Ottmar Fuchs in gewohnt deutlicher Sprache: Auch die Bibel ist nicht unschuldig in ihrer Sprache und ihren Bildern. Er buchstabiert an mehreren Themen seinen radikal gnadentheologischen Ansatz als postkoloniale Kritik an der Bibel durch. Eine Buchbesprechung von Johann Pock.
In seinem jüngsten Buch widmet sich Ottmar Fuchs – Pastoraltheologe, Homiletiker und Bibliker – der Frage, wie man Bibel verstehen kann angesichts postkolonialer Erkenntnisse. Schon der Titel des Buches zeigt eines seiner zentralen Anliegen der vergangenen Jahre: Die Gnadentheologie in allen theologischen Bereichen stärker zu verankern. Dies wendet er auch auf das biblische Gottesbild bzw.das Gottesverständnis an.
Sein Anliegen lautet: „Gott ist, von unserem Sein her gesehen, die Summe aller Unmöglichkeiten, und darin auch der unendliche ‚Raum‘, in dem das Unmögliche möglich ist.“ (S. 13) Der Duktus des Buches führt über eine Einführung postkolonialer Perspektiven in unterschiedlichen aktuellen Diskursen und Praktiken (1.1.), einer „normativen Hermeneutik“ hinsichtlich „guter“ und „schlechter“ Texte, vor allem unter dem Gnadenaspekt (1.2.) hin zur „Entgrenzung des Heils“ im Kreuzesereignis (1.3.).
Das Buch ist zu reichhaltig, um auf alle Aspekte einzugehen. Ich möchte im Folgenden vor allem auf zwei Aspekte näher hinweisen: seine postkoloniale Dekonstruktion üblicher bibeltheologischer Zugänge; und sein Ringen mit einem „Arschloch-Gott“. Und vorweg: Es zeigt sich im ganzen Buch immer wieder eine sehr engagierte, zum Teil auch zornige Sprache, die verhindert, dass man locker über die Kapitel hinwegliest.
1. Einleitung
Einleitend beschäftigt sich Fuchs mit den Rahmenbedingungen seiner Fragestellung eines „unmöglichen Gottes“ bzw. eines Gottes, für den eben nichts unmöglich ist (mit dieser doppelten Deutung spielt der Buchtitel). So durchzieht sein Denken (und dieses Buch) das Thema der Freiheit: „Nur eine Freiheit, die auch gegen den Glauben realisiert werden darf, und zwar völlig unbedroht, theologisch also im Heil bleiben und niemals herausfallen kann mit der universalen Liebe zusammengedacht werden“. (S. 18) Es geht in diesem Zusammenhang um eine „barmherzige Seelsorge“, und daher wendet er sich vehement gegen die lange Zeit übliche „Wenn – dann“ Struktur von Seelsorge und Theologie.
„Dass die Religion nicht zum Durchlauferhitzer kolonialer Ideologien und Praktiken wird“
„Aber dass die Religion nicht zum Durchlauferhitzer kolonialer Ideologien und Praktiken wird, dafür möchte ich hier für die christliche Seite einige theologische und näherhin bibeltheologische Grundlagen erörtern.“ (S. 14) Er möchte Gott und die postkoloniale Debatte zusammendenken und verbindet dies mit dem „Menschheitsproblem“: Dass die Menschen nicht auf Kosten anderer (auch nicht auf Kosten der Tiere bzw. der Natur) existieren können.
2. Umkehr: postkolonial
Der erste Buchteil behandelt in drei Kapiteln „Umkehr: postkolonial!“ (S. 35-102) Fuchs versucht, im ersten Teil eine inhaltlich-normative Hermeneutik in Bezug auf die Differenz zwischen schlechten und guten (biblischen) Texten zu entwickeln. Dazu wendet er die postkoloniale Perspektive auf Fragen der Antisemitismusdebatte an und hält fest: „Es geht also mitnichten um Libertinismus, dass man in einem Diskurs alles sagen dürfte, sondern um die prinzipielle Orientierung an Gerechtigkeit, Wahrheit und Barmherzigkeit. Wo diese globalisierte postkoloniale Einstellung fehlt, kann man sich jeden anderen Diskurs sparen.“ (S. 41f)
„Verantwortung gegenüber allzu schnellen Cancel-Culture-Entscheidungen von Interessensgruppen“
Und im Blick auf die Universitäten: „Die Universitäten haben hier eine wichtige Aufgabe und Verantwortung gegenüber allzu schnellen Cancel-Culture-Entscheidungen von Interessensgruppen die Freiheit des Diskurses zu verteidigen und gegenzusteuern“ (S. 42, Anm. 22).
