Maike Maria Domsel gibt Einblicke in den besonderen Umgang mit dem Thema „Sterben, Tod und Trauer“ einer christlichen Minderheit.
Nach einem langen Schultag machte ich mich auf dem Weg nach Hause. Ich war frisch zugezogen in Alt-Vilich, einem beschaulichen Stadtviertel Bonns. Mein Ziel hatte ich schon fast erreicht, als ich mitten im „Dorfkern“ unerwarteterweise in einen Verkehrsstau geriet. Was ich nun wider Erwarten beobachten konnte, hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck: Ich vernahm die fröhlichen Rhythmen einer Blaskapelle, ein langer Zug von vielen Menschen aller Altersklassen zog vorbei. Manche von ihnen weinten. Alle trugen dunkle Kleidung, die Männer meist feine Anzüge, die Frauen elegante Röcke oder Kleider. Dann entdeckte ich eine schwarze Pferdekutsche mit goldenen Ornamenten, auf der ein blumendekorierter Sarg durch das gläserne Innere zu erkennen war. Der Kutscher trug Zylinder. Alles wirkte wie eine Szene aus längst vergangener Zeit, „eingepflanzt“ in die postmoderne Gegenwart.
eine schwarze Pferdekutsche mit goldenen Ornamenten, darauf ein blumendekorierter Sarg
Später erfuhr ich, dass christliche Sinti- und Roma-Beerdigungen in diesem Stadtviertel häufiger stattfinden. Auf einem Friedhof in der Nähe werden die Toten dieser Gemeinschaft in opulenten und sehr aufwendig geschmückten Gräbern bestattet. Mein Interesse war geweckt, eine gewisse Bewunderung für diese gesellschaftliche Minderheit in ihrem besonderen Umgang mit Abschied stellte sich bei mir ein, weil es sich bei der beobachteten Szene eben nicht um einen „stillen Abgang“ handelte, wie er hier und heute meist üblich geworden ist.
Die Szene ließ mich nicht mehr los. Ich wollte mehr wissen. Im Laufe der Zeit beobachtete ich anfangs zufällig, dann bewusster noch viele ähnliche Situationen und hatte so das Glück, mit der Kultur der Sinti und Roma in Berührung zu kommen. Auch die Publikation eines Heftes für den Religionsunterricht der Jahrgangsstufe 9/10, in der es um den Umgang mit „Sterben, Tod und Trauer“ in unterschiedlichen Religionen und Kulturen ging, bot für mich eine gute Gelegenheit, meine Recherchen zu vertiefen. So führte ich ein Interview mit dem örtlichen Pfarrer, der die meisten Beerdigungen der im Rheinland ansässigen Sinti und Roma übernahm, ein weiteres mit der Leiterin des (meist) zuständigen Bestattungsunternehmens und – endlich – nach vielen langfristigen Bemühungen mit einem Vertreter der Sinti und Roma selbst, Herrn Jurek Biela. Der direkte Kontakt war mir sehr wichtig, schließlich wollte ich nicht nur über die Sinti und Roma reden, sondern vor allem mit ihnen.
nicht nur über die Sinti und Roma reden, sondern mit ihnen
Im Zuge all dieser Begegnungen erwies sich ein Themenkreis als besonders präsent, nämlich der um „Solidarität“ und „Gemeinschaftlichkeit“ im Angesicht der Bewältigung von krisenhaften Ereignissen, zu denen der Verlust von Familienmitgliedern zweifellos gehört. Am Anfang des Interviews mit Herrn Biela fragte ich, was seiner Meinung nach das Besondere im Umgang der Sinti und Roma mit dem Ende des Lebens ausmache. Daraufhin antwortete er, dass in der Phase des Sterbeprozesses und der Beerdigung, aber auch in der Zeit danach, der besonders starke Familienzusammenhalt eine große Rolle spiele. Es sei undenkbar, dass Sterbende und Trauernde alleine gelassen würden. Auch im Falle von Krankheit seien alle da, ob zu Hause oder im Krankenhaus. Die:der Verstorbene werde keinesfalls aus den Augen gelassen, gemeinsam gewaschen und für den Sarg hergerichtet. Die Garderobe hierfür werde komplett neuangeschafft, es gebe Grabbeigaben wie Kulturbeutel, Goldschmuck und Geld, damit sie:er für das Leben nach dem Tod gut gerüstet bzw. bestens versorgt sei.
