Niklaus von Flüe ist kein einfacher Heiliger. Li Hangartner erzählt, was der vor 75 Jahren heiliggesprochene Mann vom Ranft ihr von Kindheit an bedeutet und zu denken gibt.
Ich war fünf Jahre alt, als ich das erste Mal an der Hand meines Vaters den steilen Weg ins Flüeli Ranft hinunter trippelte. Unter uns liegt die Kapelle mit dem Holzanbau, in dem Bruder Klaus 25 Jahre als Einsiedler gelebt hat. Wir steigen die steile Treppe in der Zelle hoch, die zum Schlafraum führt, von wo Bruder Klaus durch eine Öffnung in die Kapelle blicken konnte, durch eine andere sah er nach draussen. Ich sehe die Bank vor mir, auf der er geschlafen hat, den Stein, der ihm als Kopfkissen diente. Als Kind bin ich gern in die Ranftschlucht gegangen. Der Ort hat mich angezogen.
Er bedeutete meinem Vater viel.
Mehr wusste ich damals nicht über diesen eigenartigen Mann, nur soviel, dass er meinem Vater viel bedeutete. Warum, das blieb mir damals verschlossen – und ist auch heute noch so. Fragen kann ich ihn nicht mehr, er ist im selben Altersjahr gestorben, in dem ich heute bin.
Mein Vater hat Ahnenforschung betrieben, minutiös hat er die Stammbäume der Familie recherchiert und in Büchern zusammengetragen. In seinen Nachforschungen, die bis weit ins Mittelalter zurückgingen, fand er eine Spur, die von seiner Familie zurück zu Bruder Klaus führte. Es bedeutete ihm etwas, von Bruder Klaus ‘abzustammen’. Aufgewachsen ist er in Kerns, als einziges Kind seiner Eltern, die einen Kolonialwarenladen führten, die meisten seiner Onkel und Tanten sind in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in die USA ausgewandert und dort sesshaft geworden. Unsere einzige Verbindung zu seiner Familie war die Teilnahme am Gottesdienst am 1. November in Kerns und der Besuch am Grab seiner Eltern. Von Brunnen aus führt der schnellste Weg ins Flüeli-Ranft mit der Fähre von Gersau nach Beckenried und von dort über Kerns nach Sachseln. All diese Bilder aus meiner Kindheit vermischen sich.
Bauer, Offizier, Ratsmitglied, Friedensstifter
Niklaus von Flüe, 1417 in Obwalden geboren, wohlhabender Bauer, nahm als Offizier an verschiedenen Feldzügen der Eidgenossen teil; er war verheiratet mit Dorothea Wyss, Vater von fünf Buben und fünf Mädchen. Er war angesehenes Ratsmitglied in Obwalden und Richter. Aufgrund von politischer Korruption und parteiischer Rechtsprechung zur damaligen Zeit legte er alle Ämter nieder und entschied sich im selben Jahr, inzwischen 50 Jahre alt, Frau, Familie und Hof zu verlassen, um das ‘einig Wesen’ zu suchen. Mit Zustimmung von Dorothea zog er sich unweit seines Hofes in den Ranft zurück. Er wurde zum Seelsorger für viele, zum Ratgeber und Friedensstifter in der zerstrittenen Eidgenossenschaft. Das berühmteste Beispiel ist das Stanser Verkommnis 1481.
Friedensstifter
Auch wenn es nicht erwiesen ist, dass Bruder Klaus an der Tagsatzung in Stans vor Weihnachten dabei war, so scheint das Stanser Verkommnis durch seine Botschaft zustande gekommen zu sein. Hintergrund waren unter anderem die Burgunderkriege 1474 und 1477, die bei den Eidgenossen interne Streitigkeiten lösten. Eine Einigung schien in weiter Ferne, ja, es drohte sogar ein «kalter» Krieg. Neue Abkommen mussten getroffen werden. In der Folge wurden Freiburg und Solothurn, die an der Seite der Eidgenossen gekämpft hatten, in den Bund aufgenommen und Sonderbündnisse zu Gunsten von Gleichberechtigung aufgehoben. Der Friede war geschlossen und Bruder Klaus galt seither als Friedensstifter. Er war inzwischen in weiten Teilen Europas bekannt und wurde in verschiedenen politischen und kirchlichen Angelegenheiten um Rat gefragt.