Deutlich wird es auch im Blick auf die „alternative Bibellektüre hinsichtlich der Landproblematik“ (S. 42): „Indem die postkoloniale Bibellektüre den eigenen Kontext von Abhängigkeit, Unterdrückung und Herrschaft mit den Texten in Beziehung bringt, entdeckt sie darin entsprechende Machtbeziehungen und hegemoniale Strategien auf Kosten jeweils anderer.“ (S. 43)
„Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“
Wichtig ist Fuchs dabei festzuhalten, dass die Bibel sowohl Unterdrückte wie auch Unterdrücker beinhaltet. Es braucht daher eine bewusste Entscheidung, welche Texte man gegenüber anderen Texten stark macht. „Postkoloniale Bibellektüre verabschiedet die Vorstellung, dass es nur eine richtige Art gebe, die Bibel zu lesen.“ (S. 45) Und er zitiert Musa W. Dube: „Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte zu uns: ‚Lasset uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“[1] (S. 45f) „Aus dieser Perspektive benötigen wir so etwas wie eine Entdisziplinierung des Diskurses – von westlicher Disziplinierung ohnehin, vor allem aber auch eine Kritik der jeweils herrschenden Formen von Political Correctness.“ (S. 48)
Sehr persönlich vermerkt er: „Der Schreibtisch – und d.h. im Augenblick mein Schreibtisch – ist nicht unschuldig. Er markiert, dass ich nicht zu den Subalternen gehöre.“ (S. 49) – Entgegen der Gefahr, subalterne Menschen und Gruppen nochmals epistemisch auszubeuten im Namen der Wissenschaft. Auch wenn man mit besten Absichten stellvertretend für andere spricht – es gibt immer die Gefahr des „expropriierenden Stehlens“ von Ideen.
3. Die „Dynamik der Gnade“ (1.2)
Fuchs legt nun den Finger in den wunden Punkt der Frage: Gilt das religiöse Heil wirklich für alle Menschen – oder nur den Glaubenden? Er bringt die so wichtige Kritik gegenüber exegetischen Ansätzen, die schwierige Texte zu schnell harmonisieren: „Der biblische Text darf in der Rezeption ein Eigenleben entfalten, das durch seine Herkunftsanalyse zwar bereichert, aber nicht behindert werden darf.“ (S. 56)
Als positives Beispiel führt er das Projekt „Die Bibel und die Frauen“ (Irmtraud Fischer, Graz) an. Darin ist eine Rezeptionsgeschichte der Bibel (in 4 Sprachen) angezielt, wo deutlich gemacht wird, dass die Bibel z.B. mit einzelnen Texten Gewalt gegen Frauen rechtfertigt. Und zugleich liefert die Bibel andere Texte und Argumente, um diese frauenunterdrückenden Texte zu dekonstruieren. „Weitere solche Blickwinkel sind die Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus, mit der Verteilungsungerechtigkeit von Lebensgütern, also die Armutsfrage, und die Bewahrung der Schöpfung (diese normativen Blickwinkel sind nicht vollständig und wechseln je in ihrer Dominanzverteilung nach Situation und Herausforderung).“ (S. 59f)
„Menschlicher Zorn kann unter dem Mantel der Verkündigung Gottes Gnade verdunkeln.“
