Heute vor 180 Jahren wurde Friedrich Nietzsche geboren. Rainer Bucher rekonstruiert in einem persönlichen Rückblick, warum es sich für Christ:innen lohnt, Nietzsche zu lesen – und warum es für Theolog:innen eigentlich Pflicht ist.
Im Frühjahr 1983 suchte ich ein Promotionsthema. Herman Schell, der Würzburger „Modernist“, mit dem ich mich vorher beschäftigt hatte, war der erste Theologe gewesen, der eine Vorlesung zu Nietzsche gehalten hatte und dies mit durchaus konstruktivem Zugang. So kam ich auf Nietzsche. Ich las Karl Schlechtas dreibändige Dünndruckausgabe. Sie ist heute wissenschaftlich nicht mehr satisfaktionsfähig, aber hatte bereits das angebliche Hauptwerk Nietzsches, den „Willen zur Macht“, als tendenziöse Kompilation erkannt und in Nachlassfragmente aufgelöst.
Bald stellte sich ein, was sich fast immer einstellt, wenn man die Originaltexte von Klassikern liest – sie sind ziemlich anders als deren Image: statt herrenmenschliches „Übermensch“-Gerede luzide Machtkritik, statt Nihilismuspropaganda hellsichtige Nihilismusprognosen, statt des „Hochmuts“ der Moderne post-konservative Subjekt- und Modernekritik. Ich entdeckte einen wirklich „freien Geist“, der in blendend formulierten Aphorismen denkt.
„Ich wohn in meinem eigenen Haus
hab Niemanden nie nichts nachgemacht
Und – lachte noch jeden Meister aus
Der nicht sich selber ausgelacht.“ [1]
Natürlich sind da auch Stellen, die alle Vorurteile zu bestätigen scheinen. Vor allem wenn Nietzsche von der Kultur-, Sprach-, Religions- , Moral- und Erkenntniskritik zu Zielkonzepten übergeht, wird es heikel. Die Sehnsucht nach dem heroischen Individuum etwa, das alles Mitleid als Schwäche von sich weist, ist nicht leicht erträglich.
Aber schon Nietzsches Christentumskritik muss man gelesen haben. Im Sommer 1887 bittet der 42-jährige, bereits seit acht Jahren emeritierte Basler Philologieprofessor Nietzsche einen seiner wenigen verbliebenen Freunde, den Basler Theologen Franz Overbeck, ihm doch ein gewisses Tertullian-Zitat zu besorgen. Es müsse in einem Text des Kirchenlehrers mit dem Titel „Über die Schauspiele“ stehen. Tertullian, und Nietzsche zitiert ihn mit Genuss, weist dort seine vergnügungswilligen Mitchrist:innen darauf hin, dass für sie doch „noch ganz andere Schauspiele“ kommen würden: „Der Tag des letzten und endgültigen Gerichts“. „Worüber werde ich da lachen? Worüber mich freuen? Worüber frohlocken?“[2], fragt sich Tertullian. Die Antwort: Es sind die Qualen der Heiden im Höllenfeuer[3] „Per fidem – so steht’s geschrieben“[4], schließt Nietzsche schließlich den Aphorismus seiner „Genealogie der Moral“, der das prompt gelieferte Tertullian-Zitat verarbeitet. Perfide ist es ja auch, was Nietzsche da ausgegraben hat aus der Frühgeschichte des Christentums.
„…im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz.“ [5]
Und Nietzsche legt nach. Nicht nur in der Frühzeit des Christentums, auch bei Thomas von Aquin ist er fündig geworden, genauer im Sentenzenkommentar des Thomas, wo Nietzsche den schaurigen Satz entdeckt: „Die Seligen im Himmelreich werden die Strafen der Verdammten sehen, damit ihnen die Glückseligkeit umso mehr gefalle.“[6] Das sind echte Belegstücke für Nietzsches These, über dem Paradiesestor würde statt „Ewiger Seligkeit“ „mit besserem Rechte … die Inschrift stehen … ‚auch mich schuf der ewige Hass‘“[7].
Für Nietzsche war und blieb das real existierende Christentum eine Religion des Ressentiments, der Rache, des Sich-Weidens am Leiden der anderen. Nietzsche nimmt von diesem Verdikt nur einen aus, für ihn gab es „nur Einen Christen, und der starb am Kreuz“, und alles, was „von diesem Augenblick an ´Evangelium´ heisst“, war ihm schlicht und furchtbar „der Gegensatz dessen, was er gelebt hat.“[8]
Und Nietzsche hat ja Recht. Es gibt tatsächlich kaum etwas Schlimmeres, als aus dem Ressentiment und der Rache eine Religion zu machen. Das geschah und geschieht immer wieder. Ob das konkrete Christentum solch eine ressentimentgeladene Macht-Religion ist, dieser selbstkritische Frage müssen sich Christ:innen stellen. In Zeiten, da der Machtmissbrauch in der katholischen Kirche immer sichtbarer wird, weil sie die Macht, diesen Missbrauch zu verschleiern, Gott sei Dank verliert, gilt das ganz besonders.
„…bloss die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich… Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein.“ [9]
Doch nicht allein die Christentumskritik machte Nietzsche lesenswert. Da ist noch seine Metaphysikkritik, die weit vorausweist auf den linguistic turn des 20. Jahrhunderts. Nietzsche macht die Grammatik für die ebenso falsche wie unvermeidliche Verdinglichung der Welt des permanenten Werdens verantwortlich. Insofern das (grammatische) „Subjekt … die Terminologie unseres Glaubens an eine Einheit (ist)“, so Nietzsche, glauben wir „an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die ‚Wahrheit‘, die ‚Wirklichkeit‘, ‚Substanzilität‘ überhaupt imaginieren“. Der „Substanzbegriff“ sei daher eine „Folge des Subjektbegriffs“[10].