Niklaus von Flüe starb 1487 in Gegenwart von Dorothea. Er wurde mit seinem Tod als Heiliger verehrt und erst 460 Jahre später, 1947, heiliggesprochen. Ein langer Weg bis zum offiziellen Kirchenheiligen!
Heiligsprechungen sind unterschiedlich aufwändig
Dass es bei Bruder Klaus über 400 Jahre gedauert hat, hat nicht nur mit den politischen Wirren der damaligen Zeit zu tun. Schuld an der Verschleppung des ganzen Kanonisierungsprozesses waren nicht nur Formfehler und fehlendes Geld für die Prozessführung. Der einfache Bauer und verheiratete Laie Bruder Klaus hatte keinen fürstlichen Hof und keine Kardinäle als Fürsprecher. Die katholische Kirche tat sich schwer mit dem Obwaldner Bauern, dem Laien, der seinem erfolgreichen Leben in Familie und Gesellschaft nach 50 Jahren den Rücken kehrte; der Frau und Kinder, Hof und Ämter zurückliess, um ein karges Leben als Gottsucher zu führen. In ihrer Bittschrift an den Papst um Heiligsprechung von Bruder Klaus 1869 sahen die Bischöfe eine wichtige Etappe zur konfessionellen Wiedervereinigung der Eidgenossenschaft.[1]
Erbe von Bruder Klaus
Für PatriotInnen ist Bruder Klaus der Nationalheilige, der die Schweiz vor Krieg und Verwüstung bewahrt hat, für Freigeister ein Beispiel der inneren Unabhängigkeit und der Gottsuche abseits dogmatischer Theologie. Während die konservativ Frommen die Ranftkapelle für sich beanspruchten, wurde das Flüeli zum Zentrum der Schweizer Asylbewegung. Im Internationalen Jahr des Friedens 1981 entstand das «Friedensdorf», gegründet von den kirchlichen Jugendverbänden Blauring und Jungwacht und den Dorothea Schwestern. Ich nahm an einigen Anlässen im Friedensdorf teil.
Das Friedensdorf nahm kurdische Familien mit Kindern auf.
In wacher Erinnerung geblieben sind mir die Solidaritätsveranstaltungen mit den kurdischen Flüchtlingen 1991, als das Friedensdorf kurdische Familien mit Kindern aufnahm, die einen negativen Asylentscheid erhalten hatten. Mit einem Hungerstreik protestierten sie gegen ihre Ausschaffung, und wurden dabei von der Solidaritätsgruppe Flüeli-Ranft unterstützt. Später mussten sie untertauchen und wurden in Klöstern und christlichen Bildungshäusern versteckt, so auch im RomeroHaus. Dass die Geschichte für die kurdischen Familien mit Verhaftung und Ausschaffung endete, war ein grosser Rückschlag für die Friedensbewegung.
Das Meditationsbild vom Rad
Auch das lehrt mich Niklaus von Flüe: dass man die Schaffung des Friedens nicht der Politik überlassen kann. Frieden muss erforscht und im Alltag eingeübt werden. Was im Inneren geschieht und was in der äusseren Welt geschieht, hängt zusammen. Spirituelle Kraft kann helfen, Konflikte auszutragen und gegen Ungerechtigkeiten einzutreten. Dieses Verständnis eröffnete mir den Zugang zum mittelalterlichen Meditationsbild vom Rad, das die spirituelle Entwicklung des Niklaus von Flüe entscheidend geprägt hat. Diesem Bild, auch als Sachsler Meditationstuch bekannt, liegt die Skizze eines Rades zugrunde, in der Mitte ein Punkt, umgeben von einem inneren und einem äusseren Kreis, die beiden Kreise verbunden mit sechs Strahlen.
«Das ist mein Buch, darin ich lern und suche die Kunst dieser Lehre.»
