Die Absage von Weihnachtsgottesdiensten ist nicht nur für diejenigen ein schweres Signal, die diese besuchen wollten. Was wird aus Weihnachten in diesem Jahr? Theologische Überlegungen mit dem Grinch – von Christine Fiedler und Alexander Deeg.
„… he was grinch-ish-ly humming. They’re finding out now that no Christmas is coming!“ – Kein Weihnachten! Der Grinch ist sich sicher: Jetzt wo er die Geschenke, die Christbäume und sogar das Festmahl gestohlen hat, ist es vorbei mit Weihnachten![1]
Was eigentlich nur ein Teil des beliebten Gedichts von Dr. Seuss ist, ist dieses Jahr plötzlich eine reale Sorge. Die Furcht, dieses Jahr kein Weihnachten zu haben, geistert schon seit Wochen durch die Medien, Familien und Kirchen. Erst werden Weihnachtsmärkte abgesagt, nun schließen die Geschäfte, auch für die Feiertage gelten Kontaktbeschränkungen. Die Frage, ob man die Großeltern einlädt, ist plötzlich unglaublich kompliziert. Und die Gottesdienste? Noch steht nicht überall fest, ob und wie Heiligabend und Weihnachten in den Kirchen ein Gottesdienst mit präsenter Gemeinde stattfinden wird. Ob man überhaupt in Präsenz feiern sollte, ist eine noch schwierigere Frage.
Furcht, dieses Jahr kein Weihnachten zu haben
Einerseits ist da die einfache Feststellung, dass es inmitten der immer weiter um sich greifenden tödlichen Pandemie ein „Gebot der Vernunft“[2] ist, „auf Versammlungen von Menschen möglichst zu verzichten, um Menschen nicht zu gefährden.“[3] Es ist einfach: Je weniger Menschen aufeinandertreffen, egal wo, desto geringer ist die Infektionsgefahr.
Andererseits stellt ein Verzicht auf die Weihnachtsgottesdienste einen weiteren großen Einschnitt in die Normalität und die Tradition dar. Gerade an Weihnachten ist bei vielen der Wunsch groß, die Geburt Jesu in der Gemeinde zu feiern. Es ist ebenso ein Teil lieb gewonnener Weihnachtsroutine, wie es ein religiöses Bedürfnis ist. Kein anderer Gottesdienst wird so stark und gerne besucht, wie der am Heiligen Abend.[4] Für Einsame ist es vielleicht die einzige Gemeinschaft und die einzige Feier, an der sie in den Weihnachtstagen wirklich teilhaben können.
Die Erwartungen sind hoch.
Auch für die Kirche sind es daher wichtige Gottesdienste. Die an sie gerichteten Erwartungen sind hoch. Die Kirche will sie (gerade nach der heftigen Diskussion um den ‚Ausfall‘ der präsenten Ostergottesdienste) nicht enttäuschen. Sie will für die Menschen da sein, will sie willkommen heißen! Und ganz sicher scheut man in dieser unsicheren Zeit auch davor zurück, den Menschen noch mehr der so ersehnten Normalität zu nehmen. So sicher wie das Amen in der Kirche – und nun soll auch das noch wegfallen? Ausgerechnet zu Weihnachten? Sollte man nicht versuchen, auf irgendeine Art Gottesdienst zu feiern, die gewohnten Formen versuchen zu wahren, versuchen Weihnachten, wie wir es kennen und lieben, zu retten?
„He HADN’T stopped Christmas from coming. IT CAME! Somehow or other, it came just the same!“ – Der Grinch konnte alle Geschenke und alles Weihnachtliche aus den Häusern stehlen und damit alle Traditionen zerbrechen. Doch er musste feststellen: Er konnte Weihnachten damit nicht aufhalten „IT CAME!“. Und weihnachtlicher Jubel ertönte: „Every Who down in Whoville, the tall and the small, / Was singing without any presents at all.“
Weihnachten kommt. Den ganzen Advent hindurch bereiten sich Christenmenschen darauf vor. Die Wochensprüche erinnern uns an das bevorstehende Wunder: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“ (Sach 9,9a). – „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“ (Lk 21,28b). – „Bereite dem HERRN den Weg; denn siehe, der HERR kommt gewaltig“ (Jes 40,3.10). – „Freut euch in dem HERRN allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!“ (Phil 4,4.5b).