Als weiteres positives Beispiel dient die „BiGS“, die „Bibel in gerechter Sprache“: „Die Bibel in gerechter Sprache transportiert bereits in den Übersetzungsprozess hinein, was im sozialen Rezeptionsraum der Bibel, nämlich in den Kirchen, in jedem Fall anzugehen ist, nämlich von gegenwärtigen Bedeutungsorten die Bedeutung der Bibel und umgekehrt zu erschließen.“ (S. 61)
„Menschlicher Zorn kann unter dem Mantel der Verkündigung Gottes Gnade verdunkeln.“[2] Fuchs möchte diesen „gnadentheologisch orientierten Komparativ“ programmatisch klären. So benennt er die Spannung zwischen einem Jesus, der Unterschiedlichkeit befürwortet – und z.B. der johanneischen Christologie, die Jesus (gewissermaßen imperialistisch) Macht über alle Kulturen gibt. Andere religiöse Wege werden degradiert bzw. kolonialisiert. (S. 63) „Kurz: Postkoloniale Bibellektüre geht an das Mark christlicher Ursprungsschriften.“ (S. 63)
Fuchs benennt weitere Texte, die hier postkolonial anzusehen wären, wie z.B. Lk 16,19-31 (der reiche Mann, der unbarmherzig ausgeschlossen wird). Aber er verweist auch auf Texte, wo die „harte Innen-Außen-Regulierung“ geöffnet wird (Mk 10,17-27). Es geht nicht mehr primär darum, die „ipsissima vox“ Jesu gegenüber „sekundären“ Texten zu finden, sondern „um den inhaltlichen Unterschied zwischen identitär bzw. kolonial auf der einen und freiheitsgebend-inklusiv auf der anderen Seite“ (S. 68).
„Auch Jesus transportiert identitäre Verengungen – und bricht sie an anderer Stelle aber auch auf.“
„Bei Gott ist nichts unmöglich“ – das ist die Antwort des Engels an Maria (Lk 1,34f; vgl. schon Gen 18,14). Und die Bibel transportiert unterschiedliche Traditionen. Auch Jesus transportiert identitäre Verengungen – und bricht sie an anderer Stelle aber auch auf. „Diese Durchbrüche bei Jesus … sind dann auch … gegen den anderen Jesus in Anschlag zu bringen und gegen die anderen Texte.“ (S. 70) „In den Texten selbst und zwischen ihnen sind meist wichtige Transzendierungen des Bisherigen angelegt.“ (S. 72)
Fuchs betont die Universalität des Kreuzestodes Christi – und damit auch das Aufbrechen der Reich-Gottes-Heilszusage an alle, auch die Täter:innen und Sünder:innen. „Biblische Texte selbst sind in sich so widersprüchlich, dass man sie nur in Differenz gemeinsam aufspüren kann.“ (S. 78) Und: „Es liegt in der Verantwortung der Gegenwart, was sie aus diesen Texten macht.“ (S. 80)
Was ist nun die Aufgabe einer sich postkolonial verstehenden Hermeneutik? „Die postkoloniale Perspektive prüft alles Verhalten und alle Texte daraufhin, wie sie mit dem Außen ihrer selbst jeweils umgehen, degradierend und kolonialisierend oder existenzanerkennend und wohlfahrtsgerecht.“ (S. 81)
4. Irritierendes Arschloch-Verhalten
Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit „Neuralgische Themen“ (103-176). Hier sei in der Rezension nur auf den ersten Artikel verwiesen, der unkonventionell und in seiner Sprache irritierend sein mag: „Irritierendes Arschloch-Verhalten“.