Das Radbild wurde 1487 von einem unbekannten Pilger als das Rad des Bruder Klaus von Flüe veröffentlicht mit folgender Erklärung von Bruder Klaus selbst: «Das ist mein Buch, darin ich lern und suche die Kunst dieser Lehre». Bruder Klaus nannte das Rad die Figur, in der er das Wesen Gottes betrachtete: «Im mittelsten Punkt ist die ungeteilte Gottheit. Wie die drei Strahlen gehen die drei Personen von der einen Gottheit aus und haben umgriffen den Himmel und die ganze Welt.» Grosse Bekanntheit erlangte das Meditationstuch dadurch, dass es von den Schweizer Hilfswerken Fastenopfer und Brot für alle und von Misereor als Hungertuchmotiv verwendet wurde.
Bruder Klaus – nicht mein Heiliger
Auch wenn ich mit Bruder Klaus ’aufgewachsen’ bin, war er nicht mein Heiliger. Aber ich konnte ihn nicht übersehen, weil Menschen, die mir viel bedeutet haben, ihn nicht übersehen haben. Sie haben Niklaus von der Flüe verehrt, den Ort gepflegt, an dem er gelebt hat. Sie haben seine Geschichten gesammelt und weitererzählt. Das macht es mir schwer, nur als Staatsanwältin gegen diesen Heiligen und seine Tradition aufzutreten. Vieles an ihm bleibt mir fremd. Aber vielleicht lerne ich gerade da, wo mir der Heilige fremd ist und mir in seiner Fremdheit in den Weg tritt. Seine Art macht mich zwiespältig meiner Art und meiner Auffassung von Leben und Glauben gegenüber. So habe ich auch sein Lied mitgesungen, an das ich meine feministischen Anfragen hatte: «Mein Herr und mein Gott, o nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.» Das hat man den Frauen schon immer empfohlen.
Die Frau, die mir die grössten Fragen stellt: Dorothea.
Ich kann diese Geschichte nicht schliessen, ohne an die Frau zu erinnern, die mir die grössten Fragen stellt: Dorothea. 700 Meter von ihr und der Familie entfernt hat Niklaus seinen Gott gesucht, mit ihm gerungen, zu ihm gebetet, die Nächte gewacht. Seine Kinder, Haus und Hof hat er Dorothea überlassen. Welcher Gott hat ihm befohlen, seine Welt zu vergessen, die nur einen halben Kilometer von seiner Klause entfernt existierte? Warum hat Dorothea dieser Entscheidung zugestimmt? Die eigentliche Lebenslast hat sie getragen, allein mit dem Leben, mit den Kindern. Ich verstehe diese Frau und ihre Entscheidungen nicht. Aber ich kann ihr noch weniger als Staatsanwältin entgegentreten. Ich respektiere sie, aber ich verstehe sie nicht.
Aber muss ich denn alles verstehen?
Wenn ich heute in den Ranft gehe, manchmal von Stans her kommend über grüne Wiesen, an blühenden Bäumen vorbei, im Schatten des Stanserhorns, den leichten Abstieg nehme zur rauschenden Melchaa und dann hinauf steige an der unteren Ranft-Kapelle aus dem frühen 16. Jahrhundert vorbei zur oberen Ranft-Kapelle, dann verbinden sich die Bilder und Gefühle des Kindes mit der erwachsenen Sehnsucht nach Stille und Ruhe des Ortes. Und ich kann verstehen, dass dieser Ort Menschen aus Nah und Fern anzieht, egal, woher sie kommen, welcher Religion oder politischer Gesinnung sie angehören. Befremdlicher als ein Eremit, der Frau und Kinder für Gott verlässt und 25 Jahre lang von nichts lebt als Wasser und der täglichen Eucharistie könnte in der heutigen Zeit eigentlich nichts sein, und doch suchen viele, suche auch ich, seine Nähe.
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Li Hangartner, freischaffende feministische Theologin, von 1989 bis 2008 Leiterin Fachstelle Feministische Theologie Luzern; von 1989 bis 2017 Bildungsverantwortliche im RomeroHaus Luzern
Bild: Caroline Hilari
[1] https://www.kirchenzeitung.ch/article/bruder-klaus-prophet-der-reformation-11190