Die Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche zeichnet Hans-Walter Ruckenbauer in Entwicklungsschritten nach und fragt nach dessen Impulsen für gesellschaftliche Fragen der Gegenwart.
Im Mai 1884 schreibt Friedrich Nietzsche aus Venedig an seinen Freund Franz Overbeck in Basel über belastende Verstrickungen in der Beziehung zu Mutter und Schwester. Im selben Brief schildert er auch die leibliche Ergriffenheit von seiner Denk- und Lebensaufgabe, dass nämlich „die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen“. Im Zitat der Glaubensfrage aus der Fröhlichen Wissenschaft (Nr. 269) vollzieht der Autor beider Texte die Selbstanwendung. Die geforderte neue Gewichtung betrifft alle Lebensvollzüge. Welche Fragen bedeutsam sind, muss von neuem justiert werden. Die Dringlichkeit dieses Imperativs lässt sich leichter Hand auf die Gegenwart übertragen und durch den Konsum sozialer und klassisch-informativer Medien verstärken.
„Anfrage an imperiale Lebensstile“
Was es nicht alles neu zu bestimmen gelte! Allem voran unsere imperialen Lebensstile in den Gesellschaften der Externalisierungsgewinner*innen, die den Planeten Erde sozial und ökologisch an den Rand des Abgrunds gebracht haben. Dann kommt noch die Sache mit dem Stil des politischen Wettbewerbs. Und schließlich fehlt es an Achtsamkeit im Alltag. Nietzsche taugt hierin als Impulsgeber für einen Perspektivenwechsel. Woran das liegt, kann wahlweise am unakademisch-brillanten Stil seiner Texte, an der fehlenden Systematik des Werkes oder am Mut zu extremen Gedankenexperimenten festgemacht werden. Für fast jedes beliebige Motiv wird sich ein Zitat finden lassen. In der Gestalt eines „Du-musst-dein-Leben-ändern“-Propheten samt imperativischer Weisheiten nervt allerdings sogar Nietzsche.
„Leiden an einer um sich greifenden Steigerungslogik“
Wer nur die große Pauke Pathos bedient, vergisst häufig die Distanzierung. Freilich drängen Nietzsches hellsichtige Zeitdiagosen zur schnellen Liaison an Stelle eines bedachten Intermezzos. Wenn er beispielsweise im 329. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft über „Musse und Müssiggang“ räsoniert, skizziert er das Bild eines hektischen Subjekts, das in der ständigen Anspannung lebt, etwas zu versäumen. Den Grund dafür findet er in einer um sich greifenden Steigerungslogik: „Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben“. Nietzsches Analyse fügt sich nahtlos in die Ahnengalerie der Kritik an Beschleunigungsprozessen. Auf dem Boden steter Dynamisierung individueller und gesellschaftlicher Vollzüge gedeihen Überforderung und Entfremdung. Das Unbehagen damit wird in Bildern der Erschöpfung und Müdigkeit beschrieben. Die These vom „erschöpften Selbst“ des Soziologen Alain Ehrenberg prägt den gegenwärtigen Diskurs ebenso nachhaltig wie die einschlägigen kulturtheoretischen Arbeiten von Paul Virilio, Hartmut Rosa und Byung-Chul Han.
„Aus Echolosigkeit wird Faszination.“
Als Stichwortgeber liefert Nietzsche dafür einprägsame Formulierungen. Man bedient sich gern beim waghalsigen Wortakrobaten, schrittsicheren Sprachtänzer und versierten Begriffsjongleur. Unzeitgemäßes und Leichtfüßiges hat er in Texte gepackt, ein Kamel damit beladen und in die Welt geschickt. Nietzsche 2.0 ist die Zeit der breit gefächerten Rezeption seines Schrifttums ab dem Niedergang seines Geistes in die dementielle Umnachtung. In schicksalhaftem Kontrast zur weitgehenden Echolosigkeit davor erfasste seine Ausstrahlung alsbald Kulturschaffende aller Disziplinen und Herkünfte. Person und Werk Nietzsches faszinierten oder stießen ab, wurden auf mannigfache Weise ge- und missbraucht. So wuchs die Last, die dem Kamel von anderen aufgebürdet wurde. Dieser „tragsamen“ Phase entspricht, dass zuletzt auch die Verstrickung von Nietzsches Wirkung in die Faschismen und den Rassenwahn des 20. Jahrhunderts zu schultern war.
