einzelnen Institute, zugleich aber deren Anpassung an die veränderten Zeitverhältnisse.» Dann werden einige Grundsätze in Erinnerung gerufen: «Letzte Norm des Ordenslebens ist die im Evangelium dargelegte Nachfolge Christi.»
Das Charisma der Gemeinschaft?
«Der Geist und die eigentlichen Absichten der Gründer wie auch die gesunden Überlieferungen sind treu zu erforschen und zu bewahren. Die Erneuerungsbestrebungen der Kirche – auf biblischem, liturgischem, dogmatischem, pastoralem, ökumenischem, missionarischem und sozialem Gebiet – sind sich zu eigen zu machen und nach Kräften zu fördern.» Die Ordensleute sollen «die Lebensverhältnisse der Menschen, die Zeitlage sowie die Erfordernisse der Kirche wirklich kennen». Kurz zusammengefasst könnte man sagen: Tief verwurzelt in Gott das Charisma der Gemeinschaft leben, den Menschen nahe sein und die Erneuerungsbestrebungen der Kirche auf allen Gebieten mittragen und fördern. Auf dem Hintergrund dieser Folie werden klösterliche Haltungen erkennbar, die für die Kirche nicht vorbildlich sind.
Das Charisma nach aussen hochhalten, aber nicht leben
Es gibt herausragende und bewährte Leitbilder für die Gemeinschaften, so zum Beispiel die Mönchsregel des heiligen Benedikt. Aber ein grossartiges Leitbild haben und nach diesem Leitbild auch tatsächlich das Leben zu gestalten sind zwei verschiedene Dinge. Dabei geht es selbstverständlich nicht um die wörtliche Befolgung.
Weisungen durch das eigene Leben bezeugen.
Das wäre ein Nichternstnehmen der Lebensform. Oft wird vergessen, dass das Bewusstsein für das eigene Charisma bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil sehr schwach war. Das zeigte sich zum Beispiel in der Bibliothek der Noviziate. Dieselben Bücher waren in verschiedenen Orden zu finden, aber auch in den Priesterseminaren. Die durch das Konzil geforderte Reform wurde in der Folge sehr unterschiedlich umgesetzt. Oft war oder ist die konkrete Lebensform nicht vereinbar mit den öffentlich abgelegten Gelübden. Wichtiger als Weisungen einer Lebensform hochzuhalten ist, diese Weisungen durchs eigene Leben zu bezeugen. So schreibt es der heilige Benedikt auch in seiner Regel: «Wichtig ist, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen. Das wirkt viel besser als Worte. Was sie also andere lehren, das sollen sie zuerst selbst vorleben.» Das gilt auch für den Beitrag der Orden zum synodalen Prozess der Kirche.
Traditionen hüten statt prophetisch knistern
Es ist die Berufung der Ordensleute, prophetisch zu knistern. Diese wesentliche Dimension des Ordenslebens wurde weitgehend preisgegeben. Stattdessen sind viele Gemeinschaften bis heute vor allem dadurch bekannt und von Menschen geschätzt, weil sie Traditionen hüten. Dabei geht es nicht so sehr um die Tradition (durch den Wandel der Zeiten Jesus Christus die Treue halten), sondern um das Hüten des Zeitgeistes früherer Jahrhunderte.
Offensichtliches Stehenbleiben
In bestimmten Kreisen ist es ein Kompliment zu sagen: Überall haben wir grosse Veränderungen, in den Klöstern bleibt alles beim Alten. Nicht wenige Gemeinschaften lassen sich leicht von ideologischen Gruppierungen einspannen. Es gibt auch heute noch Klöster, die sich rühmen, Wahrer der Traditionen zu sein, aber nicht Förderer der Erneuerungen. Ein Blick in die Gebäude zeigt das offensichtliche Stehenbleiben. Da stehen Kunstwerke vergangener Jahrhunderte, aber oft kein einziges zeitgenössisches. So muss es auch nicht erstaunen, dass die Orden bis zur Amtszeit von Papst Franziskus die Wichtigkeit der synodalen Prozesse kaum angemahnt und in die Kirche eingebracht haben. Ordensleute müssen auch heute besonders achtsam sein, der Versuchung nicht zu erliegen, bei der Arbeit am Pflug zurückzuschauen, statt mutig voranzuschreiten.