Stecke man aber erst einmal in dieser Substanzialisierungsfalle, so komme es notwendig auch zur Herausbildung einer dualistischen Metaphysik, die „zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt“.[11] Der von Nietzsche bis ins Ontologische gezogene erkenntnistheoretische Perspektivismus „vermöge dessen jedes Kraftcentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus die ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet…“ [12] relativiert ohne in Relativismus zu verfallen.
Und dann sind da Nietzsches luzide Beobachtungen der modernen Kultur. Nietzsche will nicht, wie der Konservativismus, Vergangenes zurückhaben, sondern seiner Gegenwart klar machen, wie viel vom alten Denken noch in ihr steckt. Dieser selbstkritische Reflexionsschub weist voraus auf das, was dann „Postmoderne“ genannt werden wird. Nietzsche hat die Moderne als einer der ersten ihres quasi-theologischen Heiligenscheins beraubt und beschrieben, was wir eben erleben.
„Ehrliche Bücher machen den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Hass und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte Klugheit sonst am besten zu verstecken weiss.“ [13]
Nietzsches experimentelles, multiperspektivisches, bisweilen mit sich und anderen schonungsloses Denken ist ein Vergnügen, wenn man es neugierig und mit heiterer Gelassenheit liest. Wie einsteigen? Wohl am günstigsten mit den Aphorismenwerken der „freigeistigen Zeit“, also Menschliches, Allzumenschliches oder der Fröhlichen Wissenschaft. Dann ist man vorbereitet auf die hitzigen, scharfen Spätschriften (Nietzsche contra Wagner, Der Antichrist, Ecce homo u.a.) und vielleicht sogar auf den ein wenig arg pathetischen Zarathustra.
Niemand hat den „Tod Gottes“, also das Ende der Selbstverständlichkeit des Religiösen und der religiösen Selbstverständlichkeiten so radikal durchdacht wie Nietzsche. Allein das macht Nietzsche zur Pflichtlektüre für Theolog:innen. Seine Kulturkritik hilft zu verstehen, was um uns gerade vor sich geht, seine Christentumskritik bietet harte Gewissenserforschung und seine Erkenntniskritik „dekonstruiert“, wie man heute wohl sagen würde, die Naivitäten einer über sich selbst unaufgeklärten Moderne und lehrt das Freie, das Fluide als Existenz- und Denkform.
Fast auf jeder Seite bei Nietzsche finden sich überraschende, stupende Einsichten, aber natürlich auch Überlegungen, die „Widerwillen herauslocken“, und allein das bei sich zu beobachten ist von höchstem Wert für die intellektuelle Selbsterkenntnis. Man kann Nietzsche eigentlich nicht unkritisch lesen; wenn man es trotzdem tut, wie oft zu Beginn seiner Rezeption, wird es unerträglich. Das hat er mit der Bibel oder seinen ebenfalls einflussreichen Zeitgenossen Wagner und Marx[14] gemeinsam.
„Nur Schritt für Schritt – das ist kein Leben
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hiess den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln Schweben, –
Nach Süden flog ich über’s Meer.“ [15]
Im Sommer 1986, nach einigen Jahren Beschäftigung mit Nietzsche, stand ich an seinem Grab in Röcken bei Lützen. Da lag ein schonungsloser Denker und brillanter Sprachkünstler, einer, der sich nach der großen Leichtigkeit sehnte und doch eine große Lebenslast tragen musste, der weder mit den Frauen und noch nicht einmal mit seiner Professur zurechtkam, einer, der den Süden so sehr liebte und doch nie wirklich dort ankam.
Und jetzt lag er in Deutschlands Mitte, umzingelt von allem, was er eher nicht mochte: an einer Kirchenmauer, neben seiner Schwester, die ihn zum Vorläufer des Nationalsozialismus stilisiert und redigiert hatte und auf – damals noch – sozialistischem Boden.
In unsicheren Zeiten soll man Denker lesen, die Unsicherheit denken.
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Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Lesehinweis: Philipp Felsch, Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung, München 2022. Es geht zwar „nur“ darum, wie es zur Historisch-Kritischen Nietzscheausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari kam. Aber das war ein politisches, intellektuelles und persönliches Abenteuer. Und das Buch ist brillant geschrieben.
[1] Motto der „Fröhlichen Wissenschaft“ (Ausgabe von 1887) (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli/M. Montinari, (KSA) Bd. 3, München 2. Aufl. 1988, 343).
[2] KSA 5, 284.
[3] KSA, 5, 284f.
[4] KSA, 5, 285.
[5] KSA 6, 211
[6] KSA, 5, 284.
[7] KSA, 5, 283f
[8] KSA, 6, 211. Vgl. dazu R. Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott, Frankfurt/M. u.a., 2. Aufl. 1993, 133-153.
[9] KSA 6, 211. Auslassungszeichen im Original.
[10] KSA XII, 465.
[11] KSA 10, 342.
[12] KSA 13, 373. Auslassungszeichen im Original.
[13] KSA 2, 439.
[14] H. Münkler, Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch, Berlin 2023.
[15] KSA 3, 641.