Was soll ihn aufhalten?
Der Herr kommt. Christus kommt, um bei uns zu sein. Und was soll ihn aufhalten? Viel zu oft kommt es vor, dass ich einen Gast mit Besen in der Hand begrüße und zerknirscht gestehen muss, dass der Kuchen noch im Ofen ist. Meine Vorbereitungen auf den erwarteten und ersehnten Besuch sind, nun ja, weit davon entfernt, beendet oder gar perfekt zu sein. Es ist eigentlich nicht die Art und Weise, wie ich meinen Gast begrüßen will, aber das ändert nichts an seinem Kommen.
Was soll ihn aufhalten? Nicht die prekäre Situation der Eltern, nicht die in jeder Hinsicht unangemessene Unterkunft im Stall. Genauso wenig ändert die Art und Weise, wie wir Jesu Ankunft vorbereiten, wie wir sie feiern, etwas an der schlichten Tatsache, dass er kommt. Wenn wir in diesem Jahr wegen der Pandemie auf wertvolle und liebgewonnene Traditionen verzichten müssen, so verändert dies seinen Empfang, unsere Weihnachtsfeier. Ja, manchmal wird diese vielleicht sogar nicht mehr zu retten sein. Gottesdienste werden vielerorts abgesagt, weil es vernünftig ist. Und der Verzicht auf die Teilnahme am Gottesdienst in einer festlich geschmückten Kirche inmitten der feiernden Gemeinde ist ein trauriger Riss in der traditionellen Feier.
Die Feier können wir inszenieren, planen und gestalten – Weihnachten nicht.
Doch Weihnachten ist nicht die Weihnachtsfeier! Die Feier können wir inszenieren, planen und gestalten, und im Notfall können wir sie auch traurig absagen. Aber Weihnachten können wir nicht inszenieren, es ist außerhalb unserer Reichweite. Weihnachten wird nicht gemacht. Weihnachten ist und Weihnachten kommt.Den Hirten wurde es verkündet und wir haben es gehört. Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids (Lk 2,10b.11).
Die Feiertage sind Gelegenheiten, aus dem gewohnten Alltag auszubrechen. Allerdings muss man wohl eingestehen, dass wir dabei häufig lediglich eine Routine durch eine andere, seltenere ersetzen. Können wir diese in diesem Jahr leider nicht ausleben, so wäre es doch schön, wenn wir das nicht als einen Grund ansehen, die Feier ganz zu streichen, sondern sie stattdessen neu zu entdecken – jenseits der feierlichen Routine: wenn wir neu über Weihnachten nachdenken, es auf neue Weise betrachten und gerade in der Reduktion neu erleben. Denn auch wenn wir es dieses Jahr vielleicht nicht im gemeinsamen Gottesdienst in der Kirche inmitten der Gemeinde feiern können, so ist Weihnachten doch da! Und der Grinch hat recht, wenn er bemerkt: „Maybe Christmas … perhaps … means a little bit more!“
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Christine Fiedler ist Studentin der Ev. Theologie an der Universität Leipzig.
Dr. Alexander Deeg ist dort seit 2011 Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik und Liturgik.
Der Text entstand im Nachgang zu einer Diskussion über eine mögliche Absage der Weihnachtsgottesdienste in der Vorlesung „Gottesdienst 2020“.
Bild: Roverhate / pixabay.com
[1] Dr. Seuss, How the Grinch stole Christmas (1957); dt.: Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat, übs. v. Eike Schönfeldt, München/Zürich 2002.
[2]Empfehlungen zu den Gottesdiensten am Weihnachtsfest 2020 der EKvW, https://www.evangelisch-in-westfalen.de/.
[3] Ebd.
[4] Nach den EKD-Zahlen nahmen an annähernd 37.000 Gottesdiensten am Heiligabend 2019 gut 8 Millionen Menschen teil (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Gezaehlt_zahlen_und_fakten_2020.pdf, 14).