Das höfische Getue statt evangelisches Zeugnis
Während wir uns am höfischen Getue in Rom zu Recht stören, finden wir dasselbe in Klöstern selbstverständlich und schön. Viele Ordensleute leben in fürstlichen Palästen. Das Leben in einem Palast passt selten zur Botschaft des Nazareners. Der Auszug von Papst Franziskus aus dem Apostolischen Palast ins Gästehaus Santa Marta war ein starkes Zeichen, das weltweit über alle Religions- und Konfessionsgrenzen wahrgenommen wurde und wird. Ob er uns Ordensleuten nicht auch darin ein Vorbild sein könnte?
Fürstliche Kleider aus fürstlichen Zeiten
Der Abschied vom Höfischen gilt auch für die liturgischen Räume und die liturgischen Kleider. Mit wertvollen Kleidern aus vergangenen Zeiten verkünden viele Kleriker in den Orden, worunter sie so sehr leiden: Wir sind in der Vergangenheit stehen geblieben und sind stolz darauf; wir waren Fürsten und jetzt tragen wir weiterhin diese Kleider – und das gefällt uns. Ich muss gestehen: In meiner Amtszeit als Abt von Einsiedeln habe ich solche Fürstengewänder auch noch getragen. Ich würde es nicht mehr tun. Stellen wir uns nur einmal vor, der französische Präsident würde mit einer Uniform von Napoleon auftreten. In der Liturgie geschieht das in vielen Klöstern. Damit heben wir uns von den Menschen ab, statt mit ihnen auf dem Weg zu sein. Unsere fürstliche Zeit verkünden auch viele unserer Kirchenräume. Es sind beeindruckende Paläste, aber sie erinnern uns kaum daran, dass wir Jesus Christus in unserem oft erbärmlichen Alltag finden. Wir investieren viel Zeit und Geld in den Unterhalt. Sollten wir nicht alles dransetzen, dass die Verkündigung die Priorität hat, nicht der Denkmalschutz? Denk mal! – diese Aufforderung gefällt mir. Die meisten Kirchen-Insider haben sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Wohl aber viele unter denen, die sich von der Kirche verabschiedet haben. Das höfische Getue gehört gewiss nicht zu den gesunden Überlieferungen.
Machtzentren statt Orte des gegenseitigen Dienstes
Viele Klöster präsentieren sich nach aussen als weltliche Machtzentren. Das waren sie früher auch. Die Macht einer christlichen Gemeinschaft aber muss sich gerade im uneigennützigen Dienst erweisen. Die Macht in Ordenshäusern ist immer noch weitgehend bei den Männern, früher ausschliesslich bei den Klerikern. Denn die Priesterweihe wird bis heute in vielen Gemeinschaften als wichtiger betrachtet als die Profess. Männer bestimmen über die Frauen in Ordensgemeinschaften. Warum haben Ordensmänner nicht schon lange realisiert, wie daneben das ist? Es reicht nicht, mit dem Kirchenrecht zu argumentieren.
Menschen mit prophetischer Berufung – und Machtmissbrauch
Als Menschen mit einer prophetischen Berufung hätten wir schon lange dagegen auftreten müssen. Und was haben wir in Frauengemeinschaften angestellt, ohne uns aufs Kirchenrecht berufen zu können! Ich kenne viele Frauengemeinschaften, in denen ‘fromme’ Männer verhinderten, dass Bildung geschehen konnte. Das ist Machtmissbrauch. Ein solcher zeigte sich auch in spirituellen und sexuellen Übergriffen durch Ordensmitglieder (Männer und Frauen) – nicht weniger als beim ‘weltlichen’ Klerus. All das ist das Gegenteil dessen, wovon der heilige Benedikt spricht: «Sie sollen selbstlos und geschwisterlich füreinander da sein. Sie sind nicht auf den eigenen Vorteil bedacht, sondern auf den der andern.»