„Nietzsche zwischen vielen Erwartungen.“
Das Gleichnis vom Kamel entstammt der ersten Rede Zarathustras aus Nietzsches musikalischstem Buch. Der Text aus Also sprach Zarathustra handelt von den drei Verwandlungen des Geistes: „wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe“. Die anschauliche Parabel der ideen- und wohl auch individualgeschichtlichen Entwicklung des menschlichen Geistes mag hier den Umgang mit dem Werk des Philosophen verdeutlichen. Die veröffentlichten Schriften werden zunächst zum Trägermedium von Erwartungen und Positionen, Ängsten und Hoffnungen, Idealen und Projektionen ihrer Rezipient*innen; sie beflügeln die Kreativität der einen und legitimieren die Grausamkeit der anderen.
„Nietzsche 3.0 kratzt an der Patina.“
Die Löwen-Zeit beginnt mit der kritischen Ausgabe der Schriften, nachgelassenen Notizen und Briefe Nietzsches in den 1960er Jahren. Die philosophische Wiederkehr der Texte in allen ihren Verschachtelungen ermöglicht die wissenschaftliche Entdeckung der Experimentalphilosophien aus dem Hause Nietzsche 3.0 und schickt nach und nach Kamel für Kamel, Vorurteil und Überfrachtung, in die Wüste. Die Kraft des Löwen reißt Verzerrungen und Willkür gängiger Lesarten nieder und schafft sich einen neuen interpretatorischen Freiraum. Zarathustras Rede macht dies am Wechsel vom „Du sollst“ zum „Ich will“ fest. Darin klingt das existenzialistische Stadium des Menschen in der Revolte an. Die intendierte Freiheit bestimmt sich allerdings immer noch von dem her, was sie verneint. Die Arbeit am Text kratzt an der Patina und den Überschreibungen.
„Nietzsche 4.0 führt in Gegenwartsdiskurse.“
In der Entwicklung des Geistes führt die dritte Verwandlung, die Nietzsche seinen Zarathustra im Bild des Kindes erläutern lässt, zu einer Lebensbejahung jenseits von Gut und Böse und realisiert „ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen“. Nietzsche 4.0 hieße für seine Wirkungsgeschichte: Fruchtbarkeit in den Diskursen der Gegenwart zu entfalten und gerade dadurch alternative Abwägungen zu ermöglichen. Patentrezepte gegen die Krankheiten des globalen und kapitalistisch formatierten Ordnungssystems wird sich niemand ernsthaft erwarten. Zur Funktionsweise von Wahrheitsregimes lässt sich von Nietzsche allerdings einiges lernen; ebenso hat er Machtverhältnisse und Subjektivierungsformen unter moralischen Vorzeichen ausgiebig analysiert.
„Am Leitfaden des Leibes philosophieren“
Die Frage nach dem Menschen beschäftigt auch diesseits der verfänglichen Übermensch-Diktion in unterschiedlichen bioethischen Kontexten. Konkret könnte das beispielsweise für eine demenzsensible Anthropologie bedeuten, Nietzsches Idee, am „Leitfaden des Leibes“ zu philosophieren, auf Bewusstseinsphänomene hin durchzubuchstabieren. Nietzsches Denkfigur der großen Vernunft des Leibes erhält nämlich die Tatherrschaft sogar im Erinnern und Vergessen bei aller Flüssigkeit von Form und Sinn. Aus einer solchen Verlagerung der Gewichtung entstehen nicht nur angemessene Empowerment-Strategien für Menschen mit Demenz. Die Fokussierung auf die Leiblichkeit menschlicher Existenz greift bereits vor jeder Erkrankung.
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Autor: Hans-Walter Ruckenbauer arbeitet am Institut für Philosophie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Graz und koordiniert das interfakultäre Masterstudium Angewandte Ethik.
Foto: Bildausschnitt Nietzsche Denkmal von Heinrich Apel in Naumburg; Quelle: Eandré / commons.wikimedia.org