Was sollte man am Reformationstag eigentlich feiern? Konfessionelles Profil, ökumenische Verbundenheit – oder was sonst noch? Stephan Jütte wagt einen selbstkritischen Blick aus protestantischer Perspektive.
Man wird dieses Jahr nicht wuchtig in den Luther-Choral „Eine feste Burg ist unser Gott“ – die „Marseillaise der Reformation“ (Heine) – einstimmen können, ohne zuvor durch das professionelle Personal darüber belehrt worden zu sein, dass man dies im Geiste und im Auftrag der ökumenischen, weltweiten Kirche tut. Im lutherischen Kirchenjahr ist sie ohnehin nicht mehr als Wochenlied des Reformationstags vorgesehen. Da singt man „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“. Kaum eine Evangelische Kirche wird damit werben, dass sie – anders als die grosse Schwester – ihren Service unter geschlechtergerechten Bedingungen anbietet. Und die Römisch-katholische Kirche wird darauf verzichten, sich als Original anzupreisen. Viel eher werden die Kirchen diesen Tag „in ökumenischer Geschwisterlichkeit und interreligiöser Weite“ (Bedford-Strohm) feiern.
Vergangenheitsvermarktung
Sie werden die im Jubiläumsjahr entwickelte Idee, die Reformation als eine umfassende gesellschaftliche Bewegung zu vermarkten, wieder aufgreifen. Entweder wird man sich, wo es passt, reformatorisches Erbe in Erinnerung rufen, um zu zeigen welche Triebkraft diese religiösen Ideen für die humanistische und demokratische Gesellschaft der Gegenwart hatten. Oder man referiert irgendeine reformatorische Wahrheit, die leider in Vergessenheit geraten sei und behauptet, dass diese Vergessenheit der wahre Grund für den Niedergang der Kirche, ja des ganzen Abendlands sei. Kurzum: Die Erinnerung wird auf die eine oder andere Weise der Versicherung und Konstruktion eigener Identität dienen.
Ein altes Ehepaar
Diese Identitätssuche geschieht auch dieses Jahr überwiegend in Kirchgemeinden, die seit dem letzten Reformationstag mehr Mitglieder verloren als gewonnen haben. In Kirchgemeinden, die vielleicht ärmer und deren Mitglieder älter geworden sind. So hat sich nebst der reformatorischen Exklusivpartikel – „sola gratia, sola fide, sola scriptura, solus Christus!“ – längst eine andere Formulierung etabliert: kleiner, älter, ärmer. Anders als die ältere Formel beschreibt diese nicht die theologische Grundlage christlicher Hoffnung und Orientierung, sondern die Zukunftserwartung der Kirchen. Und die ist nur arm und gar nicht sexy. Auch die grosse Schwester ist trotz guter Social Media Beiträge aus Rom längst nicht mehr anziehend. Zusammen wirken sie wie ein altes Ehepaar, das zu schwach ist um zu streiten, verstanden hat, dass sie niemand mehr besucht und sie nur noch sich selbst haben. Gemeinsam verkünden sie dann einer Welt, die sie nicht mehr verstehen, dass Sonntagsruhe heilig, Menschenwürde unantastbar und die Natur schützenswert ist. Und mancherorts machen vielleicht noch ein paar humanistisch gesinnte jüdische oder muslimische Bildungsbürger mit.
Ausnahmezustand!
Freilich dürfte dies eher einer Innenperspektive derer entsprechen, welche die Kirchenkrise herbeireden. Sie beschwören einen Ausnahmezustand herauf, in dem konfessionelle, christliche Identität durch starke Führung hergestellt werden muss. Dieser Versuchung kann widerstehen, wer sich mehr auf die reformatorischen Exklusivpartikel als auf die modernen Unheilsprophet*innen bezieht. Es ist an uns, ihnen neuen Sinn zu geben. Sie haben Luther überlebt und wir sind frei zu adoptieren und adaptieren.
Man kann nie wissen…
Dass ein Mensch Gottes Kind sein darf, geschieht allein durch Gnade (sola gratia). Die Gotteskindschaft kann weder verdient noch verwirkt werden. Für die Menschen bleibt unsichtbar, wer diese Gabe empfängt. Sie beschreibt kein vorzeigbares Geschenk, sondern meint die Art, wie Gott den Menschen begegnet. Dadurch erst entsteht Glaube (sola fide), durch den ein Mensch sich ohne Bedingungen angenommen und geliebt glaubt. Weil also alles Wesentliche für die Augen unsichtbar ist, versteht sich eine Kirche immer dann falsch, wenn sie Menschen in Kirchennahe oder Distanzierte, Gläubige oder Ungläubige einteilt. Im Glauben weiss die Kirche, dass die Menschen menschlicher Verfügung entzogen bleiben. Man kann nie wissen, dass jemand nicht und darf immer hoffen, dass jeder doch dazugehört.
Vielleicht sogar sexy
Hatte Luther noch gemeint, in der Schrift (sola scriptura) einen festen Anker für die Wahrheitsfindung in theologischen Auseinandersetzungen gefunden zu haben, mussten wir Nachgeborenen lernen, diese selbst nicht wieder in fundamentalistischer Manier zum papierenen Papst werden zu lassen. In diesem Sinne konnte Christus (solus Christus) nicht nur Heilsmittler bleiben, sondern wurde überhaupt zur Verbindung zwischen Gott und Mensch. Bezieht man die vier Exklusivpartikel aufeinander, wird auch deutlich, dass es mit der Exklusivität nicht weit her ist. Wenn es bei Gott allein liegt, mit den Menschen in Verbindung zu stehen, dann ist jede Schriftauslegung jedes Menschen wichtig und es kann sich in jedem Leben Christus zeigen – vielleicht gerade nicht unter diesem Namen.
Eine Kirche, die das gelassen und fröhlich glaubt und dann auch lebt, ist vielleicht alt, aber niemals klein und schon gar nicht arm.
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Dr. Stephan Jütte ist reformierter Theologe und tätig in der Abteilung Lebenswelten der Reformierten Landeskirche im Kanton Zürich.
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