undenkbar, dass Sterbende und Trauernde alleine gelassen würden
Wichtig sei auch, dass die Kernfamilie der:des Verstorbenen entlastet werde, weswegen sich die weitere Familie um die Beerdigungsorganisation kümmere, alle anderen hielten Totenwache. Die Verstorbenen würden drei Tage aufgebahrt, alle Spiegel abgehängt, Kerzen müssten brennen, weil „die Seele ins Licht finden“ solle. Bei der anschließenden Beerdigung handele es sich um ein aufwändig gestaltetes und bewusst inszeniertes Großereignis. Beispielsweise treten Sänger:innen am Grab auf. Auf jeden Fall müssten die Kirchenglocken läuten, Weihrauch eingesetzt werden. Bei all dem es ginge es darum, die Toten noch einmal zu ehren und zu zeigen, wie besonders und wichtig sie für die Gemeinschaft gewesen sind. Deshalb existierten auch die besonders aufwendig geschmückten und sehr individuelle Gräber, die Ausdruck der Persönlichkeit der:des jeweiligen Verstorbenen sind. Diese sollten für immer an die betreffende Person erinnern. Herr Biela betonte, dass die Grabstätten nicht aufgelöst würden, sie müssten bestehen bleiben und weiterfinanziert werden. Wenn die Familie die Summe nicht aufbringen könne, würden Spenden über die Solidargemeinschaft eingeholt.
Zu Allerheiligen würden dann alle auf dem Friedhof zusammenkommen, um gemeinsam an den Gräbern Totenmahl zu halten und der Verstorbenen zu gedenken. Die Lebenden und die Toten gehörten einfach zusammen. Zudem sei es selbstverständlich, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Tod und Trauer würden als normale, zum Leben dazugehörige Übergangsprozesse akzeptiert, Sterbende und auch Trauernde von allen Seiten unterstützt. Als äußeres Zeichen gelten schwarze Kleidung oder ein schwarzes Band um den Arm, welches mindestens bis zum Sechswochenamt getragen werde, so dass jeder sehen könne, dass diese Person in Trauer ist und entsprechend Rücksicht genommen werden könne.
äußere Zeichen von Übergangsprozessen
Herr Bielas Worte stimmen mich immer noch nachdenklich, vor allem, weil ich gerade selber den schmerzlichen Verlust eines nahen Angehörigen verarbeiten muss und nicht immer Solidarität im Prozess des Abschieds und der Trauer erfahren habe. So trauten sich manche Freund:innen nicht, mich nach dem Tod meines Vaters anzurufen und mit mir zu sprechen. Die Furcht vor einer Konfrontation mit dem Tabuthema Tod war offenbar zu groß. Viele scheinen zu erwarten, dass ich schnell wieder „die Alte“ bin und möglichst bald wieder „funktioniere“. Mein Bedürfnis, über Auferstehungshoffnung sprechen zu wollen, trifft bestenfalls auf Erstaunen. Indes wurde mir aus Gesprächen mit anderen Trauernden deutlich, dass diese Reaktionen kein Einzelfall sind. Ich frage mich, wie es zu dieser gesellschaftlichen „Erkaltung“ gekommen ist: Warum mangelt es in unserer gegenwärtigen Lebenswelt, unter anderem auch bei praktizierenden Christ:innen, offenbar oftmals an Empathie mit Sterbenden und Trauernden, wo diese doch gerade in Krisensituationen so wichtig ist?