Sorge um Nachwuchs statt Sorge für Nachwuchs
Der heilige Benedikt kennt keine Sorge um Nachwuchs, wohl aber die Sorge für den Nachwuchs. «Gegenüber jenen, die neu ins Kloster eintreten wollen, ist eine gesunde Vorsicht am Platz. Die Aufnahme soll nicht übereilt geschehen.»
Manipulatives Verhalten gegenüber jungen Menschen
Dem entgegengesetzt nimmt man in vielen Klöstern eine grosse Sorge um Nachwuchs wahr, der leicht zu manipulativem Verhalten gegenüber jungen Menschen führen kann. Sind die Menschen aber einmal in der Gemeinschaft, fehlen die Prüfung und Betreuung, die zu einer gesunden Reifung der Berufung beitragen könnte. Dazu gehört auch eine angemessene akademische Bildung, damit die Klöster in Zukunft ihre prophetische Berufung in der Kirche leben und die Erneuerungsbestrebungen der Kirche auf allen Gebieten vorantreiben und mittragen können.
Die Zeit der Orden: Was fehlt und neu entdeckt werden muss
In allen grossen Ordensregeln wird die Demut den Ordensleuten als zentrale Haltung ans Herz gelegt. Sie fehlt oft und muss neu entdeckt werden. Welcher Missbrauch mit Demut getrieben wurde, zeigt sich noch heute, wenn man über Demut sprechen möchte. Menschen wurden – im Namen Gottes – gedemütigt. Wer so handelt, dem fehlt es an Demut.
Ruf nach ehrlicher Selbstreflexion
Vielmehr lebt er seine Überlegenheit und seine Verachtung aus. Das lateinische Wort für Demut kann uns lehren, wie aktuell und modern diese zentrale Haltung ist: humilitas. In unserer Sprache heisst das soviel wie: nicht abheben und sich nicht besser als die anderen fühlen, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit bleiben. Dazu gehört auch unser Bewusstsein als Ordensleute, dass nicht alles, was wir leben, der Kirche Vorbild sein kann. Wir sind nicht die Besseren, die auf die anderen hinunterschauen dürfen. Auch wenn wir in unserer Spiritualität grosse Schätze haben, die heute für die Kirche wichtig sind, dürfen wir nicht vergessen: «Solche Grundsätze sind im Verlauf der Ordensgeschichte immer wieder verblasst oder ganz verloren gegangen» (Franz Meures SJ).
Die Kirche kann in verschiedenen Bereichen und Herausforderungen von den Erfahrungen der Ordensleute lernen und sich von ihnen Impulse geben lassen. Aber dazu muss in den Orden auch eine ehrliche Selbstreflexion und ein kontinuierliches Bearbeiten der eigenen Baustellen und Problemfelder gehören. Nur dann sind sie glaubwürdig prophetisch knisternd.
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Titelbild: Propstei St. Gerold
Porträtfoto P. M. Werlen OSB: Leo Forte
[1] Unter Kirche versteht der Autor die Gemeinschaft der Getauften. Ihm ist es wichtig, die grossartigen Begriffe ‘katholisch’, ‘evangelisch’, ‘orthodox’, ‘adventlich’ und ‘pfingstlich’ nicht zu gebrauchen, um sich voneinander abzugrenzen. Die Freude am zutiefst verbindenden Charakter dieser Wörter schliesst natürlich nicht aus, dass er konkrete Beispiele aus seinem konfessionell geprägten Erfahrungshintergrund anführt. Das soll die Leserinnen und Leser anregen, in der eigenen Erfahrungswelt konkret zu werden. Klöster oder klosterähnliche Gemeinschaften gibt es in allen Konfessionen.