Dieser Artikel ist sicherlich der persönlichste und emotionalste im Buch. Fuchs greift hier auf den Philosophen Aaron James zurück mit seinem Buch „Arschlöcher. Eine Theorie“[3]. Er arbeitet sich an der Frage ab, ob man Gott so einfach ent-schuldigen kann (z.B. mit dem Theodizeediskurs) für alle Ungerechtigkeiten, alles Leid in der Welt bzw. im eigenen Leben. „Die lästerliche Sprache rettet Authentizität, auch in der Gottesbeziehung.“ (S. 106)
„Mut zur Blasphemie“
Ottmar Fuchs hat sich schon sehr früh mit der Theologie der Klage beschäftigt.[4] Die Gottesfrage, vor allem die Gnadentheologie, durchzieht sein Werk; aber er verschweigt an Gott nicht seine „dunklen Seiten“, das Unverständnis – und von daher auch die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit, mit diesem Gott zu hadern und zu ringen. Und so plädiert er für den „Mut zur Blasphemie“ (S. 106) – unter Verweis z.B. auf Frank Pape, der aufgrund persönlicher Leiderfahrungen ein Buch schrieb: „Gott, du kannst ein Arsch sein“.[5] Und Fuchs meint: „Gott wird zum Arschloch, weil er so viel Scheiße baut!“ (S. 11)
Er zeigt dies an „unerträglichen“ Texten der Bibel auf (z.B. Mt 15,21-28). Und er benennt zugleich die bereits in der Bibel vorhandenen Gegenbewegungen – wie z.B. die Klagepsalmen. Und gerade in der Inkarnation verzichtet Gott auf eine Sonderbehandlung.
Es braucht „Zorn und Mitgefühl“ im Blick auf die „Wirklichkeit der Arschlöcher“.
Sprachlich tut dieses Kapitel vermutlich manchen weh in der Verwendung von „Fäkalsprache“. Gleichzeitig macht gerade das unweigerlich deutlich, sich nicht um die schmerzhafte „Warum-Frage“ zu drücken und auch Gott nicht aus der Anklage vorschnell zu entlassen. Es braucht „Zorn und Mitgefühl“ (S. 124) im Blick auf die „Wirklichkeit der Arschlöcher“.
Die weiteren Artikel führen die neuralgischen Themen weiter im Blick auf Gott und Gewalt (2.2) sowie das Thema der Liebe (Gottes), die pastorale Konsequenzen haben muss, „in Richtung auf eine noch zu entwerfende eschatologische Pastoral, ohne Moralisierung, aber in furchtvollem Respekt vor einem Jenseits, in der Liebe alles ist, und mit jener Gerechtigkeit und Empathie, die wir jenseits erhoffen.“ (S. 174)
5. Vertiefungen und Ausblick
Der letzte Abschnitt „Vertiefungen und Ausblick“ (S. 177-240) bringt in 3 Artikeln nochmals eine Fülle an zentralen Themen, geprägt von der persönlichen Theologie von Ottmar Fuchs: Freiheit und Verantwortung, Tod und Leben, Zerrissener Gott und Liebe, Politik, Gericht und Gebet … Und auch einem versöhnlichen Ausblick: „Kirchen könnten Räume sein, wo geglaubt wird, dass jeder Mensch geliebt ist, so dass ich ihn nie zum Werkzeug meiner Gier und Triebe machen kann.“ (S. 239) Reich Gottes vor dem Selbsterhalt der Kirchen – so ein abschließendes Resümee von Fuchs.
Das Buch bietet somit eine Fülle an kritischen Zugängen zu üblichen Bibelauslegungen und öffnet die Augen, wie sehr solche Auslegungen auch exklusiv sein können. Aber es bleibt nicht bei der leidenschaftlichen Kritik stehen, sondern zeigt (versöhnliche) Wege auf zu neuen Zugängen.
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Buch: Ottmar Fuchs, Nichts ist unmöglich. Gott! Aspekte einer postkolonialen Bibelhermeneutik, Echter: Würzburg 2023. 248 S., ISBN: 978-3-429-05849-4
Johann Pock, Wien, ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net
[1] Musa W. Dube, ‚Rhodes Must Fall‘. Postcolonial Perspectives on Christian Mission, in: Sebastian Pittl (Hg.), Theologie und Postkolonialismus, Regensburg 2018, 83-100.
[2] Manfred Köhnlein, Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt, Stuttgart 2009, 209.
[3] Aaron James, Arschlöcher. Eine Theorie, München 2014 (New York 2012).
[4] Ottmar Fuchs, Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22, München: Kösel 1982.
[5] Frank Pape, Gott, Du kannst ein Arsch sein. Stephanies letzte 296 Tage, München 2016, verfilmt 2020.