Gerade eine christliche Perspektive basiert doch auf der Annahme, dass das eigene Wohl bedingt ist durch das der Nächsten und letztlich die Liebe und Achtsamkeit, die der Schöpfung und den Geschöpfen entgegengebracht wird, als Ausdruck von Liebe und Achtsamkeit dem Schöpfer gegenüber zu werten ist.[1] Zudem geht empathisches Empfinden Hand in Hand mit dem Paradigma der Compassion, der tätigen Mitleidenschaft mit anderen. Schließlich galt auch Jesu Blick vor allem dem Leid der Menschen (vgl. Lev 19). Sein Hinweis basiert auf der christlichen Perspektive, nach der Gott sich besonders dort offenbart, wo ein Sich-Anrühren-Lassen vom Leid anderer geschieht und Compassion im Sinne von Mitleidenschaft für andere aktiv gelebt wird, beispielsweise im solidarischen Handeln mit Sterbenden und Trauernden.
ein Sich-Anrühren-Lassen vom Leid anderer: solidarisches Handeln mit Sterbenden und Trauernden
Was bei den Sinti und Roma sicherlich beeindruckt, ist der offene Umgang mit Abschied und Trauer, vor allem aber auch die besondere Zugewandtheit zu sterbenden und trauernden Menschen, zu der vor allem ein gemeinschaftlich-solidarischer Umgang mit dem Ende des Lebens gehört. Genau hier liegt für mich das inspirierende und nachdenklich stimmende Moment: Sollte die Bewältigung von Abschieds- und Trauererfahrungen generell nicht wieder vielmehr zur Aufgabe einer Solidargemeinschaft werden? Und sollte der Umgang mit dem Ende des Lebens nicht genauso selbstverständlich sein, wie der mit der anfänglichen Geburt?
Sicherlich gibt es in diesem Kontext unterschiedliche Ansätze und Handlungsweisen, die sich im Laufe der Zeit nicht ohne Grund etabliert haben. So wollen sich manche nach dem Verlust eines geliebten Menschen tatsächlich erst einmal lieber zurückziehen. Meines Eindruckes nach treiben die Berührungsängste mit sterbenden und trauernden Menschen mittlerweile jedoch manch merkwürdig Blüte, wenn viele tunlichst jegliche Auseinandersetzung mit Tod und Trauer vermeiden möchten.
Aber auch die offenbar selbstverständliche Auferstehungshoffnung vieler Sinti und Roma kann zu denken geben: Auf meine Frage während des Interviews, inwiefern diese eine Rolle in ihrer Gemeinschaft spiele, antwortete Herr Biela ohne zu zögern: „Ja, selbstverständlich ist uns dies wichtig! Wir sind doch Christen!“ Der offene Umgang mit der letzten Lebensphase, vor allem auch der besondere Zusammenhalt, bergen meiner Meinung nach das Potential des Modellhaften, auch wenn es nicht einfach möglich oder wünschenswert ist, Verhaltensmuster lediglich zu kopieren. Vielmehr sind Reflexion und Gestaltungskraft gefragt, so dass neue Perspektiven entwickelt werden können, um wieder zu einem „wärmeren“ Umgang mit Krisen- und Todeserfahrungen zu finden und mehr Solidarität mit Sterbenden und Trauernden zu pflegen, in dem sowohl Individualität als auch Gemeinschaft Platz finden.
[1] Vgl. Knauth, Thorsten / Tatari, Muna: Lernen aus „Vergegnung“. Überlegungen zu einem reflektierten Umgang mit der Begegnungs-Kategorie im christlich-islamischen Dialog, in: Bitzer, Christoph u.a. (Hg.): Lernen durch Begegnung (JRP 21), Neukirchen-Vluyn 2005, 59-68, 60.
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Bilder und Text: Dr. Maike Maria Domsel ist Lehrerin am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Bonn und Dozentin für Religionspädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Daneben arbeitet sie an der Universität Bonn an einem Habilitationsprojekt zur Spiritualität von Religionslehrkräften.
Lektürehinweis: Domsel, Maike M., Leben bis zuletzt – Eine freiheitstheoretische Fundierung christlicher Sterbebegleitung, Stuttgart 2019, Kohlhammer